Читать книгу Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDer Dunkle
Es war ein 21. Dezember. Die Dunkelheit lag über dem Wald wie ein samtener Vorhang. Lautlos fielen Schneeflocken aus dem schwarzen Nachthimmel. Ein Schwarm Krähen saß in den Zweigen einer alten Kiefer. Ihre aufgeplusterten Gefieder schützten sie vor dem eisigen Hauch der Nacht. Die schwarzen Vögel drängten sich schweigend aneinander. Seit Jahrzehnten verbrachten sie die düsteren Zeiten zwischen den Tagen im schützenden Geäst der Kiefer. Doch heute Nacht war etwas anders. Ihre dunklen Augen beobachteten unruhig den Boden am Fuß des Baumes. Die Krähen waren ängstlich. Die Jäger der Finsternis gingen lautlos ihren Geschäften nach. Eine Eule schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Nacht und verschwand. Ein alter Mann schlich mit bedächtigen Schritten am Ufer des Baches entlang. Obwohl barfuß, schien die Kälte ihn nicht zu stören. Jede seiner Bewegungen war so lautlos wie die weiche Landung der Schneeflocken auf dem vom modrigen Laub bedeckten Waldboden. Nur das leise Fließen des Baches störte die Stille. Langsam bildete sich ein dichter Teppich aus Schnee, verbarg die Spuren des vergangenen Sommers unter seiner hellen Pracht. Der Alte hielt inne. Er strich sich das graue Haar aus der Stirn und richtete seinen Blick hinauf zu den ziehenden Wolken, den Nadelstichen der Sterne im dunklen Dach der Welt. Seine blauen Augen erstrahlten im Glanz des Mondlichts.
„Seltsam“, murmelte er. „Es sind nicht genug Wolken am Himmel für so viel Schnee.“
In der Ferne vernahm er ein Rauschen. Es klang zart und zaghaft wie das Rauschen der belaubten Buchen, welches er aus sorgloseren Zeiten kannte. Damals, als der Wald noch die Welt bedeutete. Ein kalter Wind kam auf. Die Kronen der Bäume schaukelten träge. Die Krähen saßen starr auf ihren Ästen, wogten schweigend mit dem Wind. Wo eben noch das leise Plätschern von Wasser zu vernehmen war, welches sich den Weg durch sein schmales Bett bahnte, kehrte gespenstische Stille ein. Der Bach floss nicht mehr. Im Westen, wo eine kleine Anhöhe den Blick über das Land versperrte, bewegte sich etwas, versteckt zwischen dem dichten Gestrüpp der Haselsträucher. Der Alte duckte sich und starrte zwischen den knorrigen Stämmen der Bäume die Anhöhe hinauf. Der Wind heulte im Geäst. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Ihr Schatten verdunkelte die Nacht endgültig. Jedoch hinter der Kuppe der Erhebung war ein blasses Leuchten zu erahnen. Eigenartig. Dort liegt doch der See. Wer sollte dort jetzt ein Feuer entzünden?
Eine Krähe durchbrach die Stille mit einem Schrei. Über den Hang tasteten sich leuchtende Nebelschwaden wie dünne Finger. Sie schwebten hinab. Schon umgarnten sie die Sträucher am Fuß des Hangs. Seltsam, dachte der Alte, der Wind kommt von Osten, der Nebel jedoch kriecht von Westen heran. Ein dichter Wall aus Nebel, dick und undurchsichtig, sammelte sich an der höchsten Stelle. Erst noch flach, türmte er sich rasch auf und floss den Hang hinab wie Honig. Seine ersten Ausläufer erreichten den Alten. Sie streichelten sanft über seine Füße, schlichen zwischen seine Beine, umwoben seinen Körper. Der tanzende Nebel verströmte ein zauberhaftes Licht. Es schmeichelte ihm. Die Welt versank. Der Alte hatte vieles gesehen in seinem langen Leben. Er sah manches Wunder, manchen Irrsinn und die eine oder andere Unglaublichkeit. Er kannte gute Zeiten und elendig schlechte. Weit war er gewandert, seit die Welt sich gewandelt hatte. Doch dergleichen sah er seit Jahrzehnten nicht. Wie ein Traum kam es ihm vor. Ein weißer Traum aus Mondlicht und Eis.
„Ja, das Mondlicht“, flüsterte er. „Es steigt zu mir hinab. Es besucht mich wieder nach all den Jahren. Es vergibt mir.“ Er lächelte schlaftrunken. „Mein Name ist Tweed und dies ist mein Wald“, murmelte er und beantwortete die ungestellte Frage. Seine Augen waren matt, sein Körper starr. Er nickte, wie in ein Gespräch vertieft. Eine wundervolle Schwerelosigkeit hielt ihn in ihrem Bann. Nie sollte sie vergehen. Doch dann regten sich seine Instinkte. Was geschah hier nur? Er blinzelte die Müdigkeit aus den Augen. Sein Körper straffte sich, und zur vollen Größe aufgerichtet rief er: „Ich bin Tweed und dies ist mein Wald!“ Die Worte verhallten. Langsam verblasste das schleierhafte Gefühl. Sein Bewusstsein dämmerte.
Die Nebelfinger zogen sich zurück und vergingen. Auf dem Waldboden hatte sich ein strahlender See aus Nebel gebildet. Tweed hielt die Nase in den Wind wie ein Hund.
Fremde Gerüche. Was geht hier nur vor?
Unmittelbar vor ihm brach ein Ast. Die Krähen erhoben sich krächzend von ihrem Lager in der Baumkrone. Tweed schaute ihnen nach. „Feiglinge!“
Zu seiner Linken ein Rascheln. Eine Eiche stand dort, leicht erhöht zu den anderen Bäumen des Waldes. In ihrer Krone, zwischen den wenigen welken Blättern, die sich den Herbstwinden widersetzt hatten, bogen sich die Äste. Kein Mann erlebt so viele Winter, wenn die Vorsicht nicht sein ständiger Begleiter ist. Tweed war stets auf alles gefasst, hielt Augen und Ohren offen. Aber Nebel, und war er noch so eigenartig, machte ihm keine Angst. Seine zauberhafte Trance schien ihm nicht in Erinnerung geblieben. Die Krone der alten Eiche zitterte, als würde sich eine ungeschickte Taube darin herumdrücken, und der frische Schnee rieselte hinab. Tweed war es, als höre er Musik. Aus weiter Ferne schien der Wind sie heranzutragen. Er vernahm Stimmen, die Worte jedoch verstand er nicht. Die Zweige bewegten sich nicht vom Wind, oder weil jemand den Baum schüttelte. Aus eigener Kraft. Wie tastende Arme, die Halt suchten, wogten sie hin und her, als wollten sie nach dem Mond greifen. Es erschien Tweed wie ein Tanz, so anmutig war die Bewegung. Langsam, aber bald schon deutlich, konnte er erkennen, dass hier kein unkontrollierter Wirrwarr herrschte. Das hier war kein zufälliges Geschehen, keine Laune einer seltsamen Nacht. Hier war ein lenkender Wille am Werk. Die Zweige verwoben sich miteinander. Unsichtbare Hände schienen einen Kranz zu flechten.
Ein Gesicht. Ein nahezu menschliches Gesicht. Dort sind bereits Mund und Nase zu erahnen.
Aus den Tiefen der Krone schoben sich zwei Eicheln gerade dahin, wo Tweed die Augen erwartete. Darüber nahmen Äste die Position von Augenbrauen ein. Und wie aus einem langen Schlaf erwacht, begannen die Eichenaugen zu strahlen. Es waren freundliche Augen. Der Mund wollte sich öffnen. Erst verweigerten sich die hölzernen Lippen, wollten aneinander kleben wie die Fliege im Netz der Spinne. Tweed konnte die Anstrengung nahezu spüren. Er schmunzelte. So seltsam die Geschehnisse in dieser Nacht waren, er spürte, hier waren die guten Kräfte am Werk. Unbewusst presste auch er seine Lippen aufeinander. Mit einem Plopp öffnete sich der Mund des Holzgesichts. Und dann ertönte eine Stimme, so tief, dass Tweed sie bis in die Magengrube spüren konnte.
„Ahhh.“ Der Baum lächelte. „Ahhh ist das guuut.“ Er schürzte die Lippen, als müsse er sich erst daran gewöhnen, wieder einen Mund zu haben.
Tweed lachte über die Grimassen des Baumes. Doch als die Eichenaugen auf ihn hinab blickten, senkte er den Blick.
„Zu dir später. Jetzt ist es Zeit. Die Zeit! Laaang habt ihr gewartet, laaang habt ihr geruht, meine Kinder.“ Der Baum ließ seinen Blick über den nebligen Boden wandern. An einer Stelle, die für Tweed wie jede andere aussah, verharrte er. „Jaaa, hier. Hier war es. Aufgepasst. Die Zeit drängt!“ Der Baum schloss die Augen und begann einen murmelnden Gesang. Es war dieselbe Melodie, die der Wind herangetragen hatte. Selbst Tweeds feines Gehör reichte zunächst nicht aus, um die Worte zu verstehen. Ein Chor, eine Art Kanon, gesungen vom Wind und dem Baum, entstand.
„Ich bin das Land.“
Waren das die Worte?
„Wieder und wieder.“
Ja, kein Zweifel: „Ich bin das Land, wieder und wieder. Ich bin das Land, wieder und wieder.“
Und mit jeder Wiederholung wurde der Gesang eindringlicher. Der Baum schien sich zu konzentrieren, seine Kräfte zu bündeln. Ein elektrisierendes Flirren fuhr durch den Boden. Es kitzelte Tweed an den Füßen. Die nackten Äste, welche das Gesicht formten, sprossen. Knospen wuchsen, aus denen sich zarte Blätter entfalteten. Das Laub füllte rasch die kahlen Stellen des Gesichts und umrahmte es wie einen Adventskranz. Als würde ein ganzer Frühling in diesem kurzen Moment vollendet. Doch nur an dieser Stelle schien der Winter vorbei, der übrige Wald war von dem Zauber nicht ergriffen. Der Gesang endete abrupt, und auch der Wind schwieg. Mit fester Stimme sprach der Baum:
„Die Sonne weicht, das Dunkel heilt, zu lang im Erdenschoß verweilt. Errette dich, erwecke dich, doch nicht ohne des Mondes Licht. Der Finstere, die dunkle Plage, entsteige deinem erdig’ Grabe. Erwaaache mein Kind!“
Die Worte hallten nach zwischen den Bäumen.
„Erwache“, flüsterte es aus dem welken Laub.
„Erwache“, raunte das morsche Holz.
Tweed suchte die Quellen der Stimmen. Waren das nur Echos? Der Nebel bewegte sich in einer leichten Brise. Der Boden zitterte.
„Erwaaacht meine Kinder.“
Das Zittern wurde stärker. Aus den Kiefern rieselten Nadeln. Ein Zapfen traf Tweeds Kopf.
„Erwaaacht.“
Unter dem Nebel brach der Boden auf. Erst schmal zog sich der Riss schnell lang und breit durch die frostige Erde. Ein dumpfes Klopfen setzte ein. Es schien tief aus dem Erdreich zu kommen. Bamm, Bamm, Bamm! Als schlüge jemand mit einem schweren Hammer zu. Bamm, Bamm, Bamm! Drei Schläge. Dann Stille. Und wieder drei Schläge. Tweed sah, dass wie bei einem Maulwurfshügel feuchtes Erdreich an die Oberfläche quoll. Bamm, Bamm, Bamm!
Da unten war jemand! Tweed schluckte. Der Hügel wuchs.
„Erwaaacht.“
Bamm, Bamm, Bamm! Der Hügel vibrierte. Ein Grollen erfüllte die Luft. Es wurde lauter, schwoll an. Der Boden bebte. Bamm, Bamm, Bamm!
„Jetzt, jetzt, jeeetzt!“
Starker Wind kam auf. Er bog die Bäume, verwirbelte den Schnee. Die Böen peitschten Tweed, trieben ihn vor sich her. Dann rollte ein Donner durch den Wald, wie es keinen zuvor gegeben hatte. Und mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst der Hügel. Die Wucht der Explosion warf Tweed in die Büsche. Die Eiche ließ ein donnerndes Lachen erschallen.
„Jaaa! Es ist so weit!“
Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, endete es. Tweed rappelte sich auf. Gespannt hielt er den Atem an. Nur ein dampfender Krater war zurückgeblieben. Die Eiche schien sehr zufrieden damit.
„Es ist fast geschafft. Und nun – steh auf!“
Der Wald schwieg voller Ehrfurcht. In der Tiefe der Grube war eine Bewegung zu erahnen. Nur ein Schatten in der Finsternis. Und dann streckte sich eine schwarze Pfote, dunkler als das Dunkel selbst, durch den wallenden Nebel hinauf in die Nacht. Und ein Arm, dünn und lang, und mit dem Schwärzesten aller Felle besetzt.
„Steh auf, mein Kind. Es ist Zeit.“
„Meister?“, knarzte die Stimme aus dem Inneren des Kraters. „Na endlich. Mir ist saukalt!“