Читать книгу Der Sommer der Vergessenen - René Grandjean - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеDie Sonne schien heiß. Der gelbe Renault R4 holperte die Straße entlang. Rolo saß auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Seitenfenster. Er hatte schlecht geschlafen und war mies gelaunt. Auf der Rückbank des Wagens lagen sein Rucksack, der alte lederne Koffer seines Vaters und ein großer Transportkorb mit einer angriffslustigen Katze. Sein Vater saß am Steuer. Sie waren am Morgen nach dem Erhalt des Briefes von Tante Farrah in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, und so war keine Zeit geblieben, jemand für die Versorgung des Katers zu finden. Außerdem waren alle Freunde selbst verreist. Den Gedanken, die Nachbarin Frau Dr. Schimpfkäse zu bitten, hatten sie schnell wieder verworfen. Der Kontakt war nicht der Beste. Den Abend vor der Abreise hatte Rolo genutzt, um in Ruhe alles zu packen, was sich unterwegs als nützlich erweisen konnte. Natürlich gehörte dazu Kleidung für jedes mögliche Wetter – außer für Schnee und Eis, es war ja Sommer. Ein großer Straßenatlas mit Karten des ganzen Landes, ein Kompass, ein Jagdmesser, welches er aus seiner kurzen Zeit bei den Pfadfindern behalten hatte, ein Naturführer, ein Erste-Hilfe-Set, Angelschnur, Kerzen und Streichhölzer, eine Taschenlampe und ein Haufen alter Comics. Man wusste ja nie.
Rolo hatte in jener Nacht lange auf seiner Fensterbank gesessen und nachdenklich in den klaren Nachthimmel geschaut. Er freute sich auf die Reise. Aber der Brief hatte ihn in einer Weise berührt, wie er es selbst nicht für möglich gehalten hatte. Bisher war er doch sehr entspannt durchs Leben marschiert. Alles war gut, wie es war. Zumindest okay. Doch an diesem Abend kreisten alle Gedanken um seine Mutter. Wie es wohl wäre, wenn sie da wäre. Für ihn da. Mit aller Kraft schob er den Gedanken beiseite, in einen abgelegenen Winkel seines Kopfes. Mit seinem Vater hatte er an jenem Abend kaum noch gesprochen. Auch er wirkte bedrückt und war noch verwirrter als sonst. Deshalb hatte Rolo kurz vor der Abfahrt auch noch heimlich seinen Koffer kontrolliert. Er wollte sichergehen, dass auch wirklich Kleidung darin war. Dort hatte er das Buch wiedergefunden, mit der Zeichnung der Frau am See. Lange hatte er das Bild betrachtet, aber keine der Kreaturen schaute in seine Richtung. Er hatte sich wohl geirrt.
Die Blutguts hatten ihre Reise begonnen, als der Frühnebel noch über den Wiesen lag. Sie erwarteten einen weiteren heißen Sommertag und wollten einen Großteil des Weges bewältigen, bevor die Sonne das Auto in einen rollenden Backofen verwandelte. Es war nicht leicht gewesen, den Kater davon zu überzeugen, den Platz im kühlen Haus gegen den engen Transportkorb zu tauschen. Die Kratzer an Rolos Armen waren der Beweis für Igels mangelnde Begeisterung.
Das Haus hatte traurig ausgesehen mit den geschlossenen Fensterläden in den ersten Stunden eines neuen Tages.
Zunächst waren sie durch vertraute Gegenden gefahren, passierten vertraute Orte. Um Rabenstadt war die Gegend flach und weit. Kaum eine Erhebung trübte den Blick auf den weiten blauen Himmel, der von Schönwetterwolken durchzogen war. Die meisten freien Flächen in der näheren Umgebung waren Felder, Äcker und Weideland mit alten hölzernen Zaunpfählen und verwucherten Grünstreifen. Zwar gab es auch zahlreiche kleine Wälder und den einen oder anderen wilden Fleck, der nicht von Menschenhand gezähmt schien, doch alles in allem wirkte das Land kultiviert und geordnet. Die Wanderwege waren befestigt, die Radwege asphaltiert und ausgeschildert. In Scharen von den Bewohnern von Rabenstadt genutzt, herrschte hier bei gutem Wetter ein geschäftiges Treiben wie in der Stadt. Das war ein schöner Platz, kein Zweifel, aber ein Platz für Abenteuer war das nicht. Kilometer für Kilometer arbeitete sich der alte Wagen tapfer die Straßen entlang in Richtung Ferne. Paps hatte den Sitz so weit nach vorne gerückt, dass seine Stirn beinahe die Windschutzscheibe berührte. Kerzengerade saß er am Steuer und fixierte hoch konzentriert die Straße.
Rolo hing entspannt daneben, die Rückenlehne so weit zurück gestellt, dass er mit dem linken Arm die reisemüde Katze erreichen konnte. Doch auch seine stetigen Versuche, das Tier bei Laune zu halten, konnten nicht die Strapazen eines heißen Reisetages verscheuchen. Sie sprachen nicht viel miteinander und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Um große Umwege zu vermeiden, übernahm Rolo schließlich die Navigation.
Lange musste er die Landkarten studieren, bis er das kleine Neunseen entdeckte. Wo Rabenstadt schon ein recht übersichtlicher Ort war, war Neunseen ein echtes Nest. So winzig war der Fleck auf der Karte, der das Dorf kennzeichnete, es hätte Fliegendreck sein können. Neunseen lag inmitten von vielen blauen Flecken und grünen Flächen, die Seen und Flüsse in großen Wäldern symbolisierten. Umgeben von einem Gebirge trug das Ganze den Namen Nachtschattental. In Rolo erwachte der Entdecker.
„Wieso hab ich noch nie davon gehört oder gelesen? Ist doch nur eine Tagesreise entfernt?“
„Was sagst du?“, fragte sein Vater.
„Ach, schon gut.“ Rolo hatte einfach keine Lust zu reden.
So wurde es Mittag. Als sie beinahe die halbe Strecke bewältigt hatten, bekam Rolo den ersten Vorgeschmack der Fremde. Die Landschaft jenseits der Straße veränderte sich. Kleine Hügel tauchten am Horizont auf. Nicht hoch waren sie, nur zarte Erhebungen in einer Landschaft, die ihr buntes Sommergewand aus Gräsern und erntereifem Getreide trug. Bald sahen sie Wälder, in denen die Bäume, anders als zuhause, nicht in ordentlich gepflanzten Reihen wuchsen. Dicht und verwuchert standen sie und erschienen Rolo sehr geheimnisvoll. Der wilde Charme lockte ihn, und lange blickte er über die Schulter zurück, als sie längst vorbeigefahren waren.
Er konnte sich nicht daran erinnern, seine Tante Farrah schon mal gesehen zu haben. Auch in den Erzählungen seines Vaters kam sie nie vor. Er war sehr gespannt, jemanden zu treffen, der seine Mutter gekannt hatte.
Aus grünen Hügeln wurden bewaldete Berge. Sie warfen lange Schatten über tiefe Täler. Kleine Ortschaften lagen dort, durch die sich Flüsse schlängelten. Sie fuhren über eine Brücke, und zu beiden Seiten ging es Hunderte von Metern in die Tiefe. Unten floss ein reißender Strom zwischen den Brückenpfeilern hindurch. Rolo war begeistert. Die Fahrt dauerte jetzt schon viele Stunden. Sie verließen unter Rolos Kommando die Hauptstraße und bogen auf eine schmale Serpentine. Hier sahen sie das erste Schild mit der Aufschrift Neunseen. Wo der Weg bisher sachte anstieg, fuhren sie jetzt mitten durch das Gebirge. Zu ihrer Linken erhob sich eine steile Felswand. Grüne zottelige Pflanzen hingen an ihr hinab wie Bärte. Zu ihrer Rechten ging es steil abwärts in eine Schlucht. Rolo schaute aus seinem Seitenfenster, konnte aber die Tiefe nicht abschätzen.
„Bitte kein Gegenverkehr. Alles, nur kein Gegenverkehr“, murmelte Paps nervös. „Diesen Weg habe ich nie gemocht.“
Er musste schreien, um das Geräusch des Motors zu übertönen. „Schon damals war es die einzige Straße zu Tante Farrah. Aber dass hier immer noch nicht ausgebaut wurde?“
„Wahrscheinlich wegen des Gebirges“, rief Rolo. „Hier ist einfach kein Platz. Ich find’s super. Was ist denn im Winter, wenn der Pass zuschneit?“
„Es ist keine Seltenheit, dass Neunseen monatelang von der Außenwelt abgeschnitten ist. Aus diesem Grund haben wir Tante Farrah auch nie zu Weihnachten besucht. Wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass wir vor Ostern nicht wieder zuhause gewesen wären. Viele der Bewohner von Neunseen scheinen gerade das sehr zu mögen. Ist ein ganz eigenes Völkchen. Wirst schon sehen.“
Die Felswand zur Linken war so steil, dass der höchste Punkt aus dem fahrenden Wagen nicht zu sehen war. Selbst dann nicht, als Rolo sich so weit aus dem Seitenfenster lehnte, bis sein Vater ihn am Hosenbund zurück ins Auto zog. Nach und nach wölbte sich die Felswand zur Straße hin, und schon bald fuhren sie unter einem Felsvorsprung, wie unter einem steinernen Dach.
Paps drosselte das Tempo und schaltete die Scheinwerfer ein. Der Motor knatterte gleichmäßig. Es war neblig hier drin. Doch machte der Nebel keine Anstalten, hinaus auf die Wiese zu gelangen.
„Bestimmt wegen des Luftdruckes“, versuchte Paps zu erklären.
Rolo schaute durch das Dachfenster des Wagens und betrachtete die steinerne Decke über sich. Aus kleinen Rissen tropfte Wasser hinab. Das Plätschern hallte nach. Flechten und Moose wuchsen hier, gut geschützt vor der Sonnenhitze. Hier unten war immer Zwielicht.
„Stopp!“, schrie Rolo.
Sein Vater trat kräftig auf die Bremse. Der Wagen tat einen Ruck und der Motor verstummte. Die Gestalt stand in der Mitte der Straße. Tief ins Gesicht einen breitkrempigen Hut gezogen, unter dem ein weißer Bart hervorkam. Ein langer grauer Mantel, derbe schwarze Stiefel. Der Mann hielt mit ausgestreckten Armen einen hölzernen Wanderstock vor der Brust. Sein Kopf war gesenkt.
Paps seufzte. „Willkommen in Neunseen, der Heimat der Bekloppten.“ Er klang gereizt. „Ich sagte ja, sie sind sehr eigen hier!“ Mit diesen Worten öffnete er die Autotür und stieg aus. Er war zwar ein Bücherwurm, aber kein Feigling. „Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz dicht?“
Rolo beobachtete, wie sein Vater mit energischen Schritten auf die graue Gestalt zuging. Diese überragte ihn in Größe und Statur um ein gutes Stück.
„Ich hätte Sie fast nicht gesehen! Soll ich den Wagen zurücksetzen und Sie mit Schmackes überfahren? Wollen Sie das?“
Keine Reaktion. Das spornte seinen Vater nur noch mehr an. „Hallo? Hören Sie? Sind Sie wach? Herrje, schon wieder so ein entlaufender Irrer.“
Rolo setzte sich auf, um besser sehen zu können. Warum sagte der Graue nichts? Er rührte sich nicht einmal.
„Ich hab eine Idee. Wissen Sie was? Stecken Sie sich doch rohe Steaks in die Hose und springen in ein Haifischbecken. Na?“ Paps gestikulierte wild mit den Armen. Reisen waren nichts für ihn. Und dann noch so was. Er drehte durch. „Oder Sie hängen sich neun Tage kopfüber an einen Baum? Wäre das was?“
„Das hab ich schon getan“, erwiderte der Graue und hob sein Haupt.
Rolos Vater tat einen Schritt zurück. Der Alte hatte eine kaum vorstellbar dicke Knollennase, die einen Großteil des runzeligen Gesichts füllte. Der Bart reichte ihm bis auf die Brust. Dazu trug er eine Augenklappe. Sein Auge war strahlend blau.
Rolo fluchte, stieg zögerlich aus und näherte sich. Sein Vater stand starr wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Derartige Konflikte waren nichts für ihn. Der Graue war mehr als zwei Meter groß, und sein Stab war noch länger. Und dieser lauernde Blick. Es ging etwas Bedrohliches von ihm aus. Wasser tropfte von der Decke und verschwand im Nebel zu ihren Füßen. Sonst rührte sich nichts.
„Du!“, sagte der Graue plötzlich und stupste Paps mit der Spitze seines Stockes an. Rolo hatte die Bewegung überhaupt nicht gesehen, so schnell war sie gewesen. „Du bist ein lustiger Kerl“, entschied der Graue. „Verrate mir deinen Namen.“
Rolo wunderte sich. Es war die Stimme eines jungen Mannes, kräftig und ungebrochen. Und der Ton war nicht unfreundlich. Sein Vater schielte überrascht auf den Stock, der seine Brust berührte.
„Blutgut, Grellon Blutgut“, sagte er steif. „Und das hier ist mein Sohn Roland“.
Rolo sah, dass der Knauf des Stocks ein fein geschnitzter Krähenkopf war. Das gefiel ihm. Er erwiderte den Blick des Grauen und nickte wortlos zum Gruß, wobei er versuchte, möglichst verschlagen auszusehen.
„Man nennt mich Solomon“, sagte der Graue und stützte den Stock wieder vor sich auf die Erde. „Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich euch erschreckt habe. Wollte nur nach dem Rechten sehen, damit hier niemand im Nebel vor ein Auto läuft. Versteht ihr?“ Er schnitt eine Grimasse und lachte schallend.
Zunächst war Rolo etwas besorgt, ob dieser Mann noch ganz richtig im Kopf war, und er warf seinem Vater einen besorgten Blick zu. Aber das Lachen war so herzlich, das es bald ansteckend wirkte. So löste sich auch die gespannte Atmosphäre. Das Lachen verebbte zu einem Glucksen.
Solomon rieb sich eine Träne aus dem Auge. „Ihr seid so lustig“, schnaubte er. „Nicht zu glauben. Wisst ihr, ich bin der Schäfer hier im Tal. Mein Name ist … ach, hab ich ja schon gesagt. Ich vermisse ein Lamm. Hat sich wohl im Nebel verlaufen, das arme Ding. Ich glaube, ein Fuchs hat es erschreckt. Darf gar nicht dran denken. Das arme Ding.“ Er blickte zu Boden und ließ die breiten Schultern hängen. „Papperlapapp! Was führt euch ins wundervolle Nachtschattental?“
Paps ergriff das Wort. „Familienangelegenheiten. Eine Verwandte lebt hier. Vielleicht kennen Sie sie? Kinsella Farrah?“
„Na lüg ich denn? Natürlich kenne ich sie. Jeder im Tal kennt sie. Und ihren Gefährten, Belenus Brock. Ein guter Mann, der olle Belenus. Und du, mein junger Freund, dein Vater hat dich bestimmt gezwungen, deine langweilige Verwandtschaft in der Einöde zu besuchen?“ Er lächelte.
„Eigentlich nicht. Ich bin gerne draußen“, antwortete Rolo ernst. Er fühlte sich ein bisschen beleidigt.
„Ja, mein Sohn ist ein richtiger Waldläufer“, ergänzte Paps.
„Ist das so? Na, da haben wir ja ein seltenes Exemplar. Freut mich, freut mich wirklich.“
„Sagen Sie, Solomon“, fragte Paps, „ist es noch weit bis ins Tal? Wissen Sie, dieser neblige Tunnel hier ist schwer zu fahren.“
„Nein, weiß ich nicht. Weit? Nein, nicht mehr weit.“
„Sie haben einen schönen Stock da. Besonders der geschnitzte Krähenkopf ist toll“, warf Rolo ein.
„Findest du?“ Solomon betrachtete seinen Stock, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Ja, fürwahr. Der ist wirklich schön.“
Rolo glaubte, so etwas wie Überraschung in Solomons Gesicht zu erkennen. Der graue Mann beugte sich hinunter und kam mit seiner Kartoffelnase ganz nah an Rolos Gesicht.
„Tatsächlich? Ist das so? Du bist ein aufmerksamer Kerl. Ein guter Beobachter, fürwahr, das bist du. Das liegt an deinen wissenden Augen. Glaub mir, dafür hab ich ein Auge.“ Solomon gluckste. „Ha, ein Auge. Na, egal. Ich glaube, mein Junge, du trägst eine alte Seele. Ja, das wird es sein. Aber keine Sorge, das ist gut. Wirklich gut, vor allem für dich.“
Eine alte Seele. Rolo verstand nicht, was Solomon meinte. Aber er fand, es klang gut. Noch etwas war seltsam. Gerade eben wirkte Solomon noch so gewaltig. Jetzt erschien er Rolo kaum größer als sein Vater.
„Nun, denn“, sagte Paps, „ich hoffe, dass Sie Ihr Lamm finden.“
„Lamm? Oh, ja, mein Lamm. Na, ich nun wieder. Stehe hier rum und träume wie eine alte Esche. Nun, wenn ihr es nicht gesehen habt, muss es noch im Tal sein. Gibt ja nur den Weg hier. Hoffe, das arme Ding hat sich nicht in die Berge geschlagen. Nicht dran zu denken. Und dann noch der Fuchs.“
„Sagen Sie, Herr Solomon“, meldete sich Rolo, „wer hütet denn Ihre Herde, wenn Sie hier sind?“ Rolo fand, das war eine gute Frage. Er kam sich sehr schlau vor.
„Herde?“, stutzte Solomon. „Ach, die Herde. Nun ja, die hütet sich selbst. Ungemein unterschätzte Tiere, diese Schafe. Wirklich.“ Plötzlich erstarrte er. „Hört ihr das?“ Er blickte über die Wiese zum Waldrand.
Auch Rolo schaute, sah aber nichts außer Wildblumen. Er hörte auch nichts Ungewöhnliches.
Solomon ließ seinen Blick schweifen. „Driftwood“, flüsterte er. „So hat es schon begonnen. Auf bald ihr Blutguts, es hat mich gefreut. Wirklich gefreut hat es mich.“ Sprach es und stapfte, ohne sie anzusehen, ins hohe Gras hinaus, wobei er eine Spur von Nebel hinter sich her zog. Mit eiligen Schritten verschwand er zwischen den Bäumen.
„Driftwood?“, wunderte sich Paps. „Seltsamer Name für ein Lamm.“ Er schüttelte den Kopf. „Was für ein Irrer“.
Rolo schaute Solomon hinterher. „Irre.“
Der Nebel in der halben Höhle war nicht mehr so dicht und sie kamen gut voran. Rolo schaute sich jetzt noch aufmerksamer um. Wo die Bäume nicht so hoch gewachsen waren, konnte er einen Blick auf die Berge am Horizont werfen. Er lächelte, lehnte sich zurück und freute sich auf den Sommer. Endlich wurde es heller. Die halbe Höhle war zu Ende. Paps stoppte den Wagen. Die beiden Blutguts ließen sich mit einem Seufzer in ihre Sitze fallen.
„Abgefahren“, meinte Rolo.
„Nein, jetzt nicht“, erwiderte sein Vater, „erstmal die Beine vertreten.“
Rolo lachte. Sie stiegen aus. Es raschelte in den Büschen, wo sich anscheinend einige Bewohner des Waldes erschrocken davon machten. Rolo blickte zurück zum Ende ihrer Passage unter dem Fels. Erst jetzt erahnte er, unter welch einem gewaltigen Bergmassiv sie unterwegs gewesen waren. Das war kein einzelner Hügel oder Berg. Es war eine in sich geschlossene Gebirgskette. Wie gewaltig mussten die Bäume dort oben sein, dass sie so tiefe Wurzeln schlugen, die bis hinab zur Straße reichten? Sein Vater trat von hinten an ihn heran. „Beeindruckend, oder?“
Rolo nickte.
„Neunseen liegt in einem Gebirgskessel. Das Nachtschattental geht einmal drum herum wie ein Atoll. Unterbrochen wird das Gebirge nur hier, wo die Straße läuft. Und durch die Wiesen mit dem angrenzenden Wald. Allerdings ist dieser Weg kaum begehbar. Mündet dahinten in eine tiefe Schlucht. Und jenseits der Bäume geht der Fels weiter.“
„Wie geil ist das denn!“, staunte Rolo.
Sein Vater überging die Bemerkung und fuhr fort. „Fast überall ist er so geil, äh, steil wie hier. Es gibt jedoch einige Stellen, wo das Gebirge sanfter ansteigt, sodass man hineingelangen kann, ohne eine Bergsteigerausrüstung. Oben ist es überwiegend bewaldet. Großartiger Blick bei klarem Wetter. Ich selbst war einmal oben, habe aber auch das Wenige darüber gelesen, das es gibt. Die drei großen Erhebungen des Nachtschattentals kannst du sehen, wenn du zwischen den Bäumen hindurchschaust.“ Paps deutete mit den Armen irgendwo ins Grün. „Ich glaube, sie liegen hier, da und dort. Ach, der Kater.“ Er lief zum Auto und hievte den Transportkorb von der Rückbank. „Das Ganze ist nahezu kreisrund. Von Nord nach Süd dauert es Tage, um es zu durchqueren. Von Ost nach West auch. Hier drinnen gibt es so viele Seen und Flüsse, die alle miteinander in Verbindung stehen, dass die Neunseener nahezu alle weiten Strecken mit Booten zurücklegen. Oder zu Fuß, wegen der dichten Wälder. Autos gibt es hier kaum.“
Er stellte den Transportkorb neben dem Wagen auf die Erde. Zu beiden Seiten der Straße wuchsen dichte Himbeerbüsche. Dahinter erhob sich der Wald. Weißbirken, Kiefern und Erlen. Sie standen nicht sehr dicht, und so konnte die Nachmittagssonne zwischen den lichten Baumkronen hindurchscheinen.
„Seltsam, ich höre gar keine Vögel“, bemerkte Paps, öffnete den Korb und trat beiseite. „So, der Herr. Pinkelpause.“
Igel machte keine Anstalten herauszukommen. Rolo ging in die Hocke.
„Na, was ist denn los, mein Junge? Beleidigt?“ Er versuchte, den Kater vorsichtig aus dem Korb zu schieben. Igel knurrte.
„Er will nicht“, rief Rolo seinem Vater zu, der am Straßenrand auf und ab lief und die Arme schwang.
„Dann lass ihn. Vielleicht sind hier Füchse in der Nähe.“
Nachdem der Kater wieder auf der Rückbank verstaut war, setzten sie ihren Weg fort. Die Straße war bald nur noch ein Feldweg, uneben und schmal. Der Wald wurde dichter. Rolo wollte unbedingt bald darin herumstreunen. Wie dunkel musste es erst in der Nacht sein.
„Das hier, mein Sohn, ist wahrscheinlich der letzte Urwald in unserem Land. Er bedeckt mehr als die Hälfte des ganzen Tals. Besonders zum Gebirge hin steht er dicht.“
Rolo hörte nicht zu. Er war mit den Gedanken bereits tief in den Wäldern. Flüsse verliefen parallel zur Straße oder kreuzten diese. Sie überquerten eine Brücke. Die Ufer waren steil und ausgewaschen, sodass die Wurzeln der Pflanzen offen lagen. Ein üppiger Bewuchs von Schilf beherrschte das Bild. Ein kleiner See in einer Waldlichtung ließ Rolo wieder an das Buch denken.
„Sag mal, Paps, was ist das eigentlich für ein Wälzer in deinem Koffer?“
„Was meinst du?“
„Na das Buch. Dieses riesige Ding, womit du seit Tagen durchs Haus marschierst.“
„Ach, das Buch. Das ist eine interessante Geschichte. Ich entdeckte es in den Archiven des Museums, als ich mich mit dem Ende der Kreuzzüge im Jahre 1291 beschäftigte. Das war nämlich so, das die Stadt Akkon in Galiläa als letzter Stützpunkt der Kreuzfahrer durch den ägyptischen Mamelucken-Sultan Chalil …“
„Paps, bitte, das Buch!“
„Ach ja, das Buch. Das ist eine interessante Geschichte. Ich entdeckte es zufällig in den Archiven des Museums. Ich stand gerade auf der Leiter, um etwas in einem höheren Regal zu suchen. Im hinteren Teil des Museums ist kein Publikumsverkehr. Wir lagern dort die wirklich wertvollen Bücher. Die meisten wären für den Laien auch nicht von Interesse. Sind überwiegend in lateinischer Sprache verfasst. Ich stand auf der Leiter im alten Lesesaal. Da fiel mir auf, dass ein Buch keine Katalognummer auf dem Rücken hatte.“
Rolo seufzte.
„Okay, mein Sohn, jetzt pass auf: Dieses Buch ist überhaupt nicht in den Katalogen des Museums zu finden. Ist das nicht spannend? Ich ließ eine Probe des Ledereinbandes im Labor analysieren, um ihm auf die Schliche zu kommen. Das Labor datierte es auf ca. 2000 Jahre vor Christus. Herrje, da war das Papier noch lange nicht erfunden. Natürlich könnten Einband und Papier erst später zusammengefügt worden sein. Aber wer macht denn so was? Und warum? Das ganze Buch ist mit einer schwarzen Tinte geschrieben. Sie ist seltsam verblasst und stinkt bei feuchtem Wetter. Laut Labor ist es eine nicht genauer zu definierende organische Verbindung. Ist das nicht rätselhaft? Erwartet hätte ich eigentlich ein Gemisch aus Ruß, Öl und Leim. Daraus waren nämlich die ersten Tinten, musst du wissen. Ich wollte schon die alten Museumskataloge wälzen, was wirklich eine Sisyphosarbeit geworden wäre, aber dieses Buch hat keinen Autor. Nein, das ist nicht ganz korrekt. Richtig wäre zu sagen, wir können den Autor nicht ermitteln. Das ganze Werk ist nämlich in einer Sprache verfasst, die wir nicht verstehen. Ich bin nahezu jedem Wort nachgegangen, das mir auch nur im Entferntesten bekannt vorkam. Nichts. Ich hielt es erst für einen seltenen Dialekt und kontaktierte alle mir bekannten Spezialisten auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen. Fehlanzeige. Einige hielten es für einen Witz, andere unterstellten mir sogar, ich hätte eine Fälschung erstellt, um mich wichtig zu machen. Pah! Ich lese seit Wochen darin, in der Hoffnung, eine heiße Spur zu finden. Hoffe nur, dass sich da niemand einen Scherz mit mir erlaubt.“
„Was ist denn mit den Zeichnungen? Helfen die nicht weiter?“
„Die sind mehr als rätselhaft. Wenn ich richtig liege, stellen sie Teile einer Geschichte dar. Immer wieder taucht diese Frau auf. Meistens ist sie in Begleitung dieser pelzigen Dinger. Ich vermute, es sind Kobolde oder so was. Auf manchen Bildern scheinen sie die Frau anzubeten, auf anderen sieht es fast wie eine Jagd aus. Die Kobolde schlagen Schlachten gegen Drachen und andere mythische Wesen. Verrückte Sache. Die Zeichnungen sind wirklich wundervoll. So viele Details. Hier ein Gesicht im Laub, da ein verstecktes Auge. Herrje, vielleicht ist das Ganze auch nur ein wirklich altes Märchenbuch.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, meinte Rolo.