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Kapitel 4

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Hinter jeder Biegung erschien es Rolo, als wäre das Grün des Waldes noch satter, die Luft noch klarer. Ein Orchester aus Vogelgesang erfüllte die Luft. Eine leichte Brise wehte. Die Katze schlief im Korb. Die Welt war in Ordnung. Rolo fragte sich, wie viele Seen und Flüsse sie noch passieren würden bis zur Ankunft in Neunseen. Außerdem war er sehr gespannt auf seine Tante. Dann wurde der Wald lichter und endete. Das Zwielicht wich dem strahlenden Glanz eines Sommertages. Paps setzte seine Sonnenbrille auf. Sie fuhren zwischen Wiesen dahin. Das Gras stand knöchelhoch und wog sich gleichmäßig im Wind. Das Marschland gab den Blick auf das Gebirge frei. Rolo staunte. Auch auf diese Entfernung vermittelte es einen Eindruck von Erhabenheit und Größe, der ihm den Atem verschlug. Er fühlte sich seltsam klein bei dem Anblick. Unvermittelt dachte er an eine Burg. Eine schützende Festung mit hohen Mauern, gegen die die düsteren Horden eines mörderischen Herrschers in wilden, längst vergangenen Zeiten anrannten. Ein Schlagloch brachte ihn zurück. Drei schneebedeckte Gipfel überragten alles. Er bemerkte, dass sein Vater sprach.

„… und der dort wird Drachenhort genannt. Tante Farrah wird dir die Legenden sicher gerne erzählen, die sich um diese Gegend ranken. Und das sind nicht wenige. Und da liegt Neunseen.“

Jenseits einer Erhebung tauchten Häusergiebel auf. Neunseen lag in einer Talmulde, umgeben von Wiesen und Apfelbäumen. Dazwischen schlängelten sich Flüsse und Bäche dahin. An den Ufern standen Mühlen. Die Mühlräder drehten sich sprudelnd im Wasser. Hinter Neunseen lag ein See. Rolo konnte nicht mal schätzen, wie groß er sein mochte. Boote glitten mit straffen Segeln auf ihm dahin. Neunseen schien ihm wie aus dem Felsen des Gebirges gehauen, schon so viele Jahre hier zu stehen, dass es wie ein Teil der Landschaft wirkte. Die Häuser waren hoch und standen dicht gedrängt. Fensterläden und Türen, in allen Farben des Regenbogens, verliehen dem Bild bunte Sommersprossen im grünen Gesicht des Tals. Den Ort umschloss eine gewaltige Hecke.

„Schön, schön“, kommentierte Paps.

„Wirklich ein Knaller“, befand Rolo begeistert. „Lass uns runterfahren. Ich will es aus der Nähe sehen.“

Der Weg führte bis vor das Stadttor.

„Was Du uns bringst, wird Dir doppelt gegeben“, las Rolo. Die Inschrift war in die höchste Stelle des Stadttors gemeißelt.

„Ist das jetzt ein Willkommen oder eine Warnung?“

Der Torbogen war halbrund und über und über mit Efeu bewachsen. Nur die Inschrift war vom Grün befreit. Ein rostiges Fallgitter schwang quietschend im Durchgang.

„Die Hecke ist voller Dornen“, meinte Rolo. „Wer da durch will, muss sehr dickhäutig sein.“

„Die Hecke ist uralt und unglaublich verwuchert“, erklärte Paps. „Hält Tiere draußen. Dieses Tor hier dient einem anderen Zweck. Zum einen soll es schön aussehen, zum anderen wird es uns daran hindern, mit dem Wagen in die Stadt zu fahren.“ Mit diesen Worten parkte er auf der Wiese neben dem Weg. „Ab hier wird gewandert.“

Rolo nahm den Katzenkorb von der Rückbank und schulterte seinen Rucksack. Paps trug seinen ranzigen Lederkoffer unter einem Arm. Er verschloss das Auto sehr gewissenhaft. Igel wurde wach. Die Hecke schien ganze Vogelgroßfamilien zu beherbergen. Das Gezwitscher weckte seine Jagdinstinkte.

„Nein, jetzt nicht. Du kannst nicht zur Begrüßung die Singvögel von Neunseen massakrieren“, lachte Rolo.

Nichts rührte sich, als sie auf die Stadt zugingen. Das Stadttor war gerade so breit, dass sie nebeneinander hindurchgehen konnten. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Nur die Vögel sangen. Die Straße führte vom Tor aus gerade in die Stadt, gesäumt von prächtigen Häusern. Viele Fensterbänke waren mit Blumenkästen dekoriert. Die Fenster in den unteren Etagen der Häuser hatten bunte Verglasungen. Davor standen Tische und Bänke aus Holz. Das sah sehr einladend aus.

Die Blutguts standen noch unentschlossen auf dem rauen Kopfsteinpflaster, als eine Stimme ertönte. „Hey, ihr da!“ Rolo schaute umher, den Rufer zu finden. Er entdeckte ihn nicht.

„Eindringlinge!“, rief die Stimme. Sie hatte einen dramatischen Tonfall.

„Verzeihung“, rief Paps. Seine Worte hallten in der Häuserschlucht. „Wir sehen Sie nicht. Wir sind keine Eindringlinge. Wir sind Besucher.“

„Besucher?“, überschlug sich die Stimme. „Das ist ja noch schlimmer. Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich komme!“

Paps zuckte mit den Schultern. „In Ordnung.“

„Das haben die sich ja schön ausgedacht. Fallen hier ein, während alle feiern. Aber nicht mit mir. Ich pass auf. Bin immer auf Posten. Ha!“

Eine kleine Luke wurde aufgestoßen. Rolo hatte sie gar nicht gesehen, so perfekt war sie hoch oben in das Gemäuer des Stadttors eingelassen.

„Hab es doch allen gesagt. Obacht hab ich gesagt. Halten mich für verrückt. Sagen, ich bin zu misstrauisch. Ha! Wo hab ich denn nur wieder …, ah ja, da ist sie ja. Und wo ist nur … ach, brauch ich nicht!“

Eine Strickleiter fiel herab. Rolo und Paps traten einen Schritt zurück.

„So, jetzt bin ich gleich da. Lauft nicht davon, das hätte keinen Sinn. Nein, keinen Sinn. Bin schnell.“

In der Luke erschienen nackte Füße mit sehr schmutzigen Fußsohlen.

„Nein, nein, so geht’s nicht. Muss andersrum.“ Dann klang es, als würde ein blecherner Waschzuber über Steinboden gezogen. Mit den Füßen voran stieg der Wächter die Leiter hinab. Er trug eine Rüstung wie ein Ritter.

„Der ist aber dick“, flüsterte Rolo seinem Vater zu. Der nickte stumm. Der Wächter erreichte die letzte Sprosse. Mit einem kleinen Hüpfer landete er auf dem Boden. Seine Rüstung klirrte.

„So, da wäre ich. Guten Tag, guten Tag, willkommen in Neunseen.“ Er verbeugte sich, und die Teile seiner Rüstung schruppten mit scharfem Schnarren aneinander. Der Mann war groß und dick. Er hatte dunkles krauses Haar. Sein rundes Gesicht war bartlos und faltig. Die Haut hatte einen gesunden dunklen Ton. Die Rüstung war aus silbernem Metall und verbeult.

„Verzeihung, dass das so lange gedauert hat.“ Seine Stimme erinnerte Rolo an Helium.

„Och, das ist schon in Ordnung“, entgegnete Paps freundlich. „Wissen Sie, wir sind zu Besuch. Wir bleiben eine Weile. Da kommt es auf ein paar Minuten nicht an.“

„Ob Sie bleiben oder nicht, das gilt es erst noch zu klären“, sagte der Wächter förmlich.

Rolo stutzte. Der Kerl war nicht sehr freundlich.

„Name?“, fragte der Wächter zackig.

Die Blutguts meldeten ordnungsgemäß ihre Namen.

„Und da in dem Korb?“, fragte er weiter und wippte von den Fersen auf die Zehenspitzen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Das ist ein Kater“, erklärte Paps.

„Ich sehe, dass das ein Kater ist“, sagte der Wächter gereizt. „Hat der keinen Namen?“

„Doch hat er. Aber den wird er ihnen wohl nicht sagen“, konterte Rolo nicht weniger angriffslustig.

Der Wächter schien überrascht von so viel Frechheit. Als er gerade zu einer unfreundlichen Erwiderung ansetzte, fuhr Paps dazwischen. „Igel.“

„Na, geht doch“. Der Wächter nickte, offenbar zufrieden, dass seine Autorität anerkannt wurde. „Und der Zweck Ihres Besuchs in Neunseen?“

„Wir besuchen Verwandte“, berichtete Paps. „Vielleicht kennen Sie sie? Kinsella Farrah?“

Der Wächter machte große Augen. „Oh, Madame Farrah. Natürlich kenne ich sie. Jeder im Tal kennt sie.“ Sein Blick wurde skeptisch. „Aber Sie könnten auch lügen.“

„Na, hören Sie mal“, blaffte Rolo. „Wenn wir in die Stadt gewollt hätten, um Mist zu bauen, wären wir längst drin. So lange, wie Sie gebraucht haben, um aus Ihrem Turm zu klettern.“

Der Wächter grinste. „Nein, wärt ihr nicht.“ Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff.

Die runden Fenster in den oberen Stockwerken der umliegenden Häuser wurden aufgestoßen. Vermummte Gestalten mit Kapuzen schauten hinaus. Ihre gespannten Bögen richteten sie auf die Straße. Der Wächter schaute die Blutguts herausfordernd an.

„Ich glaube, wir haben die Sache hier falsch begonnen“, versuchte Paps zu beschwichtigen. „Wir wollen nichts Böses.“

Der Wächter nickte, und die Fenster schlossen sich der Reihe nach mit lautem Knallen.

Paps bemühte sich um einen ruhigen Ton. „Fangen wir doch noch mal an. Unsere Namen kennen Sie ja bereits. Wie ist ihrer?“

Der Wächter salutierte militärisch. „Man nennt mich Hwarf.“

„Und Sie sind hier so eine Art Wache?“

„Nein, nicht so eine Art. Ich bin heute hier die Wache. Kommandiere die Nachtwehr.“

„Warum muss Neunseen denn bewacht werden?“, fragte Rolo. Er hatte sich schon wieder abgeregt.

„Davon verstehst du nichts“, entgegnete Hwarf knapp.

„Wohnen Sie dort oben im Tor?“

„Wohnen? Nein. Ich bin hier auf Wache. Ich wohne … äh.“ Hwarf machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ich weiß nicht mehr, wo ich wohne.“

„Und die Bogenschützen?“ Rolo deutete rauf zu den Fenstern.

„Das ist die Nachtwehr von Neunseen“, erklärte Hwarf. „Hat eine lange Tradition hier. Teil der Ausbildung. Jeder wird in der Schule auch im Bogenschießen ausgebildet. War immer so. Bleibt so. Unterstützen die Neolinga. Schauen hier und da nach dem Rechten. So lungern sie nicht nur rum und machen Unsinn.“

„Das ist ja Hammer“, staunte Rolo.

„Nein, mit Schmieden hat das nichts zu tun“, meinte Hwarf kopfschüttelnd. „Die Ausbildung zum Schmied ist ein anderes paar Schuhe. Was mich wiederum zu den Schustern bringt, welche ihre Werkstätten in der Nähe der Zimmerleute haben. Gleich hier um die Ecke. Natürlich arbeiten die Hand in Hand mit den Bootsbauern. Die sind drüben am See. Boote bauen geht natürlich nicht ohne die Baumhüter. Die verstehen sich leider nicht so gut mit den Bauern. Ist ja auch ein hartes Brot, die Landwirtschaft. Hartes Brot backen übrigens auch unsere Bäcker, ganz vorzüglich ist das. Solltet ihr probieren …“

„Bogenschießen, in der Schule?“, unterbrach ihn Rolo.

Hwarf rümpfte die Nase. Rolo war ganz aus dem Häuschen.

„Kann da jeder hin? Was wird denn da noch unterrichtet?“

„Na, so ganz genau weiß ich das auch nicht mehr. Ist lange her bei mir. Bin ja nicht für alles zuständig. Hat sich bestimmt Einiges getan seit damals. Früher war das Bogenschießen, Schleichen, Fallen stellen, Kräuter sammeln …“

„Meinen Sie, ich könnte da auch mitmachen?“

„Hm.“ Hwarf kratzte sich nachdenklich am Kopf und musterte Rolo.

„Du? Das weiß ich nicht. Das gab es noch nie, so weit ich weiß. Gibt es keine Schulen, da wo du herkommst? Ach, was kümmert mich das Elend anderer Leute. Da solltest du mal mit Adalar drüber sprechen. Der wird es wissen. Ist der Schulleiter. Ja, den frag mal. Vielleicht kann Madame Farrah da ein gutes Wort für dich einlegen beim werten Adalar.“

„Da müssen wir erstmal in Ruhe drüber reden“, wandte Paps ein. „Jetzt sind ja auch erstmal Ferien.“

„Und wo finden wir diesen Herrn Adalar?“, fragte Rolo.

Paps seufzte.

„Nicht Herr Adalar. Einfach nur Adalar“, erklärte Hwarf. „Na, jetzt wahrscheinlich unten am See. Da sind jetzt alle. Heute wird gefeiert. Ach je, die Feier, die hab ich ganz vergessen. Da muss ich hin.“ Er schaute an sich hinab. „Aber nicht so. Muss mich umziehen. Immer diese Eile. Wenn ich nur wüsste, wo …“ Hwarf betrachtete nachdenklich die umliegenden Häuser. Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Ach, jetzt weiß ich wieder.“ Zielstrebig steuerte er auf das erste Haus zu, direkt hinter dem Stadttor. „Ihr wartet hier!“, rief er über die Schulter und schloss die Tür mit einem Knall.

Die Blutguts rührten sich nicht. Sie wollten keine nähere Bekanntschaft mit den Bogenschützen machen.

Der Sommer der Vergessenen

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