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Kapitel 8
ОглавлениеTweed hastete den Hang hinab. Loses Geröll nahm ihm den Halt. Er rutschte ab und schlug mit der Flanke gegen Fels. Benommen blieb er liegen. Wolken verdunkelten den Mond. Tweed blinzelte in den Nachthimmel. Seine Augen leuchteten strahlend gegen die Dunkelheit. Mit einem entschlossenen Satz stand er wieder. Hastig kratzten seine Pfoten über den steinigen Grund. Zwischen spitzen Felsen sprang er über einen Abhang, landete hart auf einer Schräge, überschlug sich und war schon wieder auf den Beinen. Schwer atmend duckte er sich unter einem Felsvorsprung. Nichts war zu hören, nur das laute Pochen seines Herzens. Vorsichtig streckte er die Nase hinaus und schnüffelte. Nichts. Er stützte die Vorderläufe an den Fels und richtete sich auf, um über den Vorsprung zu schauen. Auf dem Gipfel des Berges saß die Burg wie eine fette Spinne. Ihre zahllosen Fenster waren hell erleuchtet. Kein Anzeichen von Aktivität war zu sehen. Hatte er sich getäuscht? Er war sich sicher, dass das Irrlicht ihn bemerkt hatte. Doch dies war nicht die Zeit für Vermutungen. Der Grüne brauchte die Nachrichten.
Auf leisen Sohlen lief er weiter, geduckt zwischen den Felsen. Tweed war ein Schleicher, der seinesgleichen suchte. Kein Geräusch verriet ihn. Zwei Mäuse, die oben auf dem Felsen saßen, um sich die Sterne anzuschauen, bemerkten ihn nicht. So entfernte er sich weiter von der Burg. Mit einem Satz überwand er einen Graben, fand Deckung hinter einem toten Baum. Ein scharrendes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Eine Krähe stocherte mit einem Stöckchen im Schnabel zwischen den Felsen nach Käfern. Tweed legte die Pfote ans Maul. „Pssst.“ Die Krähe legte den Kopf schräg, schien zu verstehen. Doch dann nahm sie das Stöckchen zwischen Schnabel und Kralle und brach es entzwei. Das zarte Geräusch des brechenden Holzes klang wie Kanonendonner in Tweeds Ohren. Wütend schnappte er nach der Krähe. Doch sie war schon in der Luft, flog krächzend davon. Tweed wusste, dass alle Heimlichkeit jetzt vorbei war. Er hätte genau so gut ein Signalfeuer entzünden können. Die schräg abfallende Ebene vor ihm war durchsetzt von unregelmäßigem Fels. Er konnte nicht sehen, was am Fuß des Berges lag. Aus der Ferne hörte er ein Geräusch. Es klang wie das Rauschen eines Wasserfalls. Die Wolken zogen weiter und der Mond erhellte die Nacht. Das wird ja immer besser, dachte Tweed und schaute zurück, rauf zur Burg. In diesem Moment erlosch dort das Licht. Tweed duckte sich. Er wusste, dass man aus dem Dunkeln gut ins Dunkel blicken konnte. Jetzt nur weg! Mit kurzen flinken Sprüngen begann er seinen Abstieg. Er schaute nicht zurück, schaute sich nicht um. Das Rauschen wurde lauter. Es war jetzt mehr ein Brummen, schien näher als zuvor. Der Hang wurde steiler. Tweed musste vorsichtig sein, um nicht den Halt zu verlieren. Er war sehr froh über seine vier Beine. Um sich zu orientieren, bestieg er einen Fels, der in der schroffen Landschaft etwas hervorstach. Am Fuß des Berges, gar nicht weit vor ihm, sah er die Quelle des Geräusches. Die Autobahn. Trotz der späten Stunde war sie stark befahren. Da unten komm ich nur bis zur Leitplanke. Hier oben, seitwärts durch die Felsen wird es mich Stunden kosten und bringt mich vom Weg ab. Wenn ich hier überhaupt je runterkomme. Und was dort oben wartet, möchte ich gar nicht wissen. Er entschied sich, einen Weg entlang der Straße zu suchen. Irgendwann konnte er vielleicht zwischen den Autos hindurch huschen und in Richtung Nachtschattental entwischen. Er erreichte den Straßenrand. Der Lärm der Autos betäubte seine sensiblen Sinne. Die Scheinwerfer blendeten ihn. Halb blind wandte er sich nach Norden, lief los. Nur ein schmaler Streif kargen Grases zwischen Fels und Straße. Die Lichter der Autos erzeugten tanzende Schatten. Sie wurden länger und verschwanden. Ein Schatten blieb. Tweeds Flucht war vorbei. Die schwarze Gestalt wuchs aus dem heißen Asphalt. Sie entstieg dem Schatten wie einem dunklen See. Ihr schwarzer Umhang verschmolz mit der Nacht. Sie stand gebückt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Tweed wusste, mit wem er es zu tun hatte. Er war gewarnt. Der Lärm der Straße rückte für ihn in weite Ferne. Lichter kamen und gingen in schneller Folge. Die Gestalt kam näher, ohne einen Schritt. Wie auf Schienen glitt sie heran. Eine zweite trat hinter ihr hervor, dann eine dritte, eine vierte. Sie bewegten sich wie Spiegelbilder.
„Folge uns, Fuchs.“ Die Stimme war in Tweeds Kopf. „Folge uns.“
Tweed bellte gegen den Lärm der Motoren an. „Ich kenne dich, Irrlicht. Und ich fürchte dich nicht!“ In seiner jetzigen Gestalt konnte Tweed die Sprache der Menschen nicht sprechen. Aber die Irrlichter hörten seine Gedanken. Sie rührten sich nicht. Ihre schwarzen Kutten reichten bis zum Boden. Die Öffnungen ihrer Kapuzen waren düstere Abgründe. Sie neigten die Köpfe.
„Der Nachtbringer will dich. Folge uns.“
„Euch folgen? Ich soll euch folgen? Dem Schatten folgen? Eure Existenz ist nur ein Irrtum. Keine Pfote setzte ich in eure unendliche Nacht. Holt mich doch, wenn ihr könnt!“
Ein harter Tritt traf Tweed. Er wirbelte herum, schnappte nach dem Bein des Angreifers. Doch es war nur weißer Rauch zwischen seinen Kiefern. Hände griffen ihn. Das Irrlicht hob ihn hoch. Tweed wand sich. Mit aller Kraft biss er zu. Kaltes Blut füllte sein Maul. Das Irrlicht schrie kreischend und wurde körperlos. Tweed fiel durch die neblige Gestalt zu Boden. Er landete auf den Füßen. Blut tropfte von seinen gefletschten Zähnen. Ein harter Schlag traf sein Gesicht. Tweed schüttelte sich und fixierte knurrend den Feind. Nebelschwaden stiegen von der verletzten Hand des Irrlichts auf.
„Lasst mich ziehen“, kläffte Tweed. „Das ist nicht mein Krieg!“
„Er weiß, wem du dienst.“ Ein Irrlicht scherte seitlich aus, glitt durch die Leitplanke auf die Fahrbahn. Ein Fahrer riss das Lenkrad herum. Sein Wagen schleuderte durch das Irrlicht und kam quer zum Stehen. Hupen, Bremsen quietschten. Ohrenbetäubend krachten die Autos ineinander. Die Irrlichter hatten ihr Ziel erreicht. Jetzt war die Nacht finster. Sie verschwanden in der Dunkelheit. Tweed hörte die Schreie der Verletzten, lief auf die Straße. Trümmer von Autos lagen herum. Die Wracks dampften. Aufgeregte Menschen liefen durcheinander. Es roch verbrannt. Keiner beachtete den Fuchs. Die Scheinwerfer der Autos, die nahe der Unfallstelle standen, spendeten noch Licht. Hier würde er die Angreifer sehen. Aber würde es ihm nützen? Die Straße. Der Unfall würde den Verkehr eine Weile aufhalten. Allerdings erwartete ihn dort die ungewisse Dunkelheit. Er rannte los. Aus der Ferne hörte er Sirenengeheul. Hilfe für die Verunglückten war nah. Was half es ihm. Die Gegenfahrbahn war immer noch zu stark befahren, um sie zu überqueren. Dann kam der Nebel. Er stieg aus der Fahrbahn auf, viel zu schnell, um natürlich zu sein. Tweed wurde nicht langsamer, lief einfach hinein. Geräusche klangen gedämpft in der feuchten Luft. Er sah kaum weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Er lief schneller. Der Nebel formte einen Tunnel.
Ich bin zu langsam, schoss es Tweed durch den Kopf. Er blieb stehen. Kampfbereit fletschte er die Zähne. Drei Irrlichter standen ihm gegenüber. Ihre Umhänge wehten, doch es ging kein Wind.
„Ihr seid nichts! Nur Nebel und Finsternis!“ Plötzlich fühlte er eine Berührung. Zwei Hände ergriffen seine Vorderläufe. Sie kamen aus der Straße unter ihm. Ohne zu zögern, trieb Tweed seine Zähne hinein. Doch sie ließen nicht los. Wild warf er sich hin und her, der Falle zu entgehen. Die Irrlichter kamen näher. Sie zogen Stäbe, die in ihren Händen um ein Vielfaches länger wurden. Schon traf Tweed der erste Hieb. Rasend vor Wut versuchte er, sich in den Stäben zu verbeißen. Die Irrlichter schlugen abwechselnd zu. Mit grausamer Präzision zerschnitt Schlag um Schlag die Luft. Plötzlich ließen sie von ihm ab, schauten ins Licht. Scheinwerfer näherten sich durch den Nebel.
Das ist eine Hinrichtung, dachte Tweed. Seine Sinne schwanden. Die Gewänder der Irrlichter verdunkelten die Sterne. Ein letztes Mal schlugen sie zu. Tweed jaulte und fiel auf die Seite. Die Hände ließen von ihm ab. Die Irrlichter duckten sich und versanken geräuschlos im Asphalt der Straße. Der Lichtkegel erfasste Tweeds reglosen Körper. „Nein, nein, halt! Das ist falsch, ganz falsch.“
Die Zeit fror ein. Motoren verstummten. Die Autos rollten langsam aus und kamen zum Stehen.
„Ich sagte den Irrlichtern, dass ich dich lebend brauche. Lebendig. Haben wohl den Unterschied vergessen zwischen Leben und Tod.“
Menschen stiegen aus ihren Wagen.
„Nein. Ihr nicht. Schlaft!“
Wie Marionetten mit durchtrennten Fäden brachen die Menschen zusammen. Gespenstische Ruhe trat ein. Im Nebel zeichnete sich eine Silhouette ab. Ein alter Mann kam die Straße entlang. Sein Gehstock klackerte rhythmisch auf dem Asphalt. Klein war er, ging gebeugt. Bei Tweeds reglosem Körper blieb er stehen.
„Du bist das“, staunte er. „Hätte nicht gedacht, dich noch mal zu sehen. Nach so langer Zeit.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das dünne weiße Haar. „Immer machst du Ärger. Manches ändert sich wohl nie.“ Er schaute in den Nachthimmel hinauf. „Nein, mein Freund. Manches ändert sich wohl nie.“ Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Auch wenn die ganze Welt aus den Fugen gerät. Wir sind, was wir sind. Aber nein, warte. Noch besser. Wir werden wieder sein, was wir waren! Und weißt du was, mein Freund? Es hat gerade erst begonnen.“ Zweimal pochte er mit seinem Gehstock auf die Straße, dann waren beide verschwunden.