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Kapitel 2

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Der Helle

In einem schattigen Teil des Waldes umkreiste eine dunkle Gestalt eiligen Schrittes einen dampfenden Krater. Sie gestikulierte wild mit den Armen und plapperte vor sich hin, wie in ein Gespräch vertieft. Doch außer ihr war niemand zu sehen. Plötzlich blieb sie stehen, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Meister, ich bitte dich! Er ist so ein Spielverderber!“

Die Antwort folgte prompt. Sie kam aus dem welken Laub, aus den hohen Baumwipfeln, vielleicht sogar aus der frostigen Erde selbst. Und eine Stimme, so tief, dass die Vögel ehrfürchtig das Singen vergaßen, hallte durch den Wald. „Das besprachen wir bereits, Driftwood. Ihr wart Gefährten, und ihr werdet es wieder sein.“

Driftwood zuckte unmerklich zusammen. Wie alle Nachtalben war er nicht sehr groß. So um die 1,30 Meter. Sein Körper war mit dem schwärzesten aller Felle bedeckt. Das war, stets gut gepflegt, nur am Bauch etwas weniger dunkel. Seine dünnen Arme baumelten an ihm herab wie gekochte Spaghetti. Bis zu den Waden hingen sie, und dabei waren seine Beine nicht weniger lang. Das Gesicht, eine vorstehende Schnauze, war ohne sichtbare Nase und mit kürzerem Fell bewachsen. Eine Mähne rahmte es ein wie Kronblätter eine finstere Blüte. Seine Lippen waren so schmal, dass der Mund unsichtbar blieb, hielt er ihn geschlossen. Das passiert jedoch nur, wenn er schlecht gelaunt war. Das allerdings war nicht so selten. Dann wimmerte er, dass seine rostige Stimme jedem ins Mark fuhr. Seine Ohren ähnelten Mäuseohren und saßen schräg hinten am Kopf. Der thronte ohne Hals zwischen schmalen Schultern, weshalb er recht groß wirkte. Das machte ihm das Tragen von Sonnenbrillen nahezu unmöglich. Es wäre aber auch zu schade gewesen, hätte er seine runden Rehaugen hinter dunklen Gläsern verborgen. Ihr zartes Braun verlieh ihm etwas Sanftes. Driftwood blinzelte nie - ein Ass im Ärmel bei jedem Glotzduell! Seinen buschigen Schwanz trug er stets mit Würde und Bedacht. Setzte sich Driftwood, rollte er ihn ordentlich ein oder trug ihn über dem Unterarm wie ein Kellner sein Gläsertuch. Sein voller Name lautete übrigens Driftwood D. Flog. Aber wofür das D. stand, das verriet er niemandem. Und wer zu neugierig nachfragte, der machte die Bekanntschaft der vierfingrigen Pfoten.

„Ja, natürlich waren wir das“, rief Driftwood. „Aber seht Ihr denn nicht, wo es uns hinbrachte? Hunderte Jahre kalter Schlaf!“

„Und du weißt, dass es ebenso wenig seine Schuld war wie deine. Der Wind hatte sich gedreht, gegen uns. So ist der Lauf der Welt. Er ist dein Tag, du seine Nacht. Ihr braucht einander.“

„Gebt mir ein Heer, Meister. Eine berittene Hundertschaft unter meinem Kommando wird das Rätsel in null Komma Nix lösen. Habt Euch doch nicht so!“

„Das war nie unser Weg. Und unser Weg soll es nicht werden. Willst du dich so der Welt präsentieren, als bewaffnete Horde? Das wäre mir ein triumphales Ende, wo ein Anfang sein sollte. Wir brauchen keine Waffen, wir brauchen Verstand.“

Driftwood schaute in die Baumkronen und breitete beschwörend die Arme aus.

„Aber Meister, das Rätsel. Wir müssen das Eisen schmieden. Jetzt ist es heiß!“

„Und es wird noch heißer, mein pelziger Freund. Jetzt ist der Wind unser Verbündeter. Er bläht unsere Segel, er heizt unsere Esse, er weht unter unseren Flügeln.“

Kopfschüttelnd lief Driftwood zwischen den Bäumen umher. „Hab Geduld“, wisperte das Laub.

„Geduld, Geduld“, wiederholte Driftwood. „Ich spüre noch das Gewürm und die Asseln in meinem Pelz. In meinem wundervollen Pelz.“ Er strich sich nervös über den Bauch, wie um Käfer zu verjagen.

Eine Eichel an einem nahen Baum flüsterte: „Und wundervoll wird es in Kürze wieder sein, mein eitler Freund. Erinnere dich an das Ende. Erinnere dich daran, wie es war, vergessen zu sein. Mit letzter Kraft schenkte ich euch einen tiefen Schlaf, der euch die Zeiten überdauern ließ. Und für euch beide entschied ich mich, weil ihr mir die treuesten aller Diener wart. Lass es mich nicht bereuen. Schau zurück, erinnere dich an seine Weisheit, seinen Mut - und vor allem, an seine Treue.“

Driftwood hielt inne. Betreten schaute er zu Boden. „Und ich vermisse ihn. Aber!“, er hob mahnend die Pfote, „erinnert Ihr Euch auch an seine Predigten und sein ewiges Gezappel?“ Mit einem Seufzer setzte er sich auf einen Baumstamm, den langen Schwanz ordentlich über die Beine gelegt. „Und der Mensch?“

„Tweed ist ein Freund“, fiepte ein Pilz im Morast. „Ohne zu zögern, schloss er sich unserer Sache an. Er hat eine Schuld zu büßen.“

„Mmh, Ihr seid der Meister, Meister.“

„Seine Erfahrung macht Tweed zu einem wertvollen Verbündeten“, knarzte eine kahle Buche. „Ich sandte ihn aus zu kundschaften. Unsere Rückkehr wird dem Nachtbringer nicht verborgen bleiben. Vorsicht ist geboten. Driftwood, ich brauche dich mehr denn je! Deine alte Stärke, deine Zähigkeit! Und seinen Sanftmut. Ich brauche euch.“

„Euch“, flüsterte Driftwood. „Das klingt vertraut, Meister. Vertraut und gut.“

Die Bäume rauschten: „Wo ist mein entschlossener und wagemutiger Kämpfer aus alten Zeiten? Wo ist mein Streiter, dem Worte nichts und Taten alles bedeuten? Noch betrübt die Vergangenheit dein müdes Herz.“

„Fürwahr, Meister, ich bin müde, so müde.“ Sein Kinn sackte ihm auf die Brust, und er begann zu schnarchen.

„Aufwachen!“, rief der Wald.

Driftwood zuckte und sprang auf.

Die Tannenzapfen erhoben ihre Stimmen: „Genug der Worte. Viel Kraft kostete mich deine Erweckung, viel Kraft vergeude ich mit diesem Geschwätz. Ich brauche dich, um Sokrates Solaris zu wecken. Jetzt!“

Driftwood verneigte sich und ließ seinen Blick durchs Dickicht schweifen. Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, stapfte aus dem Schatten des Waldes ins Licht. „Er heißt Socke“, murmelte er verstimmt. Sein Atem war Dampf in der kalten Luft. „Meister, seid Ihr bei mir?“

„Meine Kraft ist deine Kraft.“

Driftwood sprach ein Wort, und der Schnee am Saum des Waldes schoss in die Höhe. Dort blieb er und wehte wie ein Vorhang im Wind. Was immer jetzt auf der Lichtung geschah, es blieb für neugierige Augen jenseits des frostigen Walls verborgen. Die Wintersonne lag verborgen hinter dunklen Wolken. „Meister, ich bitte Euch, ein wenig mehr Hilfe könnte ich wohl brauchen. Auch meine Kraft ist noch lange nicht völlig wieder hergestellt“.

„Du bist nicht bei der Sache! Konzentriere dich!“

Driftwood verzog gekränkt das Gesicht. „Kein Grund, gemein zu werden. Ich kann mich einfach nicht erinnern!“

„Was?“

„Der Vers! Ich habe den Vers vergessen.“

Ein Seufzer ging durch den Wald. Eine Bachstelze kam geflogen. Sie landete auf Driftwoods Schulter und zwitscherte ihm ins Ohr. Driftwood lauschte. Als er genug gehört hatte, wischte er den Vogel mit der Pfote von seiner Schulter. Lautstark protestierend flog die Bachstelze davon. „Danke, Meister. Bereit, wenn ihr es seid. Oh, da fehlt noch was.“ Driftwood griff in seinen Pelz und zog ein Samenkorn hervor. Ruhig sprach er zu der gefrorenen Erde. Als nichts geschah, wiederholte er sein Anliegen sehr eindringlich, und endlich taute an einem kleinen Fleck der gefrorene Boden. Auf ein weiteres Wort bildete sich ein feiner Spalt. Dort ließ er den Samen hineinfallen. Sofort schloss der Spalt sich wieder.

„So“, sagte er. „Kann losgehen.“

„So sprich den Vers, mein schwarzer Freund.“

„Und Ihr?“

„Ich helfe dir. Beginn!“

Und Driftwood begann. Er riss die Arme in die Luft, und ein Schauer fuhr durch sein Fell. Das Braun seiner weit geöffneten Augen verflüssigte sich. Wie ein Wasserfall aus morastigen Tränen floss es über seine Wangen. Rasch wuchsen seine Pupillen. Sie füllten die Augen und strahlten wie schwarze Sonnen. Seine Füße versanken in der Erde, als er Worte murmelte, nur für diesen einen Augenblick überliefert. Und unzählige Stimmen fielen mit ein. Sie erklangen aus den Baumwipfeln, den Büschen, den frostigen Grashalmen unter der Schneedecke und sogar aus der kalten Erde selbst. Und der Wald bebte unter ihrer vereinten Kraft.

„Aus Sonnenlicht bist du gemacht, geboren als ein Kind gelacht. Flog tagwärts wie ein Schmetterling zur schönsten aller Blüten hin. Der Helle bist du stets geblieben, so komm herbei, die Welt zu lieben."

Und ein dunkler Strahl reiner Magusch entsprang jeder Faser von Driftwoods Körpers und schoss durch seine ausgestreckten Arme in den Himmel wie eine Säule schwarzen Wassers. Sie durchbrach die dunklen Wolken am Firmament, und ein kreisender Strudel bildete sich, durch den die Sonne sichtbar wurde. Driftwood kippte hintenüber wie ein morscher Baum. Rauchfahnen stiegen von ihm auf. Er befreite seine Füße aus der Erde und wischte sich den schmutzigen Schnee vom Pelz.

„Nun komm schon Socke, ich brauche dich.“ Nur das unruhige Schwingen seines Schwanzes verriet seine Ungeduld.

Und dann begann es. Die schwache Wintersonne, vor einem Augenblick noch ein matter, gelber Punkt, schien sich an ihre alte Kraft zu erinnern. Wie durch ein Brennglas konzentrierte sich am Rand der Lichtung ein heller Punkt aus gebündeltem Sonnenschein. Rasch bildete sich dort eine Pfütze. Driftwood konnte die Bahn der Sonnenstrahlen vor dem hellen Hintergrund des Schneewalls erkennen, jenseits dessen der Winterwald gespannt den Atem anhielt. Langsam bewegte sich das Licht auf seinen Standort zu, auf die Mitte der Lichtung. Wo es den frostigen Boden berührte, hinterließ es einen schmalen Streif grünen Grases im geschmolzenen Schnee. Nur noch wenige Schritte trennte es von Driftwoods Position. Er verdrehte die Augen. „Mach schon!“

Endlich sah es aus, als hätte die Sonne ihr Ziel gefunden. Das Samenkorn. Die Strahlen bündelten sich noch einmal, wie um ihre gesamte wunderbare Kraft auf diese eine Aufgabe zu fokussieren. Es galt, die Kälte zu besiegen. So bildete sich schnell ein kleiner See aus Tauwasser. Ein Knirschen, als bräche Eis in Stücke, drang aus dem Boden. Grollend öffnete sich ein Spalt. Die Sonnenstrahlen schienen hinein, eroberten das düstere Erdreich. Einige Augenblicke vergingen, bevor ganz allmählich der zarte Trieb einer grünen Pflanze emporwuchs. Es sah aus, als würden die wärmenden Strahlen das grüne Pflänzchen aus dem Boden locken. Der Trieb streckte sich und bildete zwei zarte Blättchen, die sich wie Sonnensegel aufspannten. Am höchsten Punkt des Sprosses entsprang eine weiße Blüte.

„Komm, mein Freund, der Frühling naht“, hauchte Driftwood.

In der Mitte der Blüte erschien ein kleiner schwarzer Punkt wie eine Johannisbeere. Plötzlich hatte die Blüte Augen. Gelb und knopfförmig. Sie blinzelten. Es schien, als schaue die Blume selbst nach dem Rechten. Und die Johannisbeere reckte sich, denn sie war die Nasenspitze. Dann wuchs das Gesicht. Es war spitz und schwarz um die Augen. Umgeben von den Kronblättern sah es aus wie eine kleine Sonne. Mit einem leisen Plopp flutschten die Ohren hervor. Schon war der ganze Kopf zu sehen. Breiter als die Blüte selbst saß er oben auf. Der zarte Stängel der Pflanze schaukelte nur sacht unter dem Gewicht. Weiße Pfoten drückten sich ins Freie. Das Geschöpf schien völlig fokussiert auf seine Aufgabe, keine Regung zeigte sich in dem freundlich anmutenden Gesicht. Lange Arme drückten sich an den Blütenblättern ab, und ein schlanker, pelziger Körper hob sich selbst empor. Als nur noch die Füße in der Blume steckten, kippte es vornüber. Driftwood fing es auf, und legte es vorsichtig auf den sonnengewärmten Boden.

„Bist du das, Driftwood?“, fragte das Kind der Blume schwach.

„Ja, ich bin es, Socke. Ruh dich aus, mein Freund, wir haben viel vor“.

„Ich bin so müde“, sagte Socke leise. Dann schlief er ein.

Unbemerkt schwang sich eine Krähe aus dem höchsten Wipfel einer Tanne in die Luft und flog davon.

Der Sommer der Vergessenen

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