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Die Folgen des Religionsverlustes
ОглавлениеDiese Frage führte mich zum Thema des Buches, das Sie in Händen halten.
Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Mein Vater und meine Mutter betrachteten ihren Beruf mehr als Berufung und ordneten daher auch unser Familienleben dieser Aufgabe unter. Eines der Grundprinzipien, die ich in diesem Elternhaus lernte, war, dass wir als Mensehen Verantwortung zu übernehmen und uns für eine bessere Welt einzusetzen haben. Eine bessere Welt war für uns eine Welt der Gerechtigkeit, der Liebe, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung, um es plakativ zu formulieren.
Das Fundament dieser Überzeugungen meiner Eltern bildete der Glauben an einen Gott der Liebe, der die Welt geschaffen und den Menschen geschöpft hat. Leben hieß und heißt in der Welt meiner Eltern, in der Welt des Protestantismus, in der ich aufgewachsen bin, aktiv an einer besseren Welt mitzuwirken und sich gegebenenfalls zu diesem Zwecke auch politisch zu engagieren.
Mit dieser Mitgift begann ich 1983 ein Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Wien. Ein Auslandsjahr am Centre universitaire protestant in Montpellier trug nicht nur zur Verbesserung meiner Französischkenntnisse bei, sondern brachte mir auch Geschichte und Gegenwart des französischen Protestantismus näher. Er war gekennzeichnet von blutigen Verfolgungen und dem Widerstand gegen jede Art von ungerecht handelnder Obrigkeit.
In diesem Studium der Theologie lernte ich, strukturell zu denken und eine der zentralen Fragen kritischen Denkens zu stellen: »Cui bono?« Auf Deutsch: »Wem zum Vorteil?« Das verdanke ich zuallererst meiner Wiener Professorin Dr.in Susanne Heine, die mich förmlich anstachelte, kritische Fragen zu stellen und selbst zu denken.
Außerdem lernte ich, dass der Mensch fähig ist, über sich selbst hinaus zu denken und zu hoffen, dass er Ideen und Ideologien erdenken kann, dass manche »Wahrheiten« den Moden der Zeit geschuldet sind und sich die Fragen der Menschheit trotz aller Erkenntnisse und Erfindungen wenig ändern: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum gibt es Leiden? Was ist gut? Was ist böse? Warum müssen wir sterben?
Dass ich trotz meiner elterlichen Vorbilder nicht Pfarrerin werden wollte, war mir schnell klar. Zu lange hatte ich im Glashaus gesessen, denn Pfarrersfamilien wurden vor vierzig Jahren von den Gemeinden noch als öffentliches Gut betrachtet und genau beobachtet.
Durch Zufall, aber dann dafür mit umso größerer Leidenschaft, wurde ich Religionsjournalistin. Zwar würde ich mich selbst heute nicht mehr als religiös im traditionellen Sinn bezeichnen und schon gar nicht bin ich missionarisch motiviert, die Welt der Religionen ist aber wegen ihrer Vielfalt und philosophisch-theologischen Buntheit nach wie vor mein Steckenpferd, vielleicht sogar meine Leidenschaft. Denn ohne ein Wissen über Geschichte und Gegenwart der Religionen ist unsere Welt kaum zu verstehen.
Die Ideen- und Geistesgeschichte der vergangenen Jahrhunderte hat dazu geführt, dass die europäischen Gesellschaften sich mehr und mehr von den Kirchen, die mindestens bis in die 1980er Jahre auch über viel gesellschaftliche Macht verfügt haben, distanzierten. Ethische und moralische Grundsätze werden nicht mehr nur religiös, sondern überwiegend humanistisch begründet.
Den Religionsverlust, der sich auch in schwindenden Mitgliedszahlen, vor allem, aber nicht nur, in den protestantischen Ländern Europas zeigt, empfinden aber viele Menschen auch als persönlichen Verlust und Kränkung, weil sie Sehnsucht nach Religiosität haben und sie als menschliches Grundbedürfnis erleben.
Angefeuert durch die »There is no alternative«-Rufe der Politik macht sich in unserem transzendenzlosen Alltag Orientierungslosigkeit und Verzagtheit breit.