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Kapitel 4

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Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
Neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem man nicht anseh’n kann
Aus welcher Wurzel er spross.
Sie boten mir nicht Brot noch Met;
Da neigt’ ich mich nieder
Aus Runen sinnend, lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.

(DIE EDDA, ODINS RUNENLIED)

Knisternd und mit hellem Schein loderte das Feuer im Kamin. Still war es im Raum und wohlig warm. Kerzen tauchten das Zimmer in ein heimeliges Licht. Riesige Regale, gefüllt mit alten und uralten Büchern und Folianten, die sämtliche Wände bedeckten, strömten eine geheimnisvolle Atmosphäre aus.

Zwei Adepten saßen auf dem Boden, der mit dicken Fellen ausgelegt war, vor ihrem Meister, der auf dem Lehnstuhl neben dem Feuer thronte. Er beobachtete Hasso Hirschhorn und Steinar Rabenfeder, die in die Lektüre eines vor ihnen liegenden Wälzers vertieft schienen, mit Argusaugen.

Weißbart Rabenzahn, Druide der Sueben, unterwies Hasso und Steinar, die, wenn man seiner Aussage glauben wollte, dumm wie Bohnenstroh waren und eine Last auf seinen alten Schultern, in der Kunst der Magie. Nun, vielleicht reden alle Meister so über ihre Lehrjungen. Aber in beiden musste doch ein wacher Verstand stecken, denn Rabenzahn nahm nicht jeden als Lehrbursche.

Der Meister war eine Koryphäe auf seinem Gebiet und hellseherisch begnadet. Er wusste um die Kraft der Runen und deren Zauber, und war Meister des Orakels. In punkto germanischer Mythologie konnte ihm kaum einer was vormachen. Jede Göttin, jeden Gott kannte er quasi mit Vornamen, sämtliche Fabelwesen waren ihm so vertraut wie der Kram in seiner Hosentasche.

Als Berater des Königs fehlte er zudem bei keinem Thing!

„Beim Schweif des Sleipnir! Hirschhorn, du sollst lesen, nicht schlafen!“, schalt er den Kleineren.

Der so Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen und grub seine Augen tief in das Buch auf seinem Schoß.

„Meinst du, ihr sollt das aus Spaß lesen? Oder weil heute Märchenstunde ist? Mitnichten! Frau Holle muss jeder Druide kennen! Das ist reinste germanische Geschichte und Mythologie, nicht wahr, Rabenfeder?“

„Ja, Meister!“, antwortete Steinar brav.

Weißbart Rabenzahn blickte ihn streng an.

„So, so, dann erzähle mir doch mal, was deiner Meinung nach daran so mystisch ist!“

„Ja, Meister! Ja … also … als das fleißige Mädchen in den Brunnen gefallen war, um seine Spindel herauszufischen, erwachte es auf einer Blumenwiese. Diese nennt man groni godes wang – grüne Gotteswiese.“

„Richtig, Rabenfeder! Hirschhorn, hör gut zu, hier kannst du was lernen!“

Steinar fuhr fort: „Auf dieser Wiese beginnt der Helweg, der Weg in das Totenreich Hel. Deshalb setzen wir unsere Toten mit gutem Schuhwerk bei, damit sie den langen staubigen Weg ohne Mühe gehen können.“

Meister Rabenzahn unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste und wandte sich Hasso zu:

„Du machst weiter!“

„Ja, Meister!“ stammelte der, „mh … dann kam das Mädchen zur Kuh. Und hat die gemolken!“

Stolz schaute Hasso zu seinem Meister.

„Hasso, du trottliges Produkt besoffener Eisriesen! Was für eine Kuh denn?“

„Äh … Audhumbla, die Urkuh, die Ymir nährte!“

„Geht doch, Hirschhorn! Mach weiter, Rabenfeder!“

„Dann kam das Mädchen an einen Backofen. Da lag ein Brot drin und wollte raus, weil es sonst verbrennt. Das Mädchen nahm die Backschaufel und zog das Brot aus dem Ofen.“

Rabenzahn nickte und sprach: „Merkt an, Schüler! Sieht ein Brot nicht aus wie ein frischgewickeltes Neugeborenes? In alten Zeiten und bis heute glaubt man, dass die Ahnen Gebärenden beistehen, und das Mädchen war ja tot und in der Unterwelt! Hasso!“

„Ja! Als das Mädchen den Helweg weiterging, kam es an einen Apfelbaum, der geschüttelt werden wollte, was sie auch tat.“

„Gut. Äpfel waren und sind eine wichtige Vitaminquelle in der Zeit des Winters! Rabenfeder, du bist wieder dran!“

„Das Mädchen kam zu Frau Holle, die war gar schrecklich anzusehen, sodass es sich fürchtete. Aber die alte Frau gab sich freundlich und nahm es bei sich auf. So sah das Mädchen sie mit anderen Augen, denn Frau Holle war nicht nur eine Erdgöttin, sondern auch die Göttin der Schönheit und Liebe.“

„Sehr gut, Steinar!

Meister Weißbart war zufrieden mit seinen Schülern, sie schienen endlich Feuer und Flamme und in der Geschichte aufzugehen. Er deutete auf Hasso.

„Das Mädchen blieb bei Frau Holle und war sehr fleißig. Morgens schüttelte es die Betten auf und dann fiel Schnee auf der Erde. Wenn sie für Frau Holle das Essen kochte, stieg der Dampf als Nebelschwaden aus den Schluchten auf. Ein Tag bei Frau Holle war auf der Erde ein ganzes Jahr. Dem Mädchen gefiel es sehr gut bei Frau Holle!“

Ein kurzer Blick zu Steinar.

„Aber dann wurde das Mädchen traurig, es hatte Heimweh. Das sagte es Frau Holle! Die freute sich, dass das Mädchen so ehrlich war, und übergab ihm die verlorene Spindel. Sie führte das Mädchen zu einem großen Tor. Als Dank für seine guten Dienste ließ Frau Holle Gold auf das Mädchen regnen. Das Mädchen kam zurück auf die Erde und ward wiedergeboren!“

Rabenzahn klatschte in die Hände. Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Prima, Jungs! Hab ich euch am Ende doch noch etwas beigebracht! Ihr habt mich sehr glücklich gemacht. – Somit können wir uns also der Runenkunde zuwenden!“

Die Knaben grinsten sich an und stießen ihre Fäuste gegeneinander.

„Werdet mal nicht übermütig! Ab mit euch auf eure Kammer, morgen wird ein langer Tag. Euer König hat zum Thing gerufen, wir werden dabei sein!“

„Jawohl, Meister! Gute Nacht, Meister!“, riefen die Lehrlinge wie aus einem Mund und stiegen die Treppe zu ihrer Kammer empor.

Meister Rabenzahn blickte zufrieden in das Feuer, schließlich stand er auf und blies die Kerzen aus. Auch er brauchte seinen Schlaf!

* * *

Heute war der Tag. Die Zeit der Reinigung war endlich vorbei, nun würden sie damit beginnen, seinen Körper wieder aufzubauen.

Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich, grelles Licht durchflutete den Raum und stach ihm schmerzhaft in die an die Schwärze gewöhnten Augen. Er kniff seine Lider fest zusammen. So sah er nicht, wie mehrere Schwarzkutten eintraten. Als sie seinen ausgezehrten Leib auf eine Schwebetrage betteten, stöhnte er vor Schmerzen auf.

„Alles wird gut, Bruder!“, spendete einer der Männer ihm Trost.

Vorsichtig öffnete er die Augen einen winzigen Spalt und sah sich um. Sie leiteten ihn über einen schmalen Gang. An der Decke waren in regelmäßigen Abständen Lichtröhren angebracht, links und rechts zweigten Türen ab.

Plötzlich blieben die Kuttenträger vor einer Tür stehen. Der erste von ihnen öffnete sie, die Bahre schwebte in einen riesigen Raum.

Riesige gläserne Behälter standen in dieser Halle, in ihnen schwamm eine trübe Flüssigkeit.

Ein alter Mann trat an ihn heran und blickte ihm tief in die Augen.

„Sei mir gegrüßt, Bruder! Deine Zeit ist gekommen, wir werden eine Waffe des einzig wahren Gottes aus dir schmieden. So, wie es dein Wille war! Während du hier in einem der Behälter aufgebaut wirst, sorgen wir für dich. Schließlich wirst du stark sein und mächtiger als je zuvor, und niemand wird dich aufhalten können! Halte durch, Bruder, die Rache wird unser sein!“

„Tod und Verderben den Ungläubigen!“, presste er mühsam hervor.

„Tod und Verderben den Ungläubigen!“, wiederholte der alte Priester, wandte sich ab und gab den anderen ein Zeichen.

Einige Weißkittel traten heran. Einer hielt eine Atemmaske in der Hand.

„Sie wird dich mit Luft versorgen!“, sagte er, streifte ihm das Teil über das Gesicht und fixierte es am Kopf. Jemand anderes befestigte Schläuche an ihm. Sein geschundener Körper bestand nur noch aus Haut und Knochen, ein lebendiges Skelett. Die Haut war bleich und wundgelegen.

Den Einschnitt in der Bauchdecke spürte er kaum, und auch den Schlauch, der in seinen Magen eingeführt wurde, nahm er nicht wahr. Der würde ihn mit Nahrung versorgen. Und mit Anderem, worüber er aber noch nichts wusste.

Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, fuhren die Männer ihn an den nächsten Behälter heran, hoben seinen Leib von der Trage und ließen ihn langsam in die warme Flüssigkeit gleiten.

Die Wärme beseelte seinen Körper, er trieb träge durch diesen Sirup. Jetzt wird alles gut werden, alles!

Die monatelange Qual der Reinigung hatte sich gelohnt, er würde als Krieger Gottes aus diesem Gefäß steigen, wie Phönix aus seiner Asche!


ANSUZ – Ase / Gott (Rune Odins; Rune der Inspiration)

Im Jahr des Wolfes

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