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Die Befreiung des Adlers
ОглавлениеWährend des Reichstags zu Augsburg träumte es einmal Melanchthon, der evangelische Prediger Aquila, derselbe, den Sickingen auf seiner Burg beherbergt hatte, sei in einen Sack gesteckt worden; da sei Luther gekommen und habe ihn befreit. Luther antwortete auf Melanchthons Bericht davon: »Solltest du etwas wider das Evangelium beschließen und den Adler in einen Sack stecken, kommen würde dann, ich zweifle nicht, Luther, um den Adler herrlich zu befreien.« Als er von den Zugeständnissen Melanchthons an die Katholiken durch erbitterte Freunde unterrichtet wurde, war er außer sich. »Ich berste vor Zorn und Entrüstung«, schrieb er dem getreuen Justus Jonas. »Meine Bitte ist, brecht die Unterhandlung ab und kehrt zurück. Sie haben unsere Konfession, und sie haben das Evangelium. Wollen sie es zulassen, mögen sie es tun, wollen sie es nicht, mögen sie hingehen, wo sie hingehören. Wird ein Krieg daraus, so werde er draus; wir haben genug gebeten und getan.« Es war ihm klar, daß eine Verständigung nicht möglich war, weil der Papst Unterordnung unter sein Regiment fordern würde und die Protestanten darin nicht einwilligen konnten, ohne ihren Grundgedanken, der sie unmittelbar unter Gott und die Heilige Schrift stellte, preiszugeben. So war seine Ansicht, daß man sich mit einer pax politica begnüge, das heißt, daß man gegenseitig Frieden halte und hinsichtlich des Glaubens beide Teile ihr Bekenntnis ausüben lasse. Dieser Wunsch sollte sich als eine Folge der Umstände erfüllen. Nachdem der Ausschuß, ohne etwas ausgerichtet zu haben, auseinandergegangen war, atmeten die Evangelischen auf, die mit wachsender Unruhe Melanchthons Verhalten verfolgt hatten. »So das wahr wird«, schrieb der Augsburger Arzt Gereon Sailer, »ist es um die christliche Freiheit geschehen.« Wieviel auch von Seiten der Protestanten selbst gegen die christliche Freiheit gesündigt worden war, Freiheit war doch der Kern ihres Glaubens, und sie war in Gefahr, von listigen Vogelstellern im Garne gefangen zu werden. Luther schrieb dringende Briefe an den Kurfürsten und die Freunde, worin er jedes Zugeständnis ablehnte. Der Kaiser zwar wollte durchaus zu einem Ergebnis kommen und ließ neue Verhandlungen einleiten; aber sie endeten erfolglos. Es schien nun keinen anderen Ausweg mehr zu geben als Krieg, den von Anfang an gefürchteten. Da zeigte sich wieder, daß der Zusammenhang unter den Ständen doch noch größer war als die Abhängigkeit der katholischen Stände von Papst und Kaiser: sie wollten keinen Krieg in deutschen Landen. Einige Fürsten waren persönlich untereinander befreundet, so besonders der streng katholische Herzog Heinrich von Braunschweig mit Philipp von Hessen, die Kurfürsten von Mainz, Trier, Köln mit ihm und Sachsen. Trotzdem, da die Evangelischen von jetzt ab unnachgiebig einen »friedlichen Anstand«, die pax politica, verlangten, kam es zu einem Reichstagsabschied, der unbedingte Unterwerfung von ihnen forderte. Die protestantischen Fürsten und 16 Städte lehnten den Abschied ab, darunter Augsburg und Ulm, die sich durch Kaisertreue immer ausgezeichnet hatten und denen der Entschluß nicht leicht wurde. Es war, als hätten sie die Worte aus einem Brief Gereon Sailers vernommen und zu Herzen gezogen: »Die Wiedertäufer haben recht zu sagen, daß ein Christ nicht nur gelehrt sein soll, sondern standhaft.« Zum Äußersten entschlossen, versammelten sich die protestantischen Stände – es waren Sachsen, Hessen, Ansbach, Lüneburg, Anhalt, die Grafen von Mansfeld und mehrere Städte – in Schmalkalden, einem unter hessischer und hennebergischer Hoheit stehenden Städtchen, und schlossen einen Bund zur Verteidigung mit den Waffen, falls einer von ihnen mit den Waffen sollte angegriffen werden. Dabei war der Kaiser nicht ausgenommen, wie es sonst üblich war. Der Beschluß, Einheit in den Kirchenbräuchen herzustellen, was das Bestehen einer evangelischen Kirche noch deutlicher machen sollte, kam nicht zur Ausführung; nicht mit Unrecht wandte Memmingen ein, das sei eine papistische Sitte. Angesichts der augenscheinlichen Gefahr wünschte man möglichst viele Glaubensgenossen in den Schmalkaldischen Bund aufzunehmen; sogar der Beitritt der Schweizer wurde ins Auge gefaßt unter der Bedingung, daß Zwingli in der Auffassung des Abendmahls sich Luther anschlösse; da Zwingli das ablehnte, wurde nichts daraus. Indessen die niederdeutschen Städte Lübeck und Braunschweig, zwei reiche, kraftvolle Republiken, wurden Mitglieder, sogar die entfernten nordischen Städte Riga, Reval und Dorpat suchten Anschluß. Frankreich näherte sich den Verbündeten trotz seiner dem Kaiser gegebenen Versprechungen, und der Sultan rüstete sich, um den im Reich sich vorbereitenden Bürgerkrieg auszunützen. Ohne daß es ausgesprochen wurde, waren die Erbfeinde des Reiches, Frankreich und die Türken, Bundesgenossen der Protestanten im Reich. Wiederum drückte auf Karl die Zange Frankreich und Türkei. Die Protestanten hatten auf dem Reichstage erklärt, keine Türkenhilfe leisten zu wollen, bevor ihnen nicht Friede gewährleistet sei. So mußte er sich zum Nachgeben entschließen. In Nürnberg kam im Jahre 1532 ein Religionsfriede zustande, den auch die päpstlichen Abgesandten billigten; der heranrückenden Türkengefahr gegenüber kam dem Papst jetzt selbst die Augsburger Konfession annehmbar vor, und er erinnerte sich, daß die Lutheraner doch auch Christen seien. Der Kaiser erließ einen Befehl, daß bis zum Konzil, oder falls dies binnen Jahresfrist nicht zustande käme, bis zum nächsten Reichstage, die Stände der Religion und anderer Gründe wegen einander nicht bekriegen, berauben, verfolgen, überziehen und belagern sollten. In einem besonderen Mandat versprach er dazu noch die Einstellung aller in den Religionssachen gegen die Protestanten anhängigen Prozesse. Sofort erntete Karl den Lohn für sein Einlenken; seit vielen Jahren war kein so starkes Heer gegen die Türken zusammengebracht, wie es jetzt geschah. Nürnberg stellte freiwillig doppelt so viel Truppen als seine Veranschlagung vorschrieb, und in ähnlicher Weise beeiferten sich gerade die Evangelischen alle zu zeigen, daß, wenn sie Gott mehr gehorchten als dem Kaiser, sie doch dem Kaiser das Seine zu geben von Herzen bereit wären. Angesichts dieser großartigen Einigkeit und Bereitschaft des Reiches wagte Suleiman seinen so pomphaft angekündigten Angriff nicht und trat den Rückzug an, es kam nicht zur Schlacht, die die beiden habsburgischen Brüder, schon in Wien harrend, selbst anzuführen willens waren. Nicht mehr dies Kriegsglück, wohl aber den Religionsfrieden erlebte Kurfürst Johann noch; er starb kurze Zeit, nachdem derselbe beschlossen war. Es war dem wahrhaft frommen und treuherzigen Fürsten vergönnt, in Frieden nicht nur mit Gott, sondern auch mit seinem Kaiser dahinzugehen, und das Reich, für das sich kaum einer unter den Fürsten mit solchem Ernst verantwortlich gefühlt hatte, in einmütiger Wirksamkeit zu sehen, bevor er es verließ.
Als Luther sich entschloß, seinen Grundsatz, das Wort dürfe nicht mit den Waffen verteidigt werden und die Fürsten wären dem Kaiser zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, aufzugeben, war es, als sei eine Fessel von ihm abgefallen. In einer »Warnung an seine lieben Deutschen« sagte er, wenn es zum Kriege oder zum Aufruhr komme, wolle er seine Feder ruhen lassen und sich nicht im geringsten so dareinmischen, wie er im Bauernaufruhr getan habe. Den Fürsten gewährte er, was er den Bauern versagt hatte; eine bittere Erinnerung, die ihn aber nicht irremachte. Nachdem er den selbstauferlegten Zwang abgeschüttelt hatte, brach er los wie ein dem Käfig entsprungenes Raubtier, das mit Lust nach allen Seiten springt, schlägt und beißt. In seiner Glosse auf das vermeintliche kaiserliche Edikt vergleicht er, aufgebracht darüber, daß in diesem Edikt seine Lehre vom verknechteten Willen viehisch genannt worden war, die Verfasser desselben mit Säuen, die auf ihrem Reichstage beschließen: Wie Säue gebieten, daß niemand halten soll, daß Muskaten edle Würze sei, was sie aber sei, das wissen wir nicht, und spricht weiterhin unbefangen von den hochgelehrten und durchlauchtigsten Säuen zu Augsburg.
Luther war kein systematischer Denker und nicht immer folgerichtig im Handeln. Er war sehr abhängig von augenblicklichen Eindrücken und vergaß zuweilen ganz und gar, was er früher gesagt und gewollt hatte. Er hat sich oft selbst widersprochen und hat sich wohl aus persönlicher Abneigung in irgendeiner Richtung verrannt. So verurteilte er anfänglich die Hinrichtung von Ketzern, mißbilligte auch die in protestantischen Ländern vorgenommene Hinrichtung der Wiedertäufer. »Es ist mir wahrlich leid«, sagte er, »daß man sie so jämmerlich ermorde, verbrenne und greulich umbringe.« Später ging er nicht ohne sophistische Begründung davon ab. Wenn es dankenswert ist, daß er der Wahrheit nicht durch ein System Eintrag tat, so war es doch nicht unbedenklich, daß er, in seiner maßgebenden Stellung, sich zuweilen durch Stimmungen und wechselnde Eindrücke leiten ließ. Beschämen aber nicht jeden Ankläger seine übermenschlichen Leistungen, sein großes, liebeströmendes Herz, die Fülle seines Geistes, sein hoher Mut und die Qualen, die er sich mit Selbstanklagen zufügte?
Wenn man das Jugendbildnis Luthers mit seinen Altersbildnissen vergleicht, so treten einem zwei verschiedene Menschen entgegen. Das junge Haupt umhüllt ein schicksalvolles Geheimnis, die Welt ist für ihn nicht da, er hält Zwiesprache mit seinem Genius. Er hat die tiefen Augen, aus denen Professor Pollich weissagte, dieser Mensch werde wunderbare Phantasien haben. Es ist das Bild eines Träumers, der auf der Schwelle großer Taten steht. Wie anders der Mann und der Greis, der die Taten getan hat. Das aufgeschwemmte Gesicht ist hart und grob geworden, hart und grob auch der Ausdruck. Seltsam müssen in dem fleischigen und zugleich harten Gesicht die immer noch dämonischen Augen gewirkt haben, deren flackernde Glut dem päpstlichen Nuntius Vergerio auffiel, der im Jahre 1535 nach Wittenberg kam, um zu erforschen, ob die Protestanten ein vom Papst berufenes Konzil besuchen würden. Daß der Antichrist den Häresiarchen zu einem Konzil einlud, regte Luthers Humor an; da er überzeugt war, das Konzil werde nicht zustande kommen, überließ er sich sorglos seiner guten Laune. »Herr Doktor, wie kommt es, daß Ihr Euch so früh wollt barbieren lassen?« fragte der Barbier. »Ich soll«, lautete die Antwort, »zu des Heiligen Vaters, des Papstes, Botschafter kommen, so muß ich mich lassen schmücken, daß ich jung scheine, so wird der Legat denken: ei der Teufel, ist der Luther noch so jung und hat soviel Unheil angerichtet, was wird er denn noch tun!« Als dann Luther seine besten Kleider anzog und ein goldenes Kleinod umhing, sagte der Barbier: »Herr Doktor, das wird ihn ärgern.« »Darum tue ich es auch«, erwiderte Luther, »man muß mit den Schlangen und Füchsen also handeln und umgehen.« Wirklich gelang es Luther, den Legaten durch bestialische Frechheit, wie dieser sagte, verbis verdrieslicissimis, wie Luther es ausdrückte, gehörig zu ärgern. Kurze Zeit darauf trat ein Ereignis ein, das für Luther persönlich sich tief verstimmend und auf seine Sache sehr schädlich auswirkte.
Landgraf Philipp war mit einer Tochter des Herzogs Georg von Sachsen verheiratet, von der er mehrere, ungewöhnlich tüchtige Kinder hatte, die er aber, ungeachtet aufrichtiger Hochachtung, nicht liebte. Er gewöhnte sich deshalb an außereheliche Beziehungen, rechnete sich das aber so sehr als Schuld an, daß er jahrelang nicht das Abendmahl zu nehmen wagte. Als es nun dazu kam, daß er sich ernstlich in ein Hoffräulein verliebte, das ohne Heirat nicht die Seine werden wollte, erinnerte er sich einer gelegentlichen Bemerkung Luthers, nach der Bibel sei Vielweiberei nicht verboten, und gründete darauf den Plan, sich die Geliebte als Nebenfrau antrauen zu lassen. Er betrieb die Angelegenheit mit dem Ungestüm und der liebenswürdigen Ehrlichkeit, die ihm eigen war, und brachte Luther dahin, ihm die Erlaubnis zur Doppelehe zu erteilen, in der Art, wie wohl die Päpste den Fürsten in ihren Eheschwierigkeiten behilflich waren. Es wurde Luther nicht leicht, sich zum Bürgen für eine Sache zu machen, gegen die zwar vom Buchstaben der Heiligen Schrift aus nichts einzuwenden war, die aber doch berechtigten Anstoß erregen mußte; was ihn bewog, sich dazu herzugeben, war seine Zuneigung für Philipp, hauptsächlich aber dessen Drohung, er werde sich an den Papst wenden, wenn der Reformator ihm Hilfe verweigere. So schnell schlug der Landgraf in den Wind, daß er noch kürzlich seine Habe und sein Leben an seinen Glauben hatte setzen wollen und entrüstet war, wenn andere sich etwas vorsichtiger zurückhielten. Luther glaubte dem Unheil dadurch die Spitze abbrechen zu können, daß er die Bedingung stellte, es dürfe von dem Vorgang nichts in die Öffentlichkeit dringen; als er trotzdem sofort bekannt wurde, und Luther und mit ihm Melanchthon aufs schlimmste bloßgestellt wurden, verwickelte er sich immer tiefer in Unrecht, indem er von Philipp verlangte, er solle das Geschehene ableugnen, so daß der Landgraf, der sich entrüstet weigerte zu lügen, ehrenhafter dastand als der Reformator: Es war etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen war. Die Feinde triumphierten über den sittlichen Fall der Gegner, und der Zweck, um deswillen der falsche Schritt getan war, wurde nicht erreicht. Gerade damals hatte der Landgraf das neue kaiserliche Strafgesetzbuch, die Carolina, in Hessen eingeführt, das auf Bigamie die Todesstrafe setzte; es mag den freudigen Fürsten ein Schauder überlaufen haben, als ihm klar wurde, wohin seine Doppelehe ihn führen könnte. Dem Kaiser war es eher, als den Theologen zu verzeihen, wenn er über dem Unrecht ein Auge zudrückte, um es staatsmännisch auszunutzen. Für ihn war es ein Glück, daß in den Schmalkaldischen Bund ein auflösendes Gift getropft war. Philipp, der vor einigen Jahren mit Zwingli einen Weltbund aller Evangelischen geplant hatte, versprach jetzt dem Kaiser, nicht zu dulden, daß außerdeutsche Mächte in den Schmalkaldischen Bund aufgenommen würden, so daß der Anschluß Englands, Schwedens, Dänemarks unterbleiben mußte, und der Herzog von Cleve, der im Begriff war, sein Land zu reformieren, wurde preisgegeben, wodurch ein großes und wichtiges Gebiet am Niederrhein den Protestanten verlorenging. Immerhin breitete sich die Reformation weiter und weiter aus. Durch den Tod Georgs von Sachsen, ihres erbittertsten und zugleich tüchtigsten Gegners unter den deutschen Fürsten, ging das Herzogtum Sachsen an seinen evangelischen Bruder über, auf dieselbe Art wurden Pfalz und Brandenburg evangelisch. Durch einen strammen Kriegszug führte Philipp von Hessen den vertriebenen Herzog Ulrich nach Württemberg zurück, der in der Verbannung Protestant geworden war und sein Land sofort reformierte. Als der Erzbischof von Köln, Hermann von Wied, die Reformation in seinem Lande einzuführen beschloß, wenn auch im Gegensatz zu Domkapitel und Universität, hatte es den Anschein, als sollte ganz Deutschland für den neuen Glauben gewonnen werden. Auch in Bayern, und namentlich in Österreich, hatten sich viele vom Adel ihm zugewendet.
Dieser Sieg des Evangeliums hätte den alten Reformator befriedigen können, blickten doch alle, Feinde wie Freunde, auf ihn als den Meister des Werks. Das Werk aber war, während es sich ausbreitete, im Innern nicht gereift. Die Klage über Unsittlichkeit und Roheit in den evangelischen Gebieten war allgemein. Augenscheinlich hatte die Auflösung der altgewohnten kirchlichen Aufsicht zu einem Ausbruch sinnlicher Ausgelassenheit geführt, der die früheren Ausschreitungen weit übertraf. Neben den groben Lastern erschreckte die unmäßige Geldgier, daß jeder alles an sich reißen und für sich allein haben wollte, und die Zunahme der Glaubenslosigkeit. Trotz des vielen Predigens wandte sich das Volk in allen Schichten vom Himmel ab und der Welt zu. Die Geistlichen waren verachtet und verhaßt; könnte man sie Hungers sterben lassen, sagte Luther, so täte man's am allerwilligsten, könnte man sie zum Lande hinausjagen, so täte man's noch lieber. Wenn die Leute von Gott hörten, achteten sie es so viel, als wäre es eines Gauklers Märlein, sie schlügen das Evangelium in den Wind, als habe es nicht die hohe Majestät vom Himmel, sondern irgendein Schuster gesagt. Es war von den Kanzeln so viel über die Betrügerei der Pfaffen gepredigt, daß man nun Kirche und Religion miteinander für einen Trug zur Unterdrückung des Volkes hielt. Luther, der geglaubt hatte, der Christenheit und insbesondere den Deutschen mit dem Evangelium ein überschwenglich kostbares Geschenk zu machen, erklärte sich die Undankbarkeit, der er begegnete, durch die rohe Gefühllosigkeit der Deutschen. Von den Bauern hatte er niemals viel gehalten, ebensowenig von den Fürsten, nun verwarf er die Deutschen alle miteinander: die barbarische, wahrhaft bestialische Nation, die schändlichen heillosen Säue, halb Teufel, halb Mensch. Dennoch war es sein Volk, und wenn er es nicht geliebt und sich für es verantwortlich gefühlt hätte, würde ihn der Anblick seiner Entartung nicht so tief geschmerzt haben. Die Bemerkung der Bibel, daß das Ende der Zeiten sich durch das Überhandnehmen aller Laster anzeige, bestärkte ihn, wie auch andere, in dem Vorgefühl eines nahen Unterganges. So war es, sagt er, vor der babylonischen Gefangenschaft, so vor der Zerstörung Jerusalems, so vor der Verwüstung Roms. Er, der den Untergang des mittelalterlichen Reiches hatte aufhalten wollen, hatte ihn wider seinen Willen gefördert und brach unter seinen Trümmern zusammen.
Besonders erbittert war Luther über die Fürsten, die er, wie er selbst sagte, zu Göttern gemacht hatte und die ihre durch ihn vermehrte Macht und ihr Ansehen nicht benutzten, um ihren Untertanen ein gutes Beispiel zu geben, um sie zu erziehen, sondern um sie zu schätzen, so daß die meisten Fürstentümer nichts anderes wären als Rentereien und Zollhäuser. Als es sich einmal um ein Bündnis mit Heinrich VIII., dem König von England, handelte, schrieb Butzer an Philipp von Hessen: »Der König ist, wie er ist, und andere Fürsten sind auch, wie sie sind.« Das sollte heißen: sie taugen allesamt nichts, wollte man sie nach einem moralischen Maßstab beurteilen wie andere Menschen, könnte man sich überhaupt mit keinem einlassen. Fast ohne Ausnahme waren die protestantischen Fürsten dem Trunk ergeben, es kam vor, daß sich einer buchstäblich zu Tode soff. Luther mußte es erleben, daß sich sogar der kursächsische Hof übler Nachrede aussetzte. Auf Johann den Beständigen, den von allen Verehrten, folgte sein Sohn Johann Friedrich, mit dessen geistiger Plumpheit schon sein Lehrer Spalatin nicht hatte fertig werden können. Sein Vetter Moritz nannte ihn die dicke Hoffart. Luther machte kein Hehl daraus, daß er ihn für einen Esel hielt. Gottes Wunder erben nicht, so übersetzte Luther das lateinische Wort, daß die Söhne der Heroen entarten. Luthers Urteil, mit Friedrich sei die Weisheit, mit Johann die Frömmigkeit dahingegangen, ist um so auffallender, als Johann Friedrich, im Luthertum aufgewachsen und erzogen, dem neuen Glauben mit besonderem Nachdruck und unentwegter Treue anhing; aber es machte sich bemerkbar, daß seiner Gläubigkeit ein guter Teil Starrsinn und Beschränktheit beigemischt war. Er regierte zuweilen mit der Faust sowohl in die Religion wie in die damals so subtile Politik hinein. Im allgemeinen war das Luthertum, nachdem es zwanzig Jahre bestanden hatte, zu einer festen Einrichtung geworden, mit politischen und sozialen Dingen verknüpft, an der mit mehr Selbstverständlichkeit, aber mit weniger Glaubensinnigkeit festgehalten wurde als früher. Gab es auch viel Fromme, denen es ein Bedürfnis war, sich in die Bibel zu vertiefen, so war doch das Evangelium und das Wort Gottes, das beständig im Munde geführt wurde, ein Schlagwort geworden, bei dem die meisten nichts mehr als ihr Parteibewußtsein empfanden. Auch die sich mehrenden theologischen Streitigkeiten über die Lehrbegriffe gingen mehr aus Gelehrteneitelkeit und Rechthaberei hervor als aus Liebe zur Wahrheit. Auf den alternden Luther drückte die ungeheure Arbeitslast mehr als früher. Schon im Jahre 1519 klagte er einmal gegen Spalatin, der eine Abhandlung über irgendeine theologische Frage von ihm verlangte, über Überbürdung: er habe Vorlesungen an der Universität und Predigten in der Kirche zu halten, seine Bibelübersetzung zu fördern und eine Menge Briefe an fremde Leute zu schreiben, die sich an ihn wendeten. »Ich bin doch wirklich bloß ein Mensch, ein einzelner Mensch«, schrieb er damals. Wie hatten sich inzwischen die Ansprüche vervielfacht! Wer ist schwach und ich werde nicht schwach, wer wird geärgert und ich brenne nicht, konnte er mit dem Apostel sagen. Nicht nur einzelne wollten Ratschläge und Tröstungen von ihm, Fürsten, Magistrate, Theologen, fast ganz Deutschland bestürmte ihn mit Fragen und Bitten. Dazu kamen Verwaltungsgeschäfte, immer noch Übersetzungen, Gutachten und eine umfassende schriftstellerische Tätigkeit, darunter Streitschriften, die zum Teil seine eigene Leidenschaftlichkeit veranlaßte. Wegen einer verschiedenen Meinung über eine Frage im kanonischen Recht verlor er einen seiner ältesten Freunde, Hieronymus Schurf. Agricola, mit dem er sich im sogenannten Antinomistenstreit entzweite – er wollte, daß weniger das Gesetz als das Evangelium gepredigt werde –, war ein neuerer Freund, aber ein guter Gesellschafter und zusammen mit seiner Frau ein ihm angenehmer, erheiternder Umgang. Luther hatte sicherlich recht, es der Eitelkeit, Eigenbrötelei zuzuschreiben, daß jeder Theologe seine besondere Lehre vorbringen wollte; aber eine gewisse Bewegungsfreiheit hätte gerade er doch auch der Eigenart eines jeden zugestehen sollen. Den durch die Wittenberger Konkordie beruhigten Abendmahlsstreit fachte er von neuem an und verdammte Zwingli in die Hölle, den er damals einen trefflichen Mann genannt hatte.
Weit bitterer als der Verlust von Schurf und Agricola war das seltsam gespannte Verhältnis zu Melanchthon, der sich innerlich fast ganz von ihm gelöst hatte und für die Welt doch sein unzertrennlicher Gefährte bleiben mußte. Er war zum berühmten und zum einflußreichen Manne geworden auf einer Bahn, die ihm eigentlich unheimisch war, die er nun aber nicht verlassen konnte, ohne zahllose Fäden zu zerreißen, auch die, welche ihn selbst ans Leben knüpften. Durch seine Beziehung zu Luther und als Verfasser der loci communes und der Augustana war er so verkettet mit der Reformation, daß er sich nicht hätte zurückziehen können, ohne ihr und sich selbst unberechenbaren Schaden zuzufügen. Das konnte er um so weniger wollen, als er, wenn er auch gern den Zusammenhang mit der Kirche festgehalten hätte, doch von der evangelischen Wahrheit überzeugt war. Er war ein frommer Mann im Sinne des Erasmus, der christlichen Lehre von Herzen zugetan, hauptsächlich ihrer friedlichen Seite; aber Luthers Ringen um die letzten Geheimnisse war ihm fremd, und seine Zwiesprache mit Gott verstand er nicht. Insgeheim neigte er zu Zwinglis Auffassung vom Abendmahl, was er vor Luther verheimlichte. Die gehässigen theologischen Streitigkeiten, oft Tüfteleien und Absurditäten, gewürzt durch das grobe, unflätige Schimpfen, das Luther in die Polemik eingeführt hatte, waren ihm widerwärtig. Wie sehr er aber unter der Sklaverei litt, in der er sich verfangen hatte, hörte er doch nicht auf, Luthers schöpferische Kraft und seine mächtige Persönlichkeit zu bewundern, und konnte nicht verkennen, wie Luther an ihm hing. Bedenkt man, wie rücksichtslos, ja wie grausam Luther oft gegen die verfuhr, die ihm widersprachen oder ihn sonst reizten, so staunt man über die Zartheit, mit der er Melanchthon behandelte. Es tat ihm wohl leid, daß jenem die Sicherheit des Glaubens fehlte; aber er machte ihm keinen Vorwurf daraus und litt auch nicht, daß andere es taten, selbst nicht, als auf dem Reichstage zu Augsburg Melanchthons Unsicherheit sehr ärgerliche Folgen bewirkte. Als bei Gelegenheit des Abendmahlsstreites das Gerede ging, Luther bereite einen groben schriftlichen Angriff auf Melanchthon vor, und dieser, das Ärgste fürchtend, einen Brief von ihm kaum zu öffnen wagte, enthielt er eine Einladung zur Geburtstagsfeier. Luthers Anhänglichkeit war um so auffallender, als sein treuer Freund und Gefolgsmann Amsdorff eine Abneigung gegen Melanchthon hatte und ihn beständig verdächtigte, insofern nicht mit Unrecht, als Melanchthon in der Tat sich von Luthers Ansichten entfernt hatte. Melanchthon machte sich Luft in Briefen an seinen Freund Camerarius, der seine eigentlichen, die humanistischen Interessen teilte; in seinen Äußerungen über Luther klingt es zuweilen wie ohnmächtiger Haß. Ihm gegenüber erscheint Luther großmütiger; vielleicht empfand er das Tragische ihrer Freundschaft, vielleicht hatte er ihn zu sehr geliebt, um eine ausgesprochene Trennung ertragen zu können. Er lebte in den letzten Jahren, besonders seit ihm 1542 sein Töchterchen Magdalena gestorben war, in schrecklicher Einsamkeit. Der Tod hatte viele seiner Feinde gefällt: Zwingli, Herzog Georg von Sachsen, Papst Clemens VII., Erasmus; nun langte er nach seinem Liebling, als wollte er sagen: du bist nicht mehr wert als jene. Ich bin alt, kalt und ungestalt, pflegte er zu klagen. Seine ungeheure Arbeitskraft fing an zu erlahmen, die Krankheitsanfälle, an denen er zeitlebens gelitten hatte, suchten ihn immer häufiger heim; aber wie eine Ruine oft stärkere Eindrücke von Schönheit und Größe vermittelt als das vollendete Bauwerk, so bewegt uns auch der verdüsterte und ermüdete Heros mehr fast als der jugendlich stürmende. Der wachsende und handelnde war auf Ziele gerichtet, zusammengefaßt, durch die Umwelt, die ihn umgab, und die er bekämpfte oder für die er einstand, beschränkt; als das mächtige Gefäß langsam und mühsam zerbrach und die Seele sich verströmte, spürte man, welches Übermaß von Kräften darin gebannt gewesen war. Oft waren seine Worte, ein schwermütiges, träumerisch schweifendes Phantasieren, von süßer Zärtlichkeit durchtränkt. Häufiger noch äußerte sich seine Verdrießlichkeit und seine nie erlöschende Kampflust.
Als brauchte er einen neuen Gegenstand des Zornes, nachdem der Papst endgültig aus dem Felde geschlagen schien, fing er einen Feldzug gegen die Juden an. In seiner Frühzeit hatte er sich in der Schrift »Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei« mit Wärme der Juden angenommen, ihre Verteidigung in die Bekämpfung des Papsttums einreihend. Die Päpste und Bischöfe, die groben Eselsköpfe, sagte er, hätten bisher so gegen die Juden verfahren, daß ein guter Christ darüber wohl hätte zum Juden werden mögen. »Und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Knebel gesehen die Christenheit regieren, so wäre ich wohl eher eine Sau worden denn ein Christ.« Sie hätten die Juden behandelt, als wären sie Hunde, nicht Menschen, hätten sie gescholten und ihnen ihr Gut genommen, und den Getauften hätte man kein christliches Leben gewiesen, sondern sie der Papisterei und Möncherei unterworfen. Hätten die Apostel, die auch Juden waren, mit uns Heiden gehandelt wie wir mit den Juden, so wären nie Christen aus den Heiden geworden. »Haben sie denn mit uns Heiden brüderlich gehandelt, so sollen wir wiederum brüderlich mit den Juden handeln, ob wir etliche bekehren möchten: denn wir sind auch selb noch nicht alle hinan, schweig denn hinüber.« Er ging so weit, das Volk der Juden über alle anderen Völker zu stellen, weil Gott in ihm Fleisch geworden sei. »Und wenn wir gleich hoch uns rühmen, so sind wir dennoch Heiden und die Juden von dem Geblüt Christi: wir sind Schwäger und Fremdlinge, sie sind Blutfreund, Vettern und Brüder unseres Herrn.« In späteren Jahren wurde er anderen Sinnes, wozu vielleicht beitrug, daß König Ferdinand in seinen Ländern die Juden beschützte, während er die Protestanten verfolgte. Damals hoffte er, daß einige sich bekehren möchten, jetzt war er zornig, weil sich noch nicht alle bekehrt hatten. Im Jahre 1536 wies Johann Friedrich alle Juden aus dem Kurstaat aus, ohne daß Luther es zu hindern suchte. Als einer seiner Tischgenossen sagte, die Juden seien gute Ärzte und zu allem zu brauchen, entgegnete er, das hätten sie vom Teufel. Der Graf von Mansfeld hatte, um sich eine Einnahme zu verschaffen, Juden in seinem Gebiet, Luthers Heimat, aufgenommen, wünschte sie aber nach einiger Zeit wieder loszuwerden, weil die Untertanen sich über Wucher beklagten. Nun schrieb Luther ein Buch »Von den Juden und ihren Lügen«, in dem er geradezu zu einer Judenverfolgung aufforderte. Man sollte, riet er, ihre Synagogen und Häuser zerstören, ihnen ihre Bücher nehmen und ihren Rabbinern verbieten zu lehren. Er hatte vergessen, daß er sich einst gerühmt hatte, zu den Reuchlinisten zu gehören. Auf seiner letzten Reise nach Mansfeld, wo er einen Streit der beiden Mansfelder Grafen schlichten wollte, begleitete ihn diese neue Verfolgungswut. Er erzählte seiner Käte, daß eine Gräfin von Mansfeld die Juden beschütze, daß er aber seine Meinung gröblich sagen wolle. Daneben bemühte er sich, die streitenden Brüder zu versöhnen, was so schwierig war, daß er meinte, die ganze Welt müsse frei von Teufeln sein, da sie alle seinetwegen in Eisleben zusammengekommen wären. So leidenschaftlich geschäftig, fühlte er sich doch im Innern alt, kalt und müde. »Ich habe mich satt gelebt«, schreibt er. Seine Angehörigen und Freunde umgibt der Zornige, an sich und aller Welt Verzweifelnde mit der besonderen Mischung von liebkosender Wärme und herzlichem Humor, die den Luther verrät. Als er erkrankte und starb, waren sich alle der Größe des Augenblicks bewußt. Dieser Tod erschütterte die protestantische, ja die christliche Welt. Nie zuvor hatte ein Deutscher so mächtig auf die geistige Entwicklung des Abendlandes gewirkt.
»Ich kann kaum den Augenblick erwarten«, schrieb Luther im Mai 1530 an Melanchthon, »wo ich diesen meinen Geist mit gewaltiger Nacht und mit göttlicher Majestät umkleidet sehen soll.« Noch sechzehn Jahre hatte er in Kampf und Schwäche und Ungenügen ausharren müssen; nun war der Adler befreit. Das Netz menschlicher Gebrechlichkeit war zerrissen, groß und gut zog der Überwinder in das Geisterreich ein.