Читать книгу Perlen vor die Schweine - Rich Schwab - Страница 4
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Irgendwo da draußen
Es kommt von irgendwo da draußen. Ein murmelndes Rauschen, unterlegt von einem tiefen, unterirdisch anmutenden Grollen. Es rückt näher, steigt langsam an, baut sich auf, bis es sich fast überschlägt. Zieht durch die feuchten Schläfen, über die Stirn hinweg, während das Grollen mitten durch den Bauch rumpelt; dann beruhigt sich die Welle, verklingt, verschwindet. Fast ist das schmatzende, schlürfende Flüstern zu vernehmen, mit dem sich die mit feinem Schaum gesäumten Wellen vom Strand zurückziehen, widerwillig, mit dem gezischten, beinahe feindseligen Versprechen wiederzukommen. Fast ist das Trippeln der Sandläufer zu hören, die aus ihren winzigen Höhlen kommen – schnell etwas zu futtern ergattern, bevor die nächste Woge kommt! –, das Schleifen der Feuerquallenbäuche auf dem feinen Sand; da ist das Klatschen der Rückflut an den Felsen, das knirschende Aneinandermahlen glatt gewaschener Steine, ein Klicken und Klacken wie ein Ballett herrenloser Gebisse, darüber der ruhelose Flügelschlag und das ätzend spottende Krächzen der Möwen. Doch da kündigt sich schon die nächste Woge an, rollt herein, gleichzeitig beruhigend und bedrohlich, bringt einen Luftzug mit, einen Windhauch, der nach Salz zu schmecken scheint, nach Algen, Fisch und Teer, nach Afrika, nach Schweißperlen und Kokospalmen.
Schweiß stimmt. Teer auch. Aber es ist nur die Brandung der Bonner Straße, morgens um halb sechs, und ihr Rhythmus wird gestört von Polizeisirenen, dem Laster mit Schokoladenweihnachtsmännern und Überraschungseiern, der drüben vor dem Stüssgen-Markt rangiert, und der rollenden Disco von Bergmann’s Theo, der wegen seines obligaten Katers mal wieder nicht in die Gänge kommt mit seinem Transit voller Sesam-, Mohn- und Rosinenbrötchen, ohne dass ihm Tony Marshalls Schöne Maid mit dreihundert Watt auf die Sprünge hilft; und der Schweiß ist der eigene, muffig, fischig, mit den Bierresten von dem Besäufnis von vorgestern und der Schärfe der Albträume einer ersten Entzugsnacht – in Sauer liegen, wie die Friesen es so passend nennen.
Es braucht eine halbe Ewigkeit, zu beschließen, ruhig mal aufstehen zu können und herauszufinden, welche Tageszeit es ist. Ob überhaupt schon Tag ist. Oder noch? Endlich aufzustehen, zum Fenster zu gehen und den Vorhang beiseite zu schieben. Orchideen. Blassviolett und königsblau, purpurn und sonnenuntergangsorange auf Gauguin-grünem Untergrund. Früher mal. Jetzt sind sie alle bräunlich verschleiert von dem Nikotinfilm, der die ganze Zwei-Zimmer-Bude bedeckt, dass sie bei jedem Licht aussieht wie ein Foto aus den Tagen, als James Marshal den ersten Klumpen Gold an Augustus Sutters Mühle fand, 1848. Zum wiederholten Mal der Versuch sich vorzustellen, wie es damals hier ausgesehen haben mochte – da gegenüber sich nicht hundert Meter Schaufenster mit Badewannen, blitzenden Armaturen und Klosettbecken, sondern Weingärten, Obstbäume, Felder mit Kopfsalat, Kartoffeln und Steckrüben erstreckten. Ein Trüppchen Mönche vom Severinskloster und Nonnen vom Kartäuserhof, das müde hinter einem Eselskarren her schlurft, begleitet von zwei, drei mageren, alle paar Schritte mit Flöhen kämpfenden Kötern und von einem widerwillig mehr gebrummten als gesungenen, schlaftrunkenen Lobet den Herrn. Aber vielleicht sind sie auch ein bisschen fröhlicher und singen, in sicherem Abstand von Zelle, Abt und Gott:
Ein Leben wie im Paradies
Gewährt uns Vater Rhein
Ich geb’ es zu: Ein Kuss ist süß
Doch süßer ist der Wein
Die Erde wär’ ein Jammertal
Voll Grillensang und Gicht
Wüchs’ uns zur Lind’rung unsrer Qual
Der edle Rheinwein nicht …
Einer der Mönche tritt gegen ein Apfelbäumchen, die Nonnen springen hinzu und sammeln die heruntergefallenen Früchte ein, und bevor sie alle an die mühselige Feldarbeit gehen, setzen sie sich in den Schatten des Karrens, albern ein bisschen herum und kauen schmatzend ihr Frühstück. Dann und wann wirft vielleicht mal einer eine Apfelkitsche in eine fremde Kutte, wo sie dann unter Gekicher und Gequietsche vier- oder gar sechshändig wieder hervorgekramt werden muss, und von drüben, von der anderen Rheinseite taucht die aufgehende Sonne den Apfelgarten in goldenes Licht. Und, weiter im Norden, den seit bald vierhundert Jahren halb fertigen Dom.
Was wissen die denn schon, dass bald hundertfünfzig Jahre später jemand den Saft aus ihren Äpfeln mit Korn, Rum und Cointreau mischen und davon mindestens viermal die Woche so besoffen sein wird, dass er nicht mehr weiß, wie er vorgestern nach Hause gekommen ist? Und dass er, weil es gestern keinen Apfelkorn, überhaupt keinen Alkohol gab, sich die ganze Nacht in verschwitzten Laken hin und her wälzen musste, in einem taumeligen Auf und Ab von Albträumen und Zukunftsängsten, verworrenen Erinnerungen an andere, schönere Nächte und noch verworreneren Plänen für ein möglichst besseres Morgen?
Ach du Scheiße – morgen! Morgen wird natürlich ein besserer Tag sein, schließlich ist morgen Heiligabend! Weihnachten neunzehnhundertachtzig. Weihnachten! Das Fest der Freude und der Liebe! Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Ihr Kinderlein kommet und süßer die Glocken!
Scheiße.
Ich drehte mir eine Kippe und beschloss, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Vielleicht nicht direkt nach dieser hier – aber vielleicht, wenn das Päckchen alle war. Oder die beiden anderen, die – für alle Fälle – in dem Köcher mit den Schlagzeugstöcken steckten. Oder jedenfalls spätestens dann, wenn ich herausgefunden hatte, wer dafür verantwortlich war, dass Kathrinchen mit eingeschlagenem Jochbein, zwei fehlenden Zähnen, ein paar Brandwunden, einem gebrochenen Arm, drei gebrochenen Rippen und hässlichen Rissen an den Schamlippen im Klösterchen gelandet ist. In dem gekühlten Raum im zweiten Kellergeschoss, mausetot.