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Rabotti

Mann, hatte ich eine Woche hinter mir! Beim Pinkeln wäre ich fast vornüber gekippt. Meine Zunge schmeckte, als hätte ich die halbe Nacht am Abflussrohr eines Brauhauses geleckt. Und wahrscheinlich auch an dem bröckligen Mörtel drum herum – mein Gaumen war trocken wie Tante Friedas Sandkuchen. Nach einem ordentlichen Schwall kaltem Wasser fühlte es sich ein bisschen besser an, aber an dem Geschmack änderte das auch nichts.

Ich beguckte mir ein Weilchen das Gesicht in meinem Spiegel. Wir sahen aus wie ein und derselbe Typ, aber das waren wir auf keinen Fall. Beschlossen wir eben Kumpels zu werden und putzten uns gemeinsam die Zähne.

Was für ’ne beschissene Woche!, knurrte er blubbernd und schüttelte angeekelt den Kopf.

Autsch! Nich’ so heftig!, erwiderte ich mit Schaum vorm Mund. Musste ihm freilich recht geben und versuchte, die letzten Tage zu rekapitulieren. Einfach kapitulieren, ohne Kontra, ohne Re, wär’ auch nich’ schlecht, dachte ich. Einfach wieder in die Kiste hauen, Decke über’n Kopp, Augen und Ohren zu, und warten, bis mehr als nur sechzig Prozent von einem meinen, wieder in die Gänge kommen zu müssen, es wagen zu können, sich der gierig quengelnden Welt da draußen zu stellen.

Wider besseres Wissen – war ja nicht der erste Versuch gewesen –, aber eben auch, weil ich, pleite wie lange nicht mehr, kaum eine Wahl hatte, war ich vorletztes Wochenende mit einer Snare, einem Bündel Knüppel und einem Satz eigener Becken im Gepäck nach Hinderup gereist – nach drei Stunden Zugfahrt Umsteigen in Osnabrück, eine halbe Stunde Bummelzug, in Espelkamp fast eine Stunde Warten auf einen Überlandbus, der mich nach einer weiteren halben Stunde in Brödershof hatte stehen lassen, von wo ich dann aus einer Telefonzelle Bescheid geben konnte, damit mich jemand abholen käme.

Ich war’s ja nun wirklich gewohnt, über Land zu gurken, vor allem in Gefährten, die stinken, schaukeln und nicht gerade flott vorankommen, und auch auf dieser Fahrt hätte man schön seinen alten Ross McDonald lesen und sich mit Lew Archer amüsieren können, zwischendurch vielleicht ein bisschen Leute und Landschaft gucken – immerhin war die Deutsche Märchenstraße nicht weit – oder einfach nur vor sich hin dösen und über das komische Leben meditieren …

Aber apropos Leute und komisches Leben – oder auch umgekehrt – leider stand da auf dem, was in Espelkamp als Marktplatz durchging, an der Bushaltestelle dieser Freak. Rabotti hatte ihm eine fürsorgliche Freundin in fettem Knatschrosa auf eine dunkelblaue Wollmütze gestickt. Karottenhosen an spindeldürren Beinen, aber schwere Malocherstiefel, ungefähr drei T-Shirts übereinander, das oberste eins von, ausgerechnet, Grobschnitt, und eine verwaschen grüne bayrische Trachtenjacke, von oben bis unten vollgepappt mit bunten Buttons à la Ich war bei Pink Pop!, Rock gegen Rechts, Legalize It! und so weiter. Das Beste war noch Atomkraft? Nein danke!, woraus jemand mit lila Filzstift Schwerkraft? Nein danke! gemacht hatte. Zwischen den Stiefeln klemmte eine verschlissene braune Aktentasche.

»Ey – ich kenn’ dich irgendwo her, Ollen«, sprach er mich an. Es gibt so Typen, da weißt du gleich, wenn du auch nur »Tach« sagst, hast du sie an der Backe. Also guckte ich bloß und zuckte mit einer Schulter. »Echt, ey! Ich hab’ dich iiir-gend-wo …«

Er zog ein Päckchen Drum aus einer Jackentasche. Diese Typen rauchen immer Drum. »’ne Kippe, Ollen?« Ich holte ein Päckchen von meinem eigenen Vorrat raus, hielt es hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. Fehler. »Ey, wow! Is’ dat denn? Türkenkost, ha ha! Kann ich ma’ probier’n, ey?«

Diese Typen wollen immer probieren. Ich öffnete die Packung und hielt sie ihm unter die Nase. Innerlich soufflierte ich ihm seinen nächsten Satz – Oh, is’ ja blonder, nee danke.

»Ach so – is’ so’n Blonder, ey. Nö, lass ma’«, sagte er. Er kramte in seinem zerknüllten Scheiß-Drum herum, und ich kannte auch schon seine nächste Zeile. Kam prompt. »Au! Haste ma’n Paper, ey?«

Diese Typen haben nie genug Blättchen. Drehen sich viermal am Tag dreiblättrige Joints, aber es kommt ihnen im Leben nicht in die bekiffte Birne, dass auf die Art die Blättchen womöglich nicht so lange halten wie der Tabak. Dafür ha’m sie ja immer Typen wie mich. Ich ging ja nicht mal zum Brötchenholen ohne ein zweites Päckchen Tabak und drei Extraheftchen Zigarettenpapier in der Tasche. Und zwei Feuerzeuge natürlich.

»Spießer!«, hatte Kathrinchen mich deswegen mal genannt. »Immer auf Nummer Sicher, wa’?«

»Du weißt nie, wo du landest«, hatte ich ihr erklärt, »und wann du von da wieder zurückkommst.«

»Klar«, schnaubte sie, »Clint Eastwood und du …« Das ließ ich dann einfach mal so stehen.

Für Rabotti hatte ich auch gleich noch mehr Gesprächsstoff – als ich ihm eins von meinen braunen Maisblättchen rauspulte.

»Boah, ey! Geil, Ollen! Haste’n die her?« Ich nickte Richtung Friesenplatz. »Ah«, meinte er.

Also drehten wir uns jeder eine. Kein Feuer oder ein Zippo, wettete ich mit mir selbst. Und wenn Zippo, dann irgendwelche albernen Kunststückchen damit. Verloren. Es waren Streichhölzer. Aber immerhin keine stinknormalen, sondern Kunststückchen-geeignete – seins rieb er lässig an einem besonders großen Button an, mit einem Foto von Jane Fonda als Barbarella drauf. Make Love Not War!, forderte sie mich per Sprechblase auf, das von Henry geerbte Nussknackerkinn grimmig zu einer Art Lächeln verrenkend, ihre Augen so liebevoll wie ein Stück Schmirgelpapier. Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Aber den alten Witz mit dem Kasten Bier auf’m Gesicht hatte ich noch nie so wahnsinnig komisch gefunden. Zugegeben, Jane – immer noch besser als Krieg … Aber mit Jane Asher zum Beispiel würde mir die Friedensbewegung doch ein bisschen mehr Spaß machen. Sorry.

»Irgendwoher kenn’ ich dich, Ollen, weiß ich ganz genau.« Natürlich gab er so schnell nicht auf. Na ja, jetzt rauchten wir schon zusammen, konnte ich auch mit ihm reden.

»Tatsächlich«, sagte ich also und hockte mich auf mein hölzernes Snare-Flightcase mit den typischen Aluleisten und Flügelschrauben. Dachte darüber nach, was aus Jane Asher wohl geworden sein mochte. Guckte auf dem menschenleeren, nassen Platz herum. Zählte sieben Häufchen schmutzig-graue Schneereste. Bewunderte den Dorf-Weihnachtsbaum, ein windschiefes Wrack mit neun elektrischen Kerzen, drei davon kaputt, und einer rot-weißen Stoffgirlande, das zwei Tage nach dem ersten Advent schon aussah, als säßen die Heiligen Drei Könige bereits seit vier Wochen wieder am Strand vom Roten Meer. Und im Stillen verfasste ich einen Leserbrief an den Espelkamper Landboten, ein geharnischtes Protestschreiben gegen Gustav Schnöken & Sohn, die ihre Marktschänke laut Aushang »mittag bis zwei, abend 17 bis 22 Uhr« geöffnet hatten. Jetzt war es viertel vor zwei, und das schiefe schwarze Rollgitter vor der Eingangstür war bereits unten. Falls es heute überhaupt schon mal oben gewesen war. Auf der anderen Seite des Platzes duckte sich eine dunkelrote Backsteinkirche unter dem bleigrauen flachen Himmel, hinter bunten Fensterchen schien Kerzenlicht zu flackern. Da war jetzt, zur Adventszeit, wohl mehr los als bei Gustav. Aber vielleicht war Gustav ja auch gleichzeitig der Pfarrer der Gemeinde – Seelsorger ist Seelsorger.

»Ich wette, du bist Musiker, ey«, näherte mein neuer Kumpel sich dem Jackpot. Ich starrte auf die Kiste unter mir, den runden Koffer neben mir, mit meinen Becken drin und all den Aufklebern auf dem verschrammten Deckel – Guru Guru, Checkpoint Charlie, Eiliff und Embryo. Penner’s Radio

»Nah dran.« Den Witz hatte er auch schon mal gehört. Er warf seine langen, verfilzten blonden Locken aus dem Gesicht und wieherte.

»Schlagzeuger! Jau, Mann!« Er blies beide Backen auf, schob die Lippen vor und trommelte beidarmig in der Luft herum. »Dudu duduff duduff duffuff …« Irgendwas zwischen You Really Got Me und ’nem kleinen Jungen mit ’ner Märklin-Eisenbahn. Aus seiner Kippe sprühten Funken und aus seinem Mund Speichelbläschen zwischen einem Schwall Atemwölkchen. Jau, Mann.

Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Und Durst. Vor allem Durst. Oder wie Opa Klütsch immer zu sagen pflegte: Mir es et esu kalt, datt isch vür louter Hunger nimmieh weiß, wat für ’nen Doosch isch han – esu mööd ben isch* … Und der nächste Bus kam laut Fahrplan, soweit man das zwischen all dem Geli liebt Jens-Gekrakel lesen konnte, um halb drei. Rock’n’Roll, I gave you all the best years of my life*, knödelte Kevin Johnson in meinem Hinterkopf.

Um es kurz zu fassen: Er ging mir auf die Nerven, bis ich aussteigen musste. Nee, nicht Kevin. Da wusste ich aber dann auch, dass er zwar Klaus-Peter hieß, aber von allen nur Rabotti genannt wurde, weil er seit drei Jahren in zwei Jobs malochte – morgens um sechs ging er bis vier Trecker und Rasenmäher reparieren, und abends von sechs bis halb zehn stand er an einem elektrischen Hobel und verwandelte Schalbretter in Nut-und-Feder, ein Baumaterial für Innenausstattungen, von dem der deutsche Eigenheimbewohner und Gartenlaubenbesitzer nie genug kriegen kann. Ich hatte einen ganzen Packen Fotos von seinen vier Freundinnen gesehen, wusste, dass er sich mit achtzehn beim Bund eine Vorhautverengung mit einer Rasierklinge selbst operiert hatte (»Riesensauerei, Ollen – würd’ ich so nich’ noch ma’ machen, ey! Aber sechs Wochen danach! Mann! Ich bin Freitagabend nach Bremen in’n Puff un’ erst Sonntagabend wieder raus, ey!«). Ich hatte erfahren, dass er kiffte, seit er dreizehn war, dass es mit einer eigenen Band nie geklappt hatte (»Scheiße, Ollen, ich bin so musikalisch wie’n Sack doude Katzen, ey!«) und dass er, schon interessanter, neun Schwestern hatte, die älteste elf Jahre älter als er und die jüngste eins (»Un’ alle noch dünner als ich, Ollen!«). Und er war schon so mager, dass man ihm nicht zutrauen mochte, ein Loch in eine nasse Tapete zu hauen. Das täuschte allerdings – meinen Beckenkoffer hob er mit zwei Fingern in den Bus, als sei’s bloß die Bild-Zeitung.

Aber wie unser Eiermann immer so schön kontert, wenn ihn jemand wegen seiner drei Bass-Saiten löchert: »Alles im Leben hat mindestens zwei Saiten!« – auch Freund Rabotti hatte sein Gutes. Erstens war ich dank ihm zu beschäftigt, um Zoff mit dem Busfahrer zu kriegen, an dessen Rückspiegel ein kleines Kofferradio hing und die ganze Fahrt volle Kanne Weihnachtslieder in den ansonsten leeren Bus plärrte. Und zweitens stellte sich raus, dass Mister Arbeiterklasse nicht nur kiffte wie ein Weltmeister (»He wätt nich gerook!«, schrie der Busfahrer nach hinten. »Dann mäck dat Fensta op, Sören! Un guck oppe Straat!«, schrie Rabotti ungerührt zurück. Ein milder Stern herniederlacht / Und kerzenhelle strahlt die Nacht, krähte das Radio), nein, mit seiner großen Tasche spielte er tatsächlich noch vorweihnachtliche Bescherung und zauberte sieben Büchsen Bier hervor. Die teilten wir dann gerecht, und als ich kurz vor meiner Haltestelle den letzten Schluck aus meiner fünften schlürfte, wusste ich schließlich auch, dass er am liebsten Perry Rhodan las, dass seine Kölner Lieblingsband die von Balkan-Rock-Axel war, dass er von dreien seiner Schwestern nacheinander recht anschaulich aufgeklärt worden war, mit seinen beiden Jobs bereits über fünfzigtausend Mark zusammengespart hatte, um sich bald nach Neuseeland absetzen zu können, und dass er in den letzten drei Jahren auf insgesamt sechsundvierzig Open-Air-Festivals gewesen war – »Un’ für nich’ ein einziges hab’ ich ’ne Eintrittskarte bezahlt, Ollen, nich’ ein einziges! Un’ immer vorne inne erste Reihe! Vonne erste Scheiß-Kapelle bis zur letzten Zugabe, ey!«

Kein Wunder, dass er mich kannte.

Und eingelullt von Bus, Bier und Blabla hatte ich ihm sogar noch verraten, dass Axel demnächst seinen traditionellen Advents-Auftritt im Session hatte.

Perlen vor die Schweine

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