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Brödershof
Es gab wahrhaftig eine Telefonzelle in Brödershof, einem Flecken mit sechs Bauernhöfen, einem Molkereibetrieb, einem Reiterhof und einem Edeka-Laden, der Schneider’s Dorfkrug hieß. Und eben dieser halb gelben, halb rostbraunen Telefonzelle, vollgeklebt mit Plakaten, die mich zum berühmten Holzmindener Glühwei(h)nachtsmarkt einluden – Letztes Jahr mehr als 1000 begeisterte Besucher! Die zweite Überraschung war, dass das Telefon sogar funktionierte, und die dritte, dass Herr Schneider mit Gustav Schnöken & Sohns Arbeitsmoral nichts am Hut hatte. Er begrüßte mich überschwänglich, zapfte mir ein blumiges Pils, sah beifällig, wie das nach meinem ersten Schluck halb alle war, und machte sich gleich an ein frisches. Überraschung Nummer vier.
»Woll der noie Schlachzoigä, woll?«, meinte er mit einem Blick auf mein Gepäck. Ich nickte anerkennend. »Ich wollt’ den Jopp ja woll auch gemäkkt ha’m. Aber Hansi hat gemeint, dat wär’ ja woll doch nich’ ganz dat Richtige für Schneiders Vadder sein Sohn.« Er war an die fünfzig, mindestens, wog um die drei Zentner, mindestens, hatte Arme, dicker als meine Oberschenkel, eine Schnapsnase und ein steifes Bein. Hansi war mein Arbeitgeber für diese Woche, Hansi Hedegger, Bassist und in stillschweigender Übereinkunft Chef der Jazzrock-Kapelle Baggermann.
»Ach«, trug ich meinen Teil zur Unterhaltung bei und trank das zweite Pils. Eiskalt, prickelnd herb – ein Genuss. Schien er auch zu finden – er zapfte gleich drei neue. Bis auf eine ungefähr hundertjährige Gestalt, in einem riesigen schwarzen Ledermantel an einem Ecktisch neben der Lebensmitteltheke verbuddelt, war der Laden leer. Die hatte bis jetzt aber noch keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben – vielleicht war das ja auch nur der Nubbel von Brödershof. Immerhin war in neun Wochen Karneval.
»Paiste oder Zyldjian?«, bellte mir der Hausherr plötzlich ins Gesicht, seine haarigen Fleischerarme auf das glänzende Zinkblech gestützt, seine Kartoffelnase dicht an meiner. Tausend rote Äderchen leuchteten mich an, aber noch mehr leuchteten seine listigen Augen – Dat hättste nich’ gedacht, mien Jong, datt olle Schneiders Vadder sein Sohn da Ahnung von wech hat, woll?
Tatsächlich hätte ich mich fast verschluckt – kannte der doch tatsächlich die beiden besten Schlagzeugbeckenmarken.
»Weder noch«, brachte ich raus. »Und sowohl als auch.« Da hatte er erst mal was zu schlucken.
»Beide?!?«, fragte er entsetzt. Als hätte Uwe Seeler angekündigt, er ginge jetzt zu St. Pauli. Hinter den Falten auf seiner Stirn sank Hansi ein paar Stufen in seiner Achtung. Ich war sowieso unten durch. Also war’s eh schon wurscht.
»Ich hau auf alles, was Krach macht«, setzte ich einen drauf. Darauf brauchte er einen Klaren. Nahrung für die Äderchen. »Ich bin der Büb«, stellte ich mich vor, »der Kanaldeckel’s Büb aus Köln-Vogelsang.«
»Kanaldeckel«, echote er fassungslos.
»Na ja, ich nehm’ auch Autofelgen.« Hoffentlich kriegt er keinen Herzinfarkt.
Schneiders Vadder sein Sohn doch nicht. Er lachte schallend, machte noch zwei Korn, drückte mir einen in die Hand und stieß mit mir an.
»Autofelgen, Ooas! Nu’ wär’ ich doch beinah drauf reingefallen auf den Spöök.« Ich sagte lieber nix mehr. »Aber schon schad’, das Dingen mit dem Raimund, oder?«
»Na ja, so ganz unschuldig is’ er wohl selber nich’, oder?« Grimmig wiegte er seinen Schädel hin und her, was seinen Hals in mächtige Wellenbewegungen versetzte.
»Tscha! Ich sach ihm doch schon seit Jahren: Lassas nach, Jong! Du wirst dich nomma’s Genick brechen!«
»Da hat er ja diesmal noch ma’ Schwein gehabt, wa’?« Ich auch. Sozusagen. Deswegen war ich hier. Raimund, der eigentliche Schlagzeuger von Baggermann, hatte sich bei einem weiteren unangebrachten Versuch, in Richie Haywards Fußstapfen zu treten, mit seinem Motorrad im wahrsten Wortsinn auf Glatteis begeben und sich beide Beine und einen Arm gebrochen. Blöd für ihn, aber eigentlich nicht weiter schlimm für seine Band – die tourten grundsätzlich nur von April bis November, um den Winter über entweder an der Algarve rumzuhängen oder in ihrem eigenen Studio in Hinderup an neuen Platten zu frickeln. Leider hatten sie dieses Jahr jedoch beschlossen, dass das nächste Album Baggermann den endgültigen Durchbruch bringen sollte, und bei einer neuen Plattenfirma unterschrieben. Nicht zuletzt auch wegen eines schwindelerregenden Vorschusses. Die Firma wiederum war bloß die Hamburger Tochter eines amerikanischen Konzerns, und deren Uhren ticken anders als die bei Omelette, ihrem bisherigen Label, wo Verträge auf Bierdeckel passten und Chef Heiner König seine Frau und seine Mutter neue Platten eintüten und ausliefern ließ.
Dummerweise standen ihre fünf Unterschriften nun also auch auf richtigem Papier, unter einem richtigen Paragraphen, der besagte, dass bei Überschreiten des Abgabetermins eine sechsstellige Konventionalstrafe fällig war. Und der Termin war der 1. Januar nächsten Jahres. Keine vier Wochen, und sie mussten noch fünf Titel aufnehmen – und den ganzen Klumpatsch natürlich noch rechtzeitig abmischen. Stress war angesagt.
Aber sie kannten ja mich.
»So’n büschen wundern tu’ ich mich ja schon …«, meinte Schneider. »Nix für ungut – aber dein’ Namen hab’ ich noch nie gehört.«
»Ja, scheinst dich auszukennen, was Schlagzeug angeht, wie?« Sein Stichwort.
»Komm ma’ mit!«, flüsterte er geheimnisvoll. Ich nahm vorsichtshalber noch einen guten Schluck und folgte ihm zu einem dicken rotbraunen Vorhang zwischen Zigarettenautomat und Toilettentür. Mit großer Geste knipste er einen Lichtschalter an und zog den Vorhang auf. »Tädäää!«, schrie er.
Ich war baff. Ein komplettes Schlagzeug-Set auf einem kleinen Podest, schätzungsweise Jahrgang ’55, in einem grauslichen Türkisgrün mit Goldglimmer, fett Premier auf dem vorderen Basstrommelfell, und in rot und golden umrandetem Türkis darunter ein schwungvolles The Blue Beatnicks. Ja, mit ck. Und auf allen auf Hochglanz polierten Becken war der Paiste-Schriftzug mit türkisgrünem Lack nachgezogen. Ein echtes Schmuckstück. Ich wettete mit mir, dass er das Ding Schießbude nennen würde.
»Na, wat sachste, mien Jong?«, strahlte Schneiders Vadder sein Sohn. Ich strahlte zurück.
»Mein lieber Mann. Wo haste gespielt – in Las Vegas?«
»Pah! Las Vegas! Weißte, wo ich an die Schießbude gesessen hab’? Na?« Er zwängte sich an der Kiste vorbei, ließ sich auf ein besonders stabiles Monstrum von Schlagzeughocker plumpsen und griff sich die Stöcke, die fein säuberlich gekreuzt auf der Snare lagen. Weiß, mit Nylonspitzen. Und natürlich mit türkisem Klebeband verziert. Er klickte den Snareteppich hoch und produzierte einen sauberen Zirkuswirbel. »In’n Starclub, Mann! In Hämbuarch in’n Starclub! Neunzehnsechzig! Einunsechzig! Als der Beat losging!« Und prompt legte er einen trocken swingenden Twist hin, der Chubby Checker ein breites Grinsen entlockt hätte. Seine Hi-Hat blieb geschlossen, weil sein steifes Bein ausgestreckt daneben lag. Aber mit dem gesunden rechten spielte er eine ordentliche Bassdrum. Nach acht Takten floss ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, und seine Zunge streckte sich wild von einem Mundwinkel zum anderen.
»Herrjessas, Himmel, Arsch un’ Klötensuppe!«, tönte es plötzlich aus dem Ledermantel in der anderen Ecke. »Ich denk’, da – nu’ is’ Sören mit sein’ Bus in’n Kruuch gedonnert! Un’ dann is’ auch noch mein Bier alle!« Mit einem gekonnten Wirbel über beide Toms beschloss Schneider seine Darbietung. Ich hatte nur ein bisschen Angst, er würde sich dabei auf die Zunge beißen.
»Kommt sofort, Fritzken, kommt subito!« Mühsam stand er auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wollte die Stöcke schon wieder akkurat an ihren Platz legen, aber dann warf er mir einen schrägen Blick zu. »Willste auch mal, Jong?«, streckte er sie mir generös entgegen. Ich wollte schon dankend abwehren, aber da sah ich die Enttäuschung, die sich in seinem Gesicht ausbreiten wollte. Verlegen grinsend nahm ich die Dinger, als überreichte er mir den Goldenen Schlüssel zur Stadt. Klemmte mich auf seinen Hocker, schraubte die Hi-Hat-Becken auf Abstand. Vorsicht, Büb, sagte ich mir, jetzt hau dem armen Mann nicht sein Schmuckstück in Fetzen! Aber was sollte ich spielen? Ich trommelte ein paar Paradiddle und Sechzehntel-Triolen auf die Snare, um ein Gefühl für die Abstände, die Spannstärke der Felle und die Stöcke zu kriegen, die nicht halb so schwer waren wie meine Kanaldeckels-Knüppel. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Schneider sich auf halbem Weg zu seinem Zapfhahn herumdrehte und mich aufmerksam beobachtete. Na ja, dachte ich, alle alten Schlagzeuger mögen Jazz, bewundern Gene Krupa, Buddy Rich, Art Blakey. Hey – und Joe Morello natürlich! Und schon rollte ich in einen sanften, locker aus dem Handgelenk gespielten Fünf-Viertel-Rhythmus, spielte einen halben Chorus von Brubeck’s Take Five, brummte das Bassriff dazu, kriegte Spaß an der Sache und legte die ersten sechzehn Takte von Morellos Kult-Solo drauf.
Als ich zwischendurch mal hochblickte, stand der Schießbudenbesitzer mit weit offenem Mund hinter seiner Theke, Unglauben und Bewunderung in den Augen. Aber auch eine gute Portion Neid und Wehmut. Jetzt spiel’ ich doch mindestens zwanzig Jahre länger als dieses langhaarige Früchtchen, konnte ich lesen, aber das werd’ ich mein Lebtag nich’ hinkriegen … Schnell wich er meinem Blick aus und beschäftigte sich angelegentlich mit Fritzkens Pils. Scheiße, Büb, ermahnte ich mich, mach hier nicht den Angeber! Flugs verhedderte ich mich bei einem Tomwirbel, schlug auf dem Rückweg gegen die Unterseite des Ride-Beckens und verlor klappernd den rechten Stock.
»Verdammt!«, schrie ich und sprang auf. »Aber eines Tages werd’ ich’s hinkriegen!« Bemüht, seine Erleichterung zu verbergen, wenn auch nicht ganz erfolgreich, griff Schneider zur Kornflasche.
»He, mien Jong, dat war doch schon gar nich’ so verkehrt! Da hat der alte Joe auch lange dran geübt! Dat kommt nich’ von heut’ auf gleich! Schon gar nich’ mit Kanaldeckeln, ho ho!« Er hielt mir einen doppelten Korn entgegen. »Komm, ich geb’ einen aus! Hier, Fritzken, kriss auch ein’n auf den Schreck! Auf die wunnäbare Welt der Musik, Kinners!« Synchron kippten wir uns zu dritt den Schnaps in die zurückgelegten Hälse. Männerrituale. Ich hob erst mal den Stock wieder auf, legte das Paar schön über Kreuz auf die Snare, wie es sich gehörte, schaltete den Snareteppich ab und schraubte die Hi-Hat wieder zusammen. Zog den Vorhang zu und machte das Licht wieder aus. Hübsch ordentlich und bescheiden, der Junge aus Köln.
Dann hockte ich mich wieder an die Theke, wo schon ein frisches Pils auf mich wartete.
»Weißte«, beugte Schneider sich wieder herüber, »eins kann ich dir aus langer Erfahrung sagen: Ein Schlachzoigä, der muss immer üben. Immer üben! Ein Leben lang! Jackie Jefferson – kennst du, oder? Der vom Ellington –, der hat noch mit über siebzig vor jedem Konzert eine halbe Stunde seine Exi-, eh … Exerzitien gemacht! Inner Garderobe!« Ich nickte mehrmals, als sei das sowieso Grundwissen für unsere Branche. Meines Wissens war der alte Jackie zwar mit knapp sechzig an Fettleber gestorben, und schon zehn Jahre vorher hatte er seinen Job verloren, weil seine Kollegen ihn vor jedem Gig erst mal mit kalten Duschen aus dem Koma holen mussten. Aber das Pils war wirklich sehr lecker.
»Inner Garderobe!«, bekräftigte Schneiders Vadder sein Sohn. »Jee-deen Tach! Willste no’ ein’n?« Was ’ne Frage. »Ich will dir mal was erzählen, mien Jong …« Ich rutschte auf meinem Hocker in eine bequeme Stellung, drehte mir eine neue Kippe und schlürfte schon mal ein halbes Bier unter dem Schaum weg.
Leider ging in dem Moment die Tür auf, und Sven Eisenmacher versaute mir einen vielversprechenden Abend.