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EINFÜHRUNG: „ICH HABE IM AUFRUHR ALLE BAUERN ERSCHLAGEN; ALL IHR BLUT IST AUF MEINEM HALS. ABER ICH SCHIEBE ES AUF UNSEREN HERRGOTT; DER HAT MIR BEFOHLEN, SOLCHES ZU REDEN“

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Band 3 von „EIN LESEBUCH AUS DER ALTEN ZEIT: ZWISCHENBILANZ ODER SCHON DAS FAZIT?“, welcher den Titel trägt: „SO LASSET UNS ... DEN STAUB VON DEN SCHUHEN SCHÜTTELN UND SAGEN: WIR SIND UNSCHULDIG AN EUREM BLUT“, beschäftigt sich mit Martin Luther, namentlich mit Luther als dem Ideologen konkreter Herrschaftsinteressen: derjenigen der Fürsten des Reichs. In ihrer Auseinandersetzung mit Kaiser und Papst, aber auch mit den aufstrebenden Städten und deren Bürgern, mit dem darnieder gehenden Rittertum, mit aufbegehrenden Bauern, Handwerkern und anderen Gruppen mehr, die Marx später in ihrer Gesamtheit als Proletariat bezeichnete und die der Neoliberalismus heutzutage Prekariat nennen würde.

In diesem Kontext walzte Luther – unter Berufung auf die „Heilige Schrift“ – rigoros nieder, was ihm im Wege stand:

„In der Tat glaube ich, dem Herrn den Gehorsam zu schulden, gegen die Philosophie zu wüten und zur Heiligen Schrift zu bekehren.“ In diesem Sinne schuf Luther das Fundament einer neuen Glaubensrichtung. Und lehrte die Menschen vornehmlich eins: die Angst.

Die Vernunft indes galt nicht viel bei Luther – die eigentliche Wahrheit bleibe ihr verschlossen; Vernunft könne nicht zur Erkenntnis Gottes gelangen, als Erkenntnisprinzip (principium cognoscendi) sei sie ebenso blind (caeca) wie verblendet (excaecata).

Ebenso wie die Vernunft verteufelt Luther die Philosophie; Philosophen könnten nie zur Wahrheit gelangen. Und die „Klassiker“ der antiken Philosophie – namentlich Aristoteles – finden in Luther einen hasserfüllten Gegner: „Die Philosophie des Aristoteles kriecht im Bodensatz der körperlichen und sinnlichen Dinge …“ Auch die Scholastiker zogen den Zorn Luthers auf sich: Thomas von Aquin hatte, die Willensfreiheit betreffend (und den nachträglichen Unmut Luthers auf sich lenkend), erklärt: „Totius libertatis radix est in ratione constituta“: Grundlage aller Freiheit ist die Vernunft.

Luther wütete, die Scholastiker sähen nicht die Sünde und übersähen, dass die Vernunft „plena ignorationis Dei et aversionis a voluntate Dei“, also voller Unkenntnis Gottes und voll der Abneigung gegen den Willen Gottes sei. Das scholastische Axiom, man könne ohne Aristoteles nicht Theologe werden, konterte er mit den Worten: „Error est, dicere: sine Aristotele non fit theologus; immo theologus non fit, nisi id fiat sine Aristotele“: Es ist ein Irrtum, zu behaupten, ohne Aristoteles werde keiner Theologe; in der Tat, Theologe wird man nicht, wenn es denn nicht ohne Aristoteles geschieht.

Die Vernunft, so Luther, könne den Widerspruch zwischen menschlicher und göttlicher Absicht weder verstehen noch ertragen, pervertiere ggf. den göttliche Willen zu eigenem Nutzen und Frommen; wer menschlicher Vernunft folge, stürze in leere und sündige Gedanken, halte die Vernunft gar für die Wahrheit.

Letztlich lehrte Luther nichts anderes als einen kruden Irrationalismus: Offensichtlich hasste und entwertete er die menschliche Vernunft, stand damit im Widerspruch zum Gedankengut von Renaissance und Humanismus, war mehr dem „finsteren“ Mittelalter als der Wertschätzung des Menschen in der (beginnenden) Neuzeit verhaftet.

Derart spielte Luthers Unfreiheit eines Christenmenschen den Fürsten seiner Zeit, spielte auch seinem Schutzherrn Friedrich „dem Weisen“, spielte all denen, die das Volk, die Bauern (nicht nur in den blutigen Kriegen gegen dieselben) unterdrückten, in die Karten; folgerichtig stellten die Herrschenden ihn, Luther, unter ihren Schutz, weil sie erkannten, dass er „ihr“ Mann und nicht der des Volkes war.

Realiter bestand die Freiheit eines Christenmenschen gemäß lutherischer Ordnungsvorstellung im absoluten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, wie irrational oder verwerflich diese auch handelte. Mithin: Luther war ein demagogisch agitierender Anti-Philosoph. Par excellence. Er war „ein Unglück von einem Mönch“, wie Nietzsche ihn nannte.

Sicherlich sind Luthers Haltung zu den Juden und sein Urteil über dieselben im Kontext seiner Zeit und der des (zu Ende gehenden) Mittelalters zu sehen; gleichwohl tat der „Reformator“ sich auch hier durch besonderen Eifer hervor sowie durch seinen Hass auf jeden, der sich seinen Vorstellungen widersetzte. Nach und nach steigerte sich sein Hass gegen die Juden ins schier Unermessliche – Luther war nicht nur Antijudaist, sondern schlichtweg und schlechterdings auch Antisemit. Einer der übelsten Sorte. Nicht von ungefähr beriefen sich die National-sozialisten auf ihn.

„Luther rechtfertigt in seiner Schrift ´Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können´ (1526) auch die Beteiligung an Kriegen: wenn die Obrigkeit Krieg befiehlt, müsse gehorcht, gekämpft, gebrannt und getötet werden … Geschätzt 100.000 Bauern wurden nach seinem Aufruf auf teilweise bestialische Weise hingerichtet. Dazu bekannte er sich in einer abstoßenden Mischung aus Stolz, Heuchelei und Blasphemie in einer seiner Tischreden: ´Ich habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen; all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich schiebe es auf unseren Herrgott; der hat mir befohlen, solches zu reden.´“

Welch schändliches Spiel er trieb, war Luther durchaus bewusst: „Ich möchte mich fast rühmen, dass seit der Zeit der Apostel das weltliche Schwert und die Obrigkeit noch nie so deutlich beschrieben und gerühmt worden ist wie durch mich. Sogar meine Feinde müssen das zuge-ben. Und dafür habe ich doch als Lohn den ehrlichen Dank verdient, dass meine Lehre aufrührerisch und als gegen die Obrigkeit gerichtet gescholten und verdächtigt wird. Dafür sei Gott gelobt!“

Was Luther über die einfachen Leute, also über die Masse des Volkes, nicht nur über die (aufständischen) Bauern dachte, kommt ebenfalls in seiner Schrift: Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können zum Ausdruck: „Man darf dem Pöbel nicht zu viel pfeifen, er wird sonst gern toll. Es ist billiger, ihm zehn Ellen abzubrechen, als ihm in einem solchen Falle eine Handbreit, ja, die Breite eines Fingers einzuräumen. Und es ist besser, wenn ihm die Tyrannen hundertmal unrecht tun, als dass sie dem Tyrannen einmal unrecht tun.“

Mithin drängt sich der Verdacht auf, dass weltliche Macht – und deren Neuordnung zugunsten der Fürsten – durch Luthers religiös verbrämte Herrschafts-Ideologie gegenüber der kirchlichen Autorität neu etabliert und dass dadurch erstere, die weltliche Macht, von letzterer, der kirchlichen Autorität, befreit werden sollte. Zweifelsohne wurde derart die Stellung (des Reiches und) der Fürsten gegenüber dem Kaiser gestärkt; Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, wusste sehr wohl, was er an „seinem“ Luther hatte.

Resümierend könnte man durchaus behaupten, Luther sei die Geister, die er rief, nicht mehr losgeworden: Das Aufbegehren gegen die (etablierte römisch-katholische) Amtskirche und die theologische Unterfütterung der Umwälzungsprozesse, die man eher als Revolution denn als Reformation bezeichnen müsste, will meinen: die Zerschlagung alter und die Implementierung neuer kirchlicher wie weltlicher Strukturen und Autoritäten, diese grundlegend radikale Umgestaltung der gesamten abendländischen Gesellschaft an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit war von so gewaltiger Dimension, dass es geradezu grotesk erscheint, Luther – und Luther allein – als spiritus rector des Geschehens zu bezeich- nen: Er, Luther, war allenfalls das Sprachrohr, das Aushängeschild, vielleicht auch nur Popanz der Interessen, die andere, ungleich Mächtigere hinter der Fassade vertraten, die man heute Reformation nennt!

Jedenfalls gilt festzuhalten: An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit traten an die Stelle der alten Machthaber nach und nach neue. Wie in den feudalen Strukturen und Systemen zuvor ging es auch nun nicht um einzelne Personen, diese fungieren nur als Funktionsträger; es war vielmehr ein Wettbewerb der Systeme, der zu Luthers Zeit entfacht wurde, in dem das einfache Volk allenfalls die Statisten und Luther den Propagandisten der (noch) herrschenden alten (feudalen) Schicht gab: Mag seine anfängliche Empörung gegen Klerus und Papst, gegen all die Missstände der Kirche, gegen das in mehr als tausend Jahre verkrustete System noch weit(est)gehend authentisch gewesen sein, so verstand es Luther alsbald, sich (mit Hilfe seiner zwischenzeitlich gewonnenen Popularität und Autorität) zum Sprachrohr der (innerhalb der feudalen Strukturen) aufstrebenden Schicht der Landesherren (in deren Kampf gegen Kaiser und Papst) zu machen; das cuius regio eius religio des Augsburger Religionsfriedens von 1555 emanzipierte die Fürsten des Reiches, machte sie auch zu Kirchenoberen. Mit allen sich daraus ergebenden Pfründen.

Akteure des „Gesellschaftsspiels“, das man heute Reformation nennt, waren Adel und Klerus, waren Landes- und Feudalherren, waren Papst und Kaiser, waren die (freien) Städte und deren Bürger, waren Kirche und Großkapital (man denke an die Medici und an die Fugger, Welser und Rehlinger: „Marktwirtschaft, Kapitalismus, Globalisierung, alles, was sich heute durchgesetzt hat, entstand in ersten Ansätzen im Europa des Mittelalters. Handelsdynastien wie die Fugger waren europaweit aktiv – auch mit Bestechungsgeldern für Kaiser und Fürsten“), Akteure dieses Spiels um Herrschaft und Macht, um Pfründe und Lehen, um Reichtum und Armut, um all die Versatzstücke des langsam aufblühenden Kapitalismus´ und seiner Globalisierung, d.h. der Wirtschaftsform, die im Neoliberalismus der Jetzt-Zeit ihren (vorläufigen?) Höhepunkt gefunden hat, Akteure dieses „Gesellschaftsspiels“, das im Laufe der Jahrhunderte Millionen und Abermillionen von Menschenleben gekostet hat und bei dem die Frontlinien immer wieder verschoben und neu festgelegt, bei dem Bündnisse geschlossen und gebrochen wurden, bei dem das Großkapital – zu Luthers Zeiten beispielsweise die Fugger, im ersten Weltkrieg exempli gratia die Krupps – beide Seiten des Konflikts bedienten, Akteure dieses weltweiten wie fort- und anscheinend immerwährenden „Spektakulums“ waren, seinerzeit, auch die Bauern. Und andere unterdrückte Schichen. Und Luther. Der – vordergründig – gegen diese Unterdrückung Stellung bezog. Der realiter jedoch die Interessen der Fürsten vertrat. Gegen das päpstliche Finanzgebaren. Gegen den Ablasshandel, welcher die Kassen der Kirche füllte und den Bau des Petersdoms finanzierte. Gegen die Bauern und andere Underdogs mehr, die sich, irrtümlicherweise, auf ihn beriefen.

Es ist gleichwohl das Verdienst Luthers, dass durch seine theologische Grundsatzkritik das allgemeine Unbehagen an der Kirche und deren Missständen systematisch strukturiert, formuliert und propagiert wurde. Dennoch kamen Luthers (vordergründig) theologische Überlegungen und Ausführungen nur deshalb zum Tragen, weil sich gesellschaftliche, politische und auch wirtschaftliche Interessen sowohl der herrschenden Schicht als auch des „gemeinen Volkes“ mit der neuen evangelischen Lehre und deren Ablehnung des Papsttums und des weltlichen Herrschaftsanspruchs der Kirche deckten; deshalb nahmen breite Bevölkerungsschichten auch (wiewohl zu Unrecht) an, Luther vertrete ihre Interessen.

Insofern gilt es, wohl zu überlegen, inwiefern und inwie-weit die Reformation von Anfang an als „Regimechange“ (Verschiebung der [Vor-]Herrschaft von Papst und Kaiser zu den deutschen Fürsten) geplant war, als ein Machtwechsel unter der ideologischen Verbrämung religiöser Veränderung und Erneuerung. Den Herrschenden, wage ich zu behaupten, dürfte es egal gewesen sein, ob sie als Protestanten oder Katholiken in ihren (Duodez-)Fürstentümern nach Belieben schalten und walten konnten.

Jedenfalls stellten sich die Reichsfürsten – früher oder später – an die Spitze der reformatorischen Bewegung, wurden dadurch zu mächtigen Gegenspielern nicht nur des Papstes, sondern auch des Kaisers. Deren Macht – die des ersteren wie die des letzteren – schwand fortan rapide: nicht zuletzt als Folge von Reformation und Neuordnung der – seinerzeit aufs engste miteinander verbundenen – kirchlichen und weltlichen Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen.

Mithin: Durch die Reformation wollten die Reichsfürsten – jedenfalls die, welche nicht zudem (Erz-)Bischöfe und dadurch ohnehin schon religiöses Oberhaupt waren – auch die kirchliche Oberhoheit erringen sowie eine weitgehende Emanzipation mit Kaiser und König erreichen. Die Freien resp. Reichs-Städte verfolgten ihrerseits das Ziel, die Einflussmöglichkeiten des Kaisers/Königs zu verringern und die Begehrlichkeiten der zunehmend erstarkenden Landesfürsten abzuwehren. Und Kaiser und Kirche resp. der Papst wollten, das alles beim Alten und die Macht weiterhin bei ihnen blieb.

„Jede soziale Schicht brachte ihre eigene Reformation hervor. Der hohe Adel schloss sich samt … Untertanen Martin Luther an, das Bürgertum in den Städten vorrangig Zwingli und Calvin, die humanistischen Bildungsbürger Philipp Melanchthon, Bergknappen und Bauern Thomas Müntzer, die einfachen Handwerker Balthasar Hubmaier und den Täufern, die Ritter, also der niedere Adel, Franz von Sickingen. Es entstand sogar, immer noch wenig bekannt, eine Reformation der Frauen … Martin Luther, der Vorkämpfer, ist einer der Großen, gewiss – und dennoch nicht ´der´ Reformator, sondern einer von zahlreichen Reformatoren, ebenso wie es viele Reformationen oder reformatorische Strömungen gab und nicht die eine Reformation. In Wellen breitete sie sich aus, zuerst die Rebellion unter Luther, die soziale Revolution von Müntzer bis Münster [Täuferreich von Münster], dann die städtische Reformation bei Zwingli und die Restaura-tion unter den Fürsten bei Melanchthon, schließlich die Reglementierung des bürgerlichen Lebens bei Calvin. Die weltweite Ausbreitung gelang dann durch die Mission und durch die Verfolgten, die die neue Lehre in andere Länder trugen.“

Insofern war die Reformation nichts anderes als ein gigantischer Kampf der Systeme an der Schwelle zu einer neuen Zeit, als Auseinandersetzung um Macht und Herrschaft, verbrämt als religiöser Richtungsstreit. Und so wandelte sich die „Revolution“ nach Niederschlagung des Bauernaufstandes mit tatkräftiger Hilfe Luthers immer mehr zu einer „Fürsten-Reformation“, zu einer „Reformation von oben“, will meinen zum Aufbau einer protestantischen Kirche im Schulterschluss mit (und in Abhängigkeit von) Territorial-Fürsten und den Obrigkeiten der Städte. Der Bauernkrieg von 1525 war zwar die größte Massen-erhebung von Bauern, die je in deutschen Landen resp. in deutschsprachigen Ländern stattfand: „Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, [jedoch] an der Theologie“, so Karl Marx. Fürwahr. An der Theologie. Eher noch an theologisch verbrämter Ideologie. Namentlich der von Luther.

In summa sind der Papst, „der Jud“ und „der Tuerck“ die drei großen Feindbilder Luthers. Indes: Es gibt ein weiteres, das von der Lutherographie jedoch nicht oder kaum benannt wird – der „gemeine Mann“, der gegen die Obrigkeit aufbegehrt und den es in seine Schranken zu weisen gilt: „Wie eine bösartige Geschwulst wucherte die Inquisiton über Jahrhunderte in der Gesellschaft des Abendlandes. Nicht allein die katholische Kirche war schließlich infiziert. Die Reformer, allen voran Martin Luther und Calvin, gebärdeten sich vermeintlichen Ketzern und Hexen gegenüber zum Teil schlimmer als die päpstlichen Inquisitoren. Nicht immer gingen Feuer und Folter von Rom aus … Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, waren in diesem Punkt keinen Deut besser als die papsttreuen Katholiken.“

Zu hexen sei nicht nur ein strafbares Vergehen, vielmehr die Abkehr von Gott, sei deshalb durch die (weltliche) Obrigkeit, sprich: durch staatliche Gewalt zu bestrafen. Mit dem Schwert. Ohne Gnade. Rücksichtslos. Indes: Die Konfessionalisierung im 16. Jhd., d.h. die Aufspaltung in katholische, lutherische und reformierte Kirchentümer, in korrespondierende Einflussbereiche und dementsprechende staatliche Herrschaftsgebilde, diese Konfessionalisierung mitsamt ihren Auswüchsen (wie der Verfolgung von sog. Hexen, d.h. namentlich von Hebammen und „weisen Frauen“) war – realiter – ein großer sozial- und herrschaftspolitischer (Neu-)Entwurf, welcher der sozialen Disziplinierung derjenigen (Interessengruppen und Bevölkerungsteile) bedurfte, die aufbegehrten. Die Abtrünnige, Ketzer, Hexen, Buhlschaften des Teufels, Satansbrut und dergleichen mehr genannt und – als solche, (im wahrsten Sinne des Wortes) ohne Rücksicht auf Verluste (viele Menschen starben, weil sie auf die Hilfe heilkundiger Frauen fortan verzichten mussten!) – verfolgt wurden.

Somit bleibt es meines Erachtens fraglich, ob Luthers Hexenwahn einer allgemeinen resp. seiner höchst eigenen Paranoia entsprang oder doch mehr und eher Ausdruck eben dieser sozialen Disziplinierung war (mit Luther sowohl als Täter, weil er den Wahn schürte, wie auch als Opfer seiner eigenen Inszenierung), einer Disziplinierung jedenfalls, die alle – namentlich Frauen und insbesondere solche wie Hebammen und Heilerinnen – verfolgte, die nicht gesellschaftlich kompatibel waren. So also fand (schon damals) eine Ideologisierung der Massen statt, und erwünschter Wahn wurde zum gewollten System, das eine große Eigendynamik entwickelte, sodass die Täter ihrem eigenen Tun anheim und dem selbst produzierten Irrsinn zum Opfer fielen.

Die Theologie Luthers hatte die Funktion und Bedeutung, die heute die sog. Human-Wissenschaften (wie Medizin, Psycholgie und Soziologie) einnehmen: Sie, erstere, die Theologie, wie letztere, die Human- und Sozial-Wissenschaften, verbrämen und liefern die geistige Grundlage für realpolitische Herrschafts-Systeme. Und der Liebe Gott fungiert ggf. als Platzhalter und Lückenbüßer.

Zu Luthers Zeit konkurrierten die sich entwickelnden Territorialstaaten (vom Rittergut bis zum Fürstenreich) mit der weltlichen und kirchlichen Zentralgewalt, sprich: mit Papst und Kaiser; sowohl die Herrschaftsgewalt als solche als auch die aus dieser resultierenden Pfründe standen zur Disposition. Aus diesen sozialen Kämpfen zu Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich nach und nach das kapitalistische System, das wir heute kennen; zunächst gab es noch viele Elemente des Feudalismus´ und absoluter Willkürgewalt („L´état c'est moi“, so bekanntlich der Sonnenkönig, Ludwig XIV.), dann folgten die sog. bürgerlichen Revolutionen (beispielsweise die französische von 1789 oder auch die amerikanische von 1776) eben jener Bürger, die durch zunehmende Kapitalakkumulation reich und mächtig geworden waren: Sie sind als Emanzipationsbewegung gegenüber den noch dominierenden feudalen Strukturen und Funktionsträgern, sprich gegenüber Adel und Klerus zu betrachten. Schließlich entstandaus dem bürgerlich-kapitalistischen System das der Kartelle und Konzerne im Neoliberalismus heutzutage.

Deshalb stellt sich die Frage: Wer gab hinter den Kulissen von Sein und Schein tatsächlich den Ton an? Sicherlich weder Luther noch Müntzer. Die Fürsten? Der Kaiser? (Immer noch und weiterhin) der Papst? Oder doch die Fugger, Welser und Co., die Herrscher des Geldes, die (fast) alle kaufen (können). Auch die Fürsten, die Kaiser, die Päpste. Einen Luther zumal. Einen Müntzer mitnichten.

„Hitler berief sich wie die evangelische Nazikirche der Deutschen Christen auf Luther ... Julius Streicher, Gründer des Nazi-Hetzblattes Der Stürmer, meinte gar in den Nürnberger Prozessen, dass Luther ´heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank säße´. Vielleicht hätte er da … zu Recht gesessen als einer der geistigen Brandstifter, die die deutsch-protestantische Geschichte antisemitisch fundierten.“

In der Tat: „Der Reformator war nicht nur Antijudaist, sondern Antisemit. So wurde er auch in der NS-Zeit rezipiert … Martin Luthers späte ´Judenschriften´ sind heute nicht mehr so unbekannt, wie sie lange Zeit waren – und das Entsetzen über den scharf antijüdischen Ton des Reformators ist allenthalbengroß.“

Und: Die Bedeutung Luthers als ideologischer Protago-nist in dem seit Jahrhunderten vorprogrammierten „ultimativen“ Konflikt „der Deutschen“ mit „den Juden“ ist ebenso eindeutig wie unbestreitbar: „Der Philosoph Karl Jaspers schrieb schon 1958, als ... die protestantischen Fakultäten [noch] peinlich darauf bedacht waren, dass nichts von Luthers Schandschrift bekannt wurde, auf die sich … Julius Streicher vor dem Nürnberger Kriegsver-brechertribunal ausdrücklich berufen hatte: ´Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.´ Und in einem anderen Werk schrieb Jaspers 1962: ´Luthers Ratschläge gegen die Juden hat Hitler genau ausgeführt.´“

Bezeichnenderweise wurden Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts und dessen Verunglimpfungen alles „Undeutschen“ und Artfremden“ mit großer Zustimmung in der völkisch-protestantischen Szene aufgenommen: marxistischer wie katholischer Internationalismus seien die beiden Facetten desselben jüdischen Geistes(!) und die Reformation werde in einer erneuerten protestantisch-deutschen Nationalreligion vollendet – Martin Luther hätte wahrlich seine Freude gehabt. „Luthers Großtat war ... die Germanisierung des Christentums. Das erwachende Deutschtum aber hat nach Luther noch zu Goethe, Kant, Schopenhauer Nietzsche ... geführt, heute geht es in gewaltigen Schritten seinem vollen Erblühen entgegen …“

Dieser Mythus wie Mythos war sowohl den Deutschen Christen als auch den Nationalsozialisten Programm und Verpflichtung; er ist die Lüge, aus dem das hinlänglich bekannte Ungeheuer kroch.

Festzuhalten gilt: Es handelt sich beim Judenhass Martin Luthers nicht „nur“ um „eine dunkle Seite“ des Reformators oder auch der Reformation in toto, vielmehr sind Antijudaismus und Antisemitismus konstituierend für Luthers Welt- und Menschenbild und Grundlage der Judenverfolgung und -vernichtung im Nationalsozialismus. Hitler wurde durch den Einfluss Luthers zum Antisemiten. „… [E]inige Theologen nennen Luther später stolz den ... ´ersten Nationalsozialisten´. Der Reformator aus Wittenberg hat entscheidenden Anteil an der Vorgeschichte des Holocaust in Deutschland.“

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerech-net Martin Luther – Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt des deutschenReiches – von 1940-43 als Leiter der Abteilung D für die Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt sowie für das Ressort D III und somit für „Judenfrage“ und „Rassenpolitik“ verantwortlich war; derart schloss sich ein Bogen über ein halbes Jahrtausend hinweg: Lutherscher Geist durchwehte ein halbes Millenium, bis er im Deutschland der Nationalsozialisten einen Sturm entfachte, der alles hinwegfegte, was ihm in die Quere kam.

„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“

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