Читать книгу Ich muss fast nichts und darf fast alles! - Richard Kaan - Страница 9
Die Dehnung der Zeit
ОглавлениеDie Wissenschaft unterscheidet „junge Alte“ und „alte Alte“ oder spricht vom „dritten“ und „vierten Lebensalter“. Beide meinen so ziemlich dasselbe, nämlich den Zeitraum von ca. 60–80 Jahren und darüber hinaus. Früher war das für uns Jüngere ganz klar: die einen waren die „Oldies“, die anderen die „Kompostis“. Erinnern Sie sich noch an Ihr letztes Klassentreffen? Mir kommt da immer vor: lauter alte Leute. Einer schien mir letztens sogar seinen Vater zum Maturatreffen gesandt zu haben … Wir fühlen uns offensichtlich immer deutlich jünger, als wir tatsächlich sind. Was bedeutet „Alter“ denn wirklich, was gezählte Jahre? Warum vergeht für die einen die Zeit soo langsam, für andere wiederum soo schnell? Ein paar Beiträge von Menschen unterschiedlichen Alters können uns möglicherweise Antwort geben.
Nehmen wir einmal meine Enkelin: süß, blond, schlimm, manchmal sehr schlimm, aber immer überaus süß. Fast fünf Jahre alt. Sie freut sich wie eine Schneekönigin auf ihren fünften Geburtstag. „Sophie, was bedeutet denn dein fünfter Geburtstag?“, frage ich und versuche arglos zu erscheinen, denn sonst wäre der Roller oder das Puppenhaus viel wichtiger als dieses „ernste“ Gespräch. Spontan sagt sie: „Dann kriege ich braune Haare!“ „Aha, und warum?“ „Meine Mami hat braune Haare, genauso wie der Papi und ich habe jetzt noch blonde.“ „Okay, noch was?“ „Dann kriege ich auch dicke Arme!“ „Wofür?“ „Dann kann ich endlich Mamis Uhr tragen“, was bedeutet, dass sie dann ebenso auf ihr Handgelenk passen wird. „Und noch etwas?“ „Ja, dann kriege ich Schulzähne!“ „Was bitte sind Schulzähne?“ „Das weißt du nicht, dummer Opapa? Das sind die Zähne, die dann kommen, wenn ich endlich in die Schule gehen darf!“ Sophie ist also in dem Alter, in dem alles unendlich weit weg ist und kaum zu erwarten.
Ähnlich sah es auch Marianne, als sie selbst noch Schülerin war: Maturanten waren für sie „die Götter in Weiß, denn diese haben es geschafft, sind erwachsen und dürfen nun alles“. Ihre Eltern schienen ihr damals „ur-alt“. Jetzt mit 30+ sieht für sie alles ganz anders aus: Heute sind ihre Altvorderen „richtig jung“, die 18-Jährigen hingegen „Gemüse“.
Und wie fühlt man sich als 50-Jähriger, eventuell sogar mit einem Kleinkind? Florian weiß es: „Ich bin 50 Jahre alt.“ „Na und? – Das sind viele.“ „Ich bin 50 und Unternehmer.“ „Ok, deren gibt es ebenfalls viele.“ „Ich bin 50, Unternehmer und seit Kurzem Vater.“ „Gewonnen, das sind nicht viele. Wie fühlt es sich an, in dem Alter Jungpapa zu sein?“ „Anders, ganz anders. Ich habe schon eine erwachsene Tochter, und nun ein weiteres Kind, das ihre Tochter sein könnte. Plötzlich sehe ich mein Elterndasein ganz anders als damals. Heute habe ich, nein, nehme ich mir die Zeit. Will der Kleinen beim Wachsen zusehen – weil ich jetzt weiß, was ich damals versäumt habe.“ „Hast Du Zukunftsängste?“ „Ängste, nein, nicht wirklich. Aber ganz andere Überlegungen. Als ich zum ersten Mal Vater wurde, war mir die Zukunft eher egal. Der Moment hat gezählt, der Rest würde sich ergeben. Heute? Da denke ich an Verantwortung, habe zum ersten Mal in meinem Leben Gedanken wie: Kann ich lange genug verdienen, damit wir unserer Kleinen eine ordentliche Erziehung und Ausbildung finanzieren können? Wie alt bin ich, wenn die Kleine Abitur macht? Darf ich weiterhin rasante Hobbys ausüben – wenn mir da etwas zustößt? Meine Zeit wird knapp. Ich muss plötzlich vorsorgen, sorgfältig planen und unvermutet spielt mein Alter eine Rolle.“
Lassen wir es schließlich Dru, eine wunderbare Dame aus Sydney in ihren 70ern, die alle Höhen und Tiefen des Lebens erfahren hat, selbst ausdrücken, was alt sein für sie bedeutet: „Jedes Alter, das man gerade hat, ist das Beste, 60 Jahre, 70 oder gar 80? – für jeden von uns hat das Altsein eine andere Bedeutung. Vermutlich gemeint ist aber die Zeit ab 65, weil dann eine Reihe von Änderungen passiert: Du bekommst eine Seniorenkarte, eine Rente und Rabatte auf Reisen oder Versicherungen. Mit 75 sind dann ärztliche Untersuchungen erforderlich, wenn du deinen Führerschein behalten willst. Und mit 85 musst du [in Australien] zusätzlich nachweisen, dass du das Fahren körperlich noch schaffst.
Heute bin ich fast 75 Jahre alt und darf sagen, dass ich mein Leben jetzt mehr denn je genieße. Ich bin glücklich mit der Person, die ich bin, ich fühle mich von Familie und Freunden geliebt und betreut. Um dies zu erreichen, gab es jedoch in meinen jüngeren Jahren viele Erfahrungen, die ich niemandem wünsche. Ich habe jetzt ein Gefühl großer Zufriedenheit, zumal meine drei Jungen zu Männern herangewachsen sind, auf die ich besonders stolz bin. Obwohl ohne Vater groß geworden, sind sie jetzt, in ihren 40ern wunderbare Menschen, die nicht nur meine Söhne, sondern auch meine Freunde geworden sind. Glücklicherweise habe ich zudem einen Partner, der mich liebt, der sein Bestes tut, um mein Leben angenehm, lustig und voller Lachen zu gestalten. Ich merke erst jetzt, dass es Wichtigeres im Leben gibt als materielle Besitztümer.
Also, kurz gesagt, ich liebe das ‚ältere Alter‘ – es ist fantastisch! Ich kann meistens tun, was ich will (innerhalb von Grenzen), ich habe eine tolle Familie und viele Freunde – das Leben meint es richtig gut mit mir!“