Читать книгу Azahrú - Richard Mackenrodt - Страница 12
ОглавлениеLöwen in der Sahara
1
Zwischen den ledernen Einbänden befanden sich mehr als tausend Blätter Papier, die meisten davon doppelseitig und sehr eng mit der Schreibmaschine beschrieben. Aber vor einiger Zeit waren Franz die Farbbänder ausgegangen, und seitdem schrieb er mit der Hand. Seit fast vier Jahren war kein einziger Tag vergangen, an dem er nicht an seinem Werk gearbeitet hatte. Zurzeit lagerte Koumamás Stamm etwa drei Viertel einer Kamelstunde von ihm entfernt, aber Franz hatte trotzdem oft Besuch. Meistens war es Koumamá selbst, der kam, um das letzte Schachspiel fortzusetzen und mich mit kleinen Geschenken zu erfreuen. Ich ärgerte gerade eine der Ziegen meines Vaters, indem ich versuchte, auf ihr zu reiten - was damit endete, dass ich abgeworfen wurde und mich lachend im Sand wälzte. Koumamá hatte Franz eine französische Zeitung mitgebracht, die er auf dem Markt in Agadez erstanden hatte.
»Dein Land hat eine neue Regierung.«
Franz schüttelte ungläubig den Kopf. »Die Zeitung ist eine Fälschung. Du nimmst mich auf den Arm.« Aber sie war echt. Franz hatte diesen Hitler vor ein paar Jahren gesehen, als er in einer Schwabinger Kneipe eine Rede geschwungen hatte. Wenn man das, was diese merkwürdige Erscheinung von sich gegeben hatte, überhaupt eine Rede hatte nennen können. Mehr denn je war Franz froh, nicht in Deutschland zu sein.
»Wie gefällt sie dir?« fragte Koumamá.
Franz lächelte. »Die Zeitung?«
Koumamá verdrehte die Augen. »Du weißt, wen ich meine.«
Franz blickte zur Seite, wo Zara damit beschäftigt war, Wäsche auf die Leine zu hängen. Die junge targia war seit ein paar Monaten so etwas wie Franz‘ Haushälterin. Sie kochte und putzte, und vor allem kümmerte sie sich um mich. Fatou war eines Tages klar geworden: Vater und Sohn brauchten weibliche Unterstützung. Franz war ein miserabler Koch, und bisweilen hatte sich die Ernährung bei ihm auf Brot, Hirsebrei, Datteln und Wasser beschränkt. Im Zelt hatte von Ordnung keine Rede sein können, schmutzige und saubere Kleidung hatten auf einem Haufen gelegen, dazwischen ungespültes Geschirr. Fatou fand, dass eine gewisse Ordnung schon sein musste, gerade wenn ein Kind da war. Außerdem neigte Franz dazu, die Zeit komplett zu vergessen, während er arbeitete, und allzu oft verlor er dabei seinen Sohn aus dem Blickfeld, der sich dann gerne mal alleine zwischen den Dünen herumtrieb und Rennmäuse oder Schlangen jagte. Das war nicht ungefährlich. Ein so kleines Kind, alleine unterwegs, konnte interessant sein für Schakale. Fatou hatte ihre Nichte zweiten Grades gebeten, eine Weile bei Franz zu bleiben, ihm zur Hand zu gehen und für ihn zu kochen, und Zara hatte sich darauf eingelassen. Zuerst nur, um der Frau des Stammesführers einen Gefallen zu tun. Aber mit der Zeit begann es ihr Spaß zu machen, bei uns zu leben. Sie hatte ein eigenes, etwas kleineres Zelt bekommen. Franz war froh über ihre Gesellschaft. Und auf diese Weise gab es ein weibliches Wesen, das mir nahe war. Außerdem war Zara eine hübsche, anmutige Frau, der er gerne zusah, bei allem, was sie tat. Das hatte Fatou natürlich vorausgesehen. Sie verknüpfte die Sache schon auch mit einer gewissen Hoffnung.
»Sie ist nett«, sagte Franz.
»Nur nett?« Koumamá sah ihn aufmerksam an.
»Sehr nett«, bekräftigte Franz.
»Sie könnte einem Mann gefallen.«
Franz musste lächeln. »Sag Fatou, dass es mich sehr berührt, wie viele Gedanken sie sich um mich macht.«
»Ich frage nicht im Auftrag von Fatou«, behauptete Koumamá.
»Nicht?«
Koumamá pustete Luft aus dem Mund. »Gut, ja, sie will wissen, ob es zwischen euch etwas Neues gibt.«
»Zara ist noch sehr jung.«
»Sie mag dich«, sagte Koumamá. Er klang nun, als würde er einreden auf ein krankes Kamel, das seine Medizin nicht nehmen wollte. »Aber wenn du nicht bald…«
»Wenn ich nicht bald was?«
»Wenn du Zara nicht bald zeigst, dass du sie willst, dann denkt sie, du magst sie nicht. Dann wird sie gehen, verstehst du? Franz, du kannst nicht ewig…« Koumamá geriet ins Stocken und sprach nicht weiter.
»Ich kann Luise so lange betrauern, wie ich will«, erwiderte Franz scheinbar ungerührt. »Zara ist eine wunderbare Frau, und deswegen will ich ihr nicht versprechen, was ich dann vielleicht nicht halten kann.«
2
Hermann von Kramm wusste seine Fahne in den Wind zu hängen. Er konnte die Nazis nicht leiden und hielt sie für verbohrte Idioten, aber das hinderte ihn doch nicht, mit ihnen Geschäfte zu machen. Vor vielen Jahren hatte er das Porzellan für den Kaiser und seinen Hofstaat hergestellt, nun erwarb er über seinen Neffen Gerhard das Vertrauen von Heinrich Himmler. Der Chef der SS war ein leidenschaftlicher Sammler von Porzellanfiguren, und von Kramm fand nichts dabei, sich vor seinen Karren spannen zu lassen. Himmler wollte Figuren, die den Geist einer neuen Epoche darstellten, die auf geschmacksbildende Weise helfen sollten, den Deutschen zum nationalsozialistischen Menschen zu erziehen. Dass von Kramm dadurch gezwungen war, gestalterisch Zweitklassiges herzustellen, wen kümmerte das? Es war immer von Vorteil, gut gestellt zu sein mit dem, der gerade die Macht inne hatte. Die Auftragsbücher waren voll, die Manufaktur bekam hohe Subventionen, der Firma hätte es nicht besser gehen können. Der Patriarch versuchte, mit dem geschäftlichen Erfolg sein privates Unglück zu kompensieren, und er gab sich gerne als der kraftstrotzende Macher, der stark war wie ein Baum und den nichts umhauen konnte. Aber wenn er ehrlich war: Seine Frau war viel zu früh gestorben, und dann hatte vor ein paar Jahren auch noch seine über alles geliebte Tochter in der Sahara den Tod gefunden. Sein kleiner Enkel war verschollen und wahrscheinlich ebenfalls längst tot. Konnte ein Mann vor einem solchen Hintergrund noch glücklich sein?
Gerhard Angermair liebte es, wenn andere die Hacken für ihn zusammen schlugen. Das schenkte ihm ein prickelndes Gefühl, das war irgendwie erotisch. Wo immer der Stabsführer der SS auftrat, schlug ihm Respekt entgegen. Die schwarze Uniform, der glänzende Ledermantel, für Gerhard war das wie eine zweite Haut. Ja, er war Teil von etwas Großem, ein wichtiger Bestandteil dieser neuen Zeit. Ihm gehörte Deutschland! Und irgendwann würde ihm auch die bedeutendste Porzellanmanufaktur des Landes gehören! Niemand konnte ernsthaft annehmen, dass Hermanns Enkel irgendwann noch einmal auftauchen würde. Sein Onkel war schwer davon gezeichnet, dass er seine Tochter an die Wüste verloren hatte, und er war nicht mehr der Jüngste. In einigen Jahren würde er das Zepter an ihn weiter reichen.
Gerhard und sein Onkel waren unterwegs zu einem Abendessen mit einem hochrangigen Parteifunktionär, der für seine Villa ein paar große, opulente Porzellanfiguren in Auftrag geben wollte. Ein gedrungener, nicht allzu großer Mann mit Bürstenschnitt sprach Hermann von Kramm auf der Straße an, mit starkem französischem Akzent. Der Leibwächter versuchte den Mann beiseite zu drängen, aber er blieb stehen wie ein Fels. Er stellte sich vor als Guillaume Lamur und behauptete, einer der Männer gewesen zu sein, die im Auftrag von Herrn von Kramm ein halbes Jahr lang jedes Sandkorn der Sahara umgedreht hätten. Gerhard versuchte seinen Onkel weiter zu ziehen, aber der wollte hören, was der Mann zu sagen hatte.
»Onkel Hermann«, sagte Gerhard, »sieh ihn dir doch an. Er wird versuchen, dir Geld aus der Tasche zu ziehen.«
»Warum sind Sie hier?« wollte von Kramm wissen.
»Ich arbeite nicht mehr für die légion«, sagte Lamur. »Ich bin Polizist in Brüssel. Vor kurzem kam ein früherer Kollege auf mich zu und erzählte mir von einem kleinen, blonden Jungen mit heller Haut, den er gesehen hatte. Auf einem Bazar in Agadez. Mitten in der Sahara. In der Begleitung von Tuareg.«
»Mein Enkel«, sagte Hermann von Kramm.
»Davon können Sie ausgehen«, sagte der ehemalige Fremdenlegionär.
»Das ist ja überhaupt nicht gesagt«, gab Gerhard zu bedenken.
»Hörst du nicht zu, du Trottel? Er ist am Leben!« rief der Patriarch und klatschte übermütig die flache Hand auf den schwarzen Ledermantel seines Neffen, so dass der für einen Moment ins Wanken geriet. »Mein Enkel ist am Leben!«
Von Kramm war wie ausgewechselt. Er fühlte sich 20 Jahre jünger und begann Pläne zu schmieden. Diesmal würde er die Angelegenheit nicht irgendwelchen Fremdenlegionären überlassen. Er selbst würde nach Nordafrika reisen und seinen Enkel nach Hause holen! Gerhard versuchte ihn davon abzubringen: die Strapazen, die Hitze, die ganzen unzivilisierten Neger! Das war doch viel zu gefährlich!
»Du klingst wie ein Mädchen«, sagte Hermann von Kramm.
Gerhard wusste: Allzu viel Zeit würde ihm nicht bleiben, um den Plan zu sabotieren. Von einem Parteifreund, einem Apotheker, besorgte er sich eine Mixtur, von der er seinem Onkel bei jeder Gelegenheit ein paar Tropfen ins Essen träufelte. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Hermann von Kramm fühlte sich müde und abgeschlagen. Sein Arzt fand nicht heraus, woran es lag. Dem Patriarchen ging es von Tag zu Tag schlechter. In diesem Zustand war an eine Reise nicht zu denken. Von Kramm haderte mit seinem Schicksal. Es war völlig unabsehbar, wann sein Zustand wieder stabil genug sein würde.
»Weißt du was, lieber Onkel«, sagte Gerhard. »Ich reise für dich in die Wüste. Ich hole deinen Enkel da raus.«
»Du?« Hermann von Kramm schien nicht begeistert. »Du kannst einen Löwen nicht von einem Pelzmantel unterscheiden.«
»Onkel, in der Sahara gibt es keine Löwen«, erwiderte Gerhard.
Von Kramm dachte einen Moment darüber nach. »Nachdem mir der Arzt die Reise verbietet«, jammerte er schließlich, »und ich mich fühle wie ein Lappen im Schmutzwasser - dann fahr eben du. Aber besorg dir Leute, die etwas von der Wüste verstehen.«
Gerhard lächelte und nickte langsam. Das würde er. Oh ja, das würde er ganz gewiss.
3
Zara kam aus dem Zelt. Sie hatte mich gerade zu Bett gebracht. Das Licht der Mondsichel schmeichelte ihrem Gesicht und ließ sie noch schöner erscheinen. Sie setzte sich zu Franz ans Feuer. Er goss ihr die erste Tasse Tee ein. Sie spürte, dass er nervöser war als sonst.
»Was hast du?« wollte sie wissen.
»Nichts«, sagte er. Das war gelogen. Er wollte mit ihr flirten, aber er wusste nicht wie. Er war nie gut darin gewesen, zarte Bande zu knüpfen, aber so schwer wie dieses Mal war es ihm noch nie gefallen. Es fühlte sich komisch an, nach Luise mit einer anderen Frau zusammen sein zu wollen. Als würde er sie betrügen. Als würde er sich selbst betrügen. Als wäre das alles kompletter Schwachsinn. Am liebsten hätte er Zara eine gute Nacht gewünscht, sich in sein Zelt zurückgezogen und sich unter seiner Decke verkrochen. Aber dann würde er niemals mehr einen Vorstoß riskieren. Sie würde bald zum Stamm zurück gehen und sich einen anderen Mann suchen. Wollte er das? Nein, das wollte er nicht. Wenn er andererseits jetzt um sie warb und heute Nacht mit ihr schlief, dann würde sie bleiben, und sie würden Mann und Frau werden. War es das, was er wollte? Diese verfluchte Unentschlossenheit!
»Zara, ich mag dich sehr gerne«, sagte er.
Sie nickte und wich seinem Blick verlegen aus, während sie an ihrem Tee nippte. Franz hörte den Widerhall seiner Worte und konnte nicht fassen, wie holprig sie sich angehört hatten. Zara sagte nichts, aber auch ihre wachsende Unruhe war nun spürbar. Sie erwartete mehr von ihm. Er musste noch irgendetwas sagen. Oder tun. Aber was? Fast hätte er den ganzen Versuch abgebrochen, da griff er auf einmal nach ihrer Hand.
»Du bist so schön«, sagte er, »dass es mir fast die Sprache verschlägt. Aber wenn mir keine Worte mehr einfallen, kann ich dich immer noch küssen.« Er führte ihre Hand an seinen Mund und berührte sie zärtlich mit den Lippen. Sie nahm seine Hand und tat mit ihr das Gleiche. Er rückte näher an sie heran und strich ihr sanft übers Haar.
»Darauf habe ich so lange gewartet«, flüsterte sie.
Sie bewegten sich aufeinander zu, um sich zu küssen, und bemerkten nicht die Kamele, die auf dem Dünenkamm erschienen und deren Reiter sich vor dem Mondschein abzeichneten. Sie waren zu fünft, und sie trugen tagelmust. An ihren Gürteln hingen takubas. Die Männer glitten von den Kamelen, und während sie sich auf die beiden zubewegten, die gerade ein Paar wurden, zogen sie ihre Waffen. Franz realisierte nicht, dass ihn von hinten ein Schwert durchbohrte, auch nicht, als er die Klinge aus seiner Brust austreten sah. Er fiel vornüber in die Glut seines Feuers. Zara stieß einen Schrei aus, der erstarb, als ihre Kehle durchgeschnitten wurde. Sie sank zuckend in den Sand und tränkte ihn mit ihrem Blut, das im Mondlicht schwarz schillerte. Ich war nicht erst von Zaras Schrei wach geworden. Ich hatte die ganze Zeit am Zelteingang gekauert und meinen Vater beobachtet, wie er sein Glück bei Zara versuchte. Nun stand ich mit offenem Mund da und begriff nicht, was da draußen passierte. Die Männer gingen auf das Zelt zu, mit ihren gezogenen Klingen. Im letztmöglichen Moment erwachte ich aus meiner Starre und zog mich ins Innere zurück. Ich wusste, wo die einzige Stelle war, an der ich mich unter der Zeltplane ins Freie scharren konnte. Ein Mann sagte auf Französisch: »Er ist nicht hier!« Und dann auf Deutsch: »Wo steckt der kleine Mistkerl?«
Durch ein kleines Loch in der Plane sah ich, wie der Mann seinen Gesichtsschleier lüftete. Ich kannte ihn nicht, und woher hätte ich wissen sollen, dass es mein Onkel war, den ich vor mir hatte?
»Sucht den Jungen!« befahl Gerhard Angermair nun wieder auf Französisch. »Er muss hier irgendwo sein!«
Während seine Männer nach mir zu suchen begannen, kam Gerhard aus dem Zelt zurück, mit dem dicken Buch, an dem Franz seit vier Jahren arbeitete. Er trug es aufgeschlagen vor sich her.
»Mit diesem Buch«, las er, »möchte ich ein wenig dazu beitragen, dass wir, die Deutschen, die wir uns für so klug und besonders halten, das eine oder andere von den wunderbaren Menschen lernen, über die ich im Folgenden berichten möchte: von den Tuareg in der afrikanischen Sahara, die sie ténéré nennen.« Gerhard trat an die Feuerstelle, in der sein Schwager lag und mit matten Augen zu ihm aufblickte. »Franz, du warst schon immer ein Spinner«, sagte Gerhard und hielt das Buch über die Glut, bis es Feuer fing. Dann ließ er es fallen, so dass die ledernen Einbände Franz‘ Gesicht verdeckten. Ich drehte mich um und begann zu rennen, von einem Dünenkamm zum nächsten, hinein in die Nacht.