Читать книгу Azahrú - Richard Mackenrodt - Страница 4

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PROLOG

Mein Vater hatte mich stets gewarnt: In der Wüste seien schon mehr Menschen ertrunken als verdurstet. Und wenn er es sagte, wie hätte mir einfallen sollen, es nicht zu glauben? Alles, was ich wusste und konnte, hatte er mir beigebracht. Er war unser Stammesführer. Jeder von uns richtete sich nach ihm. Sein Wort war Gesetz. Er war der amenokal. Trotzdem kam es mir vor wie ein Märchen. Wie eine von den Geschichten, die meine Mutter mir früher vor dem Einschlafen erzählt hatte. Meterhohes Wasser in der Wüste, das zwischen den Dünen auf einen zugeschossen kam? Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. In meinem Leben hatte ich bisher genau dreimal Regen erlebt. Magische Momente waren das gewesen. Alle kamen aus den Zelten gelaufen, und wir haben es uns aufs Gesicht regnen lassen, mit ausgebreiteten Armen und hüpfenden Herzen. Jedes Mal hatte es nur wenige Minuten gedauert, dann zogen die Regenwolken weiter. Der flüchtige Zauber war vorbei. Aman iman sagten wir - Wasser ist Leben. Es war das kostbarste Gut, das wir kannten.

Obwohl ich noch ein Kind war, durfte ich zum ersten Mal an der Salzkarawane teilnehmen. Meine Schwester Dafinah war so neidisch, dass sie mir vor der Abreise Sand in die Augen warf. Als ob ich schuld daran gewesen wäre, dass sie nicht mitdurfte. Es war aufregend, mit den Männern auf die Reise zu gehen, die unserem Stamm auch in diesem Jahr wieder das Überleben sichern würde. In den ersten Tagen hatte ich manchmal Heimweh, nach meiner Mutter, unserem Zelt, den anderen Kindern. Ich war der Einzige, der einen Teil des Weges auf einem Kamel reiten durfte. Die Männer gingen zu Fuß. Sie führten die schwer beladenen Tiere vom Morgengrauen bis spät in die Nacht, aber ein elfjähriger Junge war solchen Strapazen über tausende von Meilen noch nicht gewachsen. In jener Nacht, als der Regen kam, lagerten wir in einem wadi, einem ausgetrockneten Flussbett, weil wir dort Schutz fanden vor dem Wind. Und weil wir nicht rechneten mit dem, was mitten in der Nacht über uns herfiel - âdjenna, der Starkregen, den mein Vater mehr fürchtete als jeden Sandsturm. Wenn er kommt, tut er es unvermittelt, und ein wadi wird zur tödlichen Falle, denn es verwandelt sich schneller in ein reißendes Flussbett, als man all die Satteltaschen hinaus schaffen kann. Ich begriff zuerst überhaupt nicht, was vor sich ging. Es war dunkel. Um mich herum schrien die Männer. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Einer stolperte über mich und fluchte. Da erst bemerkte ich: Die Decke, die ich um mich geschlungen hatte, war durchtränkt. Alles war nass. Dicht vor mir stampfte ein Kamel auf, Wasser klatschte mir ins Gesicht. Die Tiere brüllten, ich sah sie schemenhaft in alle Richtungen rennen. Die Männer liefen hinter ihnen her und versuchten sie einzufangen. Die Kälte des Wassers war bereits in meinen Körper gekrochen, ich konnte mich kaum bewegen. Ich hatte Angst und wollte mich zusammenkauern, da wurde ich gepackt und herumgerissen.

»Azahrú!« Mein Vater hatte meinen Kopf zwischen seinen Händen und schrie mich an. »Du musst da hoch! Raus aus dem wadi, hörst du?! Raus! Sofort!« Er zog mich zum Rand des Flussbetts. Um meine Fußknöchel wurde die Strömung des Wassers immer stärker, ich musste mich dagegen stemmen, um nicht fortgerissen zu werden. Mein Vater schob mich den Hang hinauf, aber aus trockenem Sand war Schlamm geworden. Auf allen Vieren robbte ich nach oben, ohne die Hilfe meines Vaters hätte ich es nicht geschafft.

»Lauf auf die höchste Düne!« Seine Stimme stemmte sich gegen den tobenden Lärm. »Na los! Lauf!«

Ich drehte mich um und rannte in die Dunkelheit. Nach oben, immer nur nach oben.

Als die Morgendämmerung kam, hatte der Regen längst aufgehört. Mein Vater untersuchte die Schäden. Ein Teil der Hirse war nass geworden, aber wenn man das Getreide in die Sonne legte, würde es schnell wieder trocknen. Die Kamele hatte man alle wieder eingefangen. Sie waren in Panik geraten und den wadi entlang gelaufen anstatt ihn zu verlassen. So hatten sie sich der Strömung ausgesetzt, und man musste froh sein, dass keines von ihnen ertrunken war. Eines aber war gestürzt und hatte sich beide Vorderläufe gebrochen. Es lag im Sand, der fast wieder trocken war, und schrie seit Stunden, mit lange schon heiserer Stimme. Es musste getötet werden. Mein Vater übernahm so etwas selbst. Er zog seinen Dolch und schnitt ihm die Kehle durch, mit einem einzigen schnellen, langgezogenen Schnitt.

Einer der Männer zerlegte das Tier, um mit dem Fleisch unsere Vorräte aufzufüllen, während die anderen die Kamele sattelten, denn wir hatten keine Zeit zu verlieren. Ich hob gerade meinen Fuß in den Steigbügel, als ich sie sah - die uniformierten Männer auf den Pferden, aufgereiht auf einem Dünenkamm, ungefähr ein Dutzend. Sie trugen unterschiedliche Uniformen - die meisten blau und weiß, die anderen grau. Nur einer war ganz in Schwarz gekleidet. Der Ranghöchste der Blauweißen rief auf Französisch zu uns herunter: »Wer ist euer Anführer?«

Mein Vater zog seinen Gesichtsschleier zurecht, so dass nur noch seine Augen zu sehen waren. Er trat hervor und antwortete in der Sprache des Soldaten: »Ich bin das.«

»Wir kommen in friedlicher Absicht«, sagte der Franzose. »Können wir mit euch sprechen?«

»Ich kann es euch kaum verbieten«, sagte mein Vater. »Die Wüste ist ein freier Ort für Worte wie für Taten.«

Zu dritt kamen sie angeritten, zwei von den Blauweißen und der Schwarze.

»Ich bin Leutnant Trousseau«, sagte der Franzose, der zuvor schon das Wort ergriffen hatte, »und das ist mein deutscher Kollege Major Angermair.«

»Ich bin Koumamá Dandá«, sagte mein Vater.

»Ihr seid Tuareg, nicht wahr?«

»Wir bevorzugen den Begriff imushaq

»Wie auch immer«, sagte nun der Deutsche. Sein Französisch war etwas holprig, aber man konnte es verstehen. »In Europa herrscht Krieg. Europa - ihr wisst, was das ist?«

»Ich habe davon gehört.« Mein Vater mochte den Mann im schwarzen Mantel nicht, das merkte ich sofort. Wir hatten von diesem Krieg gehört, als wir in Kano das Salz eingetauscht hatten gegen Geld und Hirse. Aber Europa war am anderen Ende der Welt und ging uns nichts an.

»Wir suchen Männer, die mutig sind«, sagte der Deutsche. »Die kämpfen können. Seid ihr solche Männer?«

»Wir sind Männer«, entgegnete mein Vater, »die wissen, wie man eine Salzkarawane ans Ziel bringt.«

»Ihr geht tausende Kilometer zu Fuß«, sagte der andere. »Versteht es, dieser furchtbaren Hitze zu trotzen. Was ihr habt, verteidigt ihr mit eurem Leben. Solche Männer suche ich. Genau solche Männer.«

»Wozu?« wollte mein Vater wissen.

»Der Krieg bleibt nicht in Europa. Er kommt auch nach Afrika. Hierher.«

»Warum sollte er das tun?«

»Weil die Welt nach einer neuen Ordnung sucht. Es ist eine besondere Zeit, und es ist jetzt wichtiger als je zuvor, dass man auf der richtigen Seite steht.«

»Wir stehen immer auf der gleichen Seite«, sagte mein Vater. »Und es ist immer die richtige. Weil es unsere ist.«

Um den Mund des Majors spielte ein Lächeln. »Ihr könnt viel Geld verdienen«, sagte er. »Richtig viel Geld. Feste Häuser könnt ihr haben. Mit Mauern. Wo man geschützt ist vor Wind und Regen.« Er blickte kurz zu dem Kamel, das gerade ausgeschlachtet wurde. Dabei blieb sein Blick hängen an dem Einzigen, der zu jung war, um einen Schleier zu tragen - an mir. Als unsere Blicke sich kreuzten, passierte etwas Merkwürdiges: Ich bildete mir ein, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Ich sah Rauch vor mir und Flammen, und meine Beine wurden weich. Er schaute gegen die tiefstehende Morgensonne, musste die Augen zusammenkneifen und beschirmte sie mit der Hand.

»Dieser Junge«, sagte der Deutsche. »Ich möchte ihn gerne sehen.«

Lassad, der neben mir stand, reagierte sofort. Er zog mich hinter das Kamel, und ehe ich auch nur einen einzigen Ton von mir geben konnte, hatte er mich mit festem Griff und der Gewandtheit eines Schakals in eine der am Boden liegenden Satteltaschen gesteckt und diese fest verschlossen. Auch mein Vater blieb scheinbar gelassen. Der Schleier half in solchen Momenten enorm. Der Major konnte den Schrecken auf dem Gesicht seines Gegenübers ganz einfach nicht sehen.

»Welcher Junge?« hörte ich meinen Vater fragen. »Wir haben hier nur erwachsene Männer.«

»Er ist da zwischen den Kamelen«, sagte der Deutsche. »Und er trägt keinen Schleier.«

»Sie meinen Lassad«, erwiderte mein Vater. »Er ist erst 17. Der Jüngste, den wir dabei haben.«

Lassad hatte sich, wie man mir später erzählte, den tagelmust vom Gesicht gerissen, unmittelbar bevor er hervor trat.

»Das ist er nicht«, sagte der Deutsche. »Der hier ist viel größer und hat schwarzes Haar. Der Junge, den ich gesehen habe, ist blond. Und hat hellere Haut!« Er versuchte es nicht zu zeigen, aber es war offensichtlich, dass er in Aufregung geriet.

»Das Licht in der Wüste gaukelt einem manchmal etwas vor«, sagte mein Vater, »das gar nicht da ist.«

»Ich habe den Jungen gesehen«, entgegnete der Major. Die aufkeimende Wut in seiner Stimme war unüberhörbar. Er stieg vom Pferd. »Und ich lasse mich nicht für dumm verkaufen! Ich will ja gar nichts von ihm«, behauptete er. »Nur anschauen will ich ihn.«

Der französische Leutnant wurde unruhig. »Es wäre vielleicht wirklich besser, Sie würden den Jungen hervortreten lassen. Ihm wird nichts geschehen.«

»Sehen Sie sich um«, sagte mein Vater. »Dann werden Sie merken, ich sage die Wahrheit.«

Ich lag in die Satteltasche gezwängt. Suchte dieser Mann nach mir? Aber warum? Und wieso kam er mir so eigenartig bekannt vor? Der Starkregen der letzten Nacht stellte sich jetzt als Segen heraus, denn ein wenig von der Hirse war nicht nur nass gewesen, sondern zu einer zerquetschten Masse geworden, mit der nichts mehr anzufangen war und die wir weggeworfen hatten. Nur deswegen war in der Tasche Platz für mich gewesen. Es wurde nun ruhig. Ich wollte wissen, was draußen vor sich ging, aber durch das dicke Leder drang fast nichts mehr an mein Ohr. Plötzlich fiel etwas auf mich, etwas sehr Schweres, und ich dachte schon, man hätte mich entdeckt. Später erfuhr ich: Sowie der Major begonnen hatte, zwischen den Kamelen hindurch zu gehen, hatte Lassad sich auf die Satteltasche gesetzt, um sie besonders unverdächtig zu machen, und sich in aller Ruhe den getrockneten Schlamm der vergangenen Nacht von den Beinen gekratzt.

»Leo?« hörte ich den Deutschen schließlich rufen. »Bist du hier irgendwo?« Er sagte das nicht auf Französisch, und trotzdem verstand ich es. Die Worte drangen zu mir wie durch einen endlos langen Tunnel. Es tat weh, sie zu hören, in dieser fremden, sperrigen Sprache, die ich trotzdem verstehen konnte. Er rief noch mehrmals nach mir und stieg dann auf die nächste Düne, um sich umsehen zu können. Seine Begleiter, die deutschen und die französischen, sahen ihn, wie man mir anschließend berichtete, schon etwas mitleidig an, als sei er einer Sinnestäuschung erlegen.

»Keiner von meinen Männern«, sagte mein Vater, »will bei Ihnen Soldat werden. Deswegen werden wir jetzt weiter ziehen.«

Aber der Major interessierte sich nicht mehr für den Auftrag, der ihn durch die Wüste führte. »Männer vom Volk der Tuareg«, hob er an, nun wieder auf Französisch. Seine Stimme war jetzt lauter und durchdringender. »Wer mir hilft, diesen Jungen zu finden, bekommt von mir höchstpersönlich Kamele. Nicht zwei oder drei. Auch nicht vier oder fünf. Der Mann, der kommt und die Wahrheit sagt, erhält von mir zweihundert Tiere. Das sind doppelt so viele, wie ihr hier bei euch habt. Das ist ein Vermögen! Das macht aus einem armen Kerl einen schwerreichen Mann! Ihr findet mich in Agadez - sagt einfach, ihr sucht Major Gerhard Angermair von der SS, und man wird euch zu mir führen.«

Die Männer hatten ihre Gesichter alle hinter dem tagelmust, aber ich bin mir sicher: Bei diesem Angebot musste der eine oder andere schon erst mal kurz schlucken.

Es dauerte noch eine halbe Ewigkeit, bis man mich aus der Satteltasche krabbeln ließ. Mein Vater wollte sichergehen, dass die deutsch-französische Abordnung auch wirklich weitergezogen war. Mir tat alles weh, und ich war schweißgebadet. Aber vor allem war ich verwirrt. Hatte dieser Mann wirklich nach mir gesucht? Ich kannte ihn doch gar nicht. Oder etwa doch? Wie war es möglich, dass ich seine Sprache verstand?

Die Männer drängten darauf, endlich aufzubrechen, weil die Sonne sich bereits dem Zenit näherte und es immer heißer wurde. Aber meinem Vater war klar: Zuerst musste er mit mir reden. Wir setzten uns auf eine Satteltasche, in den Schatten eines Kamels.

»Ich hatte immer gehofft«, sagte er, »dieses Gespräch niemals führen zu müssen.«

Mir war mulmig zumute. »Worüber reden wir denn? Was ist los?«

»Azahrú, ich liebe dich, das weißt du. Oder, mein Sohn, das weißt du doch?«

»Natürlich weiß ich das, Vater. Ich liebe dich auch.«

»Deine Mutter liebt dich auch. Sag, dass du das weißt.«

»Ich weiß es.«

Er machte eine Pause. Dabei starrte er vor sich hin und konnte mich nicht ansehen. Er wusste nicht, wie er es über die Lippen bringen sollte.

»Vater«, sagte ich. »Du machst mir Angst.«

»Vor ein paar Jahren«, begann er, »hatte ich einen guten Freund. Seine Haut war hell wie deine, sein Haar hatte die Farbe des Wüstensandes.«

»Wer war dieser Mann?«

»Er hatte eine Frau. Sie war bemerkenswert. Sehr schön und sehr eigensinnig. Ich mochte sie genauso gerne wie ihn.«

Er sah mich an, holte Luft, und dann sagte er den Satz, der mein Leben für immer veränderte.

Azahrú

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