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Die Franzosen

1

Als die Dünen im ersten Tageslicht einen schwachen Schatten zu werfen begannen, saß ich mit weit offenen Augen im Sand und wusste nicht, wer ich war. Es war kalt, aber ich fror nicht. Etwas tobte in mir, aber es war nur der weit entfernte Lärm einer Schlacht, und er ging mich nichts an. So fanden mich die Männer. Einer von ihnen kniete neben mir nieder und sah mir in die Augen. Er betastete meine Hand, meinen Arm.

»Er ist ganz kalt«, sagte er. Ein anderer legte mir eine Decke um die Schultern. »Wer ist das gewesen?« fragte der Mann. Ich antwortete nicht. Sie wechselten Blicke. »Erkennst du mich?« wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf.

»Ich bin Koumamá«, sagte er. »Dein Vater.«

Der Nachtwind hatte den Brandgeruch zu Koumamás Lager getragen. Er hatte sofort ein paar Männer aus dem Schlaf geholt und war mit ihnen hinüber geritten. Im Morgengrauen fanden sie die beiden niedergebrannten Zelte und die halb verkohlten Leichen von Zara und Franz. Einer der Männer war Zaras Bruder. Er sank weinend über ihr zusammen. Die anderen wandten sich ab, ihnen war übel. Koumamá war der einzige, der sich mit einem Stock durch die noch glimmenden Überreste der Zelte kämpfte.

»Der Junge ist nicht da!« rief er. »Ich kann ihn nicht finden!«

»Weil sie ihn geholt haben«, sagte Ibrahim mit tonloser Stimme.

Koumamá nickte. Vermutlich waren die Mörder und Brandstifter hier gewesen wegen des Jungen. Er sah sich um. Es gab nur Spuren von Kamelen, nicht von Pferden. An einem Dornenstrauch hing etwas, ein mit Indigo gefärbtes Stück Stoff. Ein abgerissenes Teil eines Tuareg-Schleiers!

»Das waren imushaq«, sagte einer. »Männer wie wir!«

Koumamá erwog diesen Gedanken nur für einen kurzen Moment. Sollten tatsächlich Tuareg eines anderen Stammes das hier fertiggebracht haben? Einen derart hinterhältigen, feigen Überfall?

»Niemals«, sagte er. »So tief sinken wir nicht.«

»Besitz erzeugt Begehrlichkeit«, gab der andere zu bedenken.

»Allen imushaq in weitem, weitem Umkreis«, sagte Koumamá, »ist eines wohlbekannt: Franz und sein Sohn stehen unter meinem persönlichen Schutz. Also war das hier ein Angriff auf mich und unseren ganzen Stamm. Kann jemand aus dieser Gegend so dumm, ja so wahnsinnig sein, sich dem Zorn auszuliefern, den er damit entfacht?« Koumamá kniete sich vor die Leiche von Franz und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Wir finden deinen Sohn«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und wenn ich dafür bis nach Tripolis reiten muss! Und wenn ich dafür ein Schiff besteigen und bis nach Europa fahren muss. Ich finde ihn, Franz, das schwöre ich dir.«

»Hier sind Fußabdrücke«, rief Ibrahim zu ihnen hinüber. Er stand inzwischen an der rückwärtigen Seite der abgebrannten Zelte. »Sie sind so klein, sie müssen von Leo sein.«

»Sie können von gestern stammen«, erwiderte Koumamá. »Oder von vorgestern.«

»Sie sehen frisch aus«, meinte Ibrahim.

Sie mussten eine Weile nach mir suchen, denn an manchen Stellen hatte der Wind meine Spuren verweht. Ich verstand, was Koumamá zu mir auf tamascheq sagte, und auch seine paar Worte in gebrochenem Deutsch.

»Du bist mein Papa?« war der erste Satz, den ich an ihn richtete, in einer Mischung aus beiden Sprachen. Koumamá nickte stumm.

»Und warum siehst du so traurig aus?«

»Weil ich Angst um dich hatte«, antwortete er. »Du bist davon gelaufen, und wir haben dich gesucht.«

»Warum bin ich davon gelaufen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht hast du etwas Schlechtes geträumt. Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nur, dass ich hier gesessen hatte. Und dass weit entfernte Schreie in meinem Kopf waren, die ich nicht verstand und die ich auch nicht verstehen wollte.

»Wie heiße ich?« wollte ich von ihm wissen.

Er zögerte kurz. »Du bist Azahrú«, sagte er. »Der weiße Löwe.«

Koumamá ritt alleine voraus. Er wollte vor mir bei seinem Stamm sein.

»Ich möchte den Jungen vor der Erinnerung an diese Nacht beschützen, und das kann ich nur mit euch allen zusammen. Ein schwerer, dunkler Vorhang ist vor das gefallen, was er erlebt hat. Von nun an ist er mein Sohn, und auch der von Fatou. Ihr nennt ihn nur noch bei seinem neuen Namen. Ihr erwähnt nicht seine richtigen Eltern. Es ist das Mindeste, was wir Franz und Luise schuldig sind.«

»Was ist mit seiner hellen Haut? Die fällt doch auf.« Es war Lassad, der sich zu Wort meldete. Er war inzwischen ein in die Höhe geschossener Zwölfjähriger mit kantigem Gesicht und wachen Augen.

»Sieh dich um«, sagte Koumamá. »Vor vielen Generationen hatten unsere Vorfahren helle Haut. Dann hatten sie dunkelhäutige Sklaven. Deswegen findest du bei unserem Stamm alle Hautfarben, die Ziegenmilch im shahid zu erzeugen vermag. Meine beiden Töchter: Dafinah ist ziemlich dunkel, Mariamá deutlich heller. Und Azahrú ist eben noch etwas heller.«

Lassad ließ nicht locker: »Seine Haare sind hell wie Wüstensand. So sieht hier sonst keiner aus.«

»Er ist noch klein«, antwortete Fatou. »Die werden dunkler, ganz von selbst, mit der Zeit.«

»Bald werdet ihr diese Fragen vergessen haben«, schloss Koumamá seine Ansprache. »Weil Azahrú ein Teil unseres Stammes sein wird. Es wird sein, als hätte er schon immer dazu gehört.«

2

Meine Ankunft fühlte sich merkwürdig an. Alle sprachen mich ständig mit meinem Namen an. Anscheinend machte man das so, wenn man mit jemandem redete. Ich saß nur verschüchtert da und ließ es über mich ergehen. Ich kannte die Namen der anderen ja nicht, und deswegen hielt ich lieber den Mund. Meine Eltern aber mochte ich schon nach kurzer Zeit. Mutter eroberte mein Herz am schnellsten. Und Vater war der Mann, der von allen am meisten respektiert wurde. Er war jemand, zu dem man gerne aufsah. In der ersten Zeit träumte ich in jeder Nacht von Dingen, die mich schreiend aufwachen ließen: Der Wüstensand stand in Flammen, und ich war davon umschlossen. Manchmal war auch ein Gesicht zwischen den Flammen, von einem Mann, der Sätze sagte wie: »Wo steckt der kleine Mistkerl?« oder »Er muss hier irgendwo sein!« Ich versteckte mich vor ihm, aber er fand mich jedes Mal, egal wie weit ich davon lief, ganz gleichgültig, wie tief ich mich im Sand vergrub oder wie sehr ich mich in eine Felsspalte presste. Wenn ich dann erwachte, tupfte Fatou mir den Schweiß von der Stirn, nahm mich in die Arme, flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr, und ich sog wohlig ihren Duft ein, bis ich weiter schlafen konnte. Meine größere Schwester Mariamá war meistens nett zu mir, im Gegensatz zu Dafinah, die nur wenig älter war als ich. Sie schien mich zu hassen, und ich wusste nicht warum. Dass sie neidisch war, begriff ich erst sehr viel später. Dafinah liebte ihren Vater über alles. Deswegen wäre sie am liebsten ein Junge gewesen, denn dann hätte er ihr alles gezeigt, was ein Junge wissen musste, und in einigen Jahren hätte er sie sogar mit auf die Salzkarawane genommen. Und jetzt? Auf einmal hatte Koumamá einen Sohn bekommen! Nun würde dieser kleine Eindringling das Anrecht haben auf alles, was sie sich so sehr wünschte! Dafinah hatte gute Lust, mir zu verraten, wo ich wirklich herkam und wer meine richtigen Eltern waren. Ein paarmal war sie ganz kurz davor. Aber sie wusste, wie wütend ihr Vater dann auf sie sein würde, und nur deswegen ließ sie es bleiben.

Ich saß vor dem Zelt und zeichnete mit einem Zweig ein Muster in den Sand, als meine Mutter mich unsanft an der Hand ins Zelt zog. Ich beschwerte mich, aber sie meinte, sie wolle mir nur eine Kappe über den Kopf ziehen, um mich vor der Sonne zu schützen. Ich hatte keine Ahnung, was der wirkliche Grund war: Französische Polizisten ritten ins Lager, und sie sollten mich nicht erkennen als einen, der nicht hier her gehörte. Ich bestaunte die Pferde, von denen sie stiegen, um mit Koumamá zu sprechen. Und natürlich ihre Uniformen mit den blinkenden Knöpfen.

»Ânna, was sind das für Männer?« wollte ich wissen.

»Sie glauben, ihnen gehört die Wüste«, sagte Fatou. »Dabei könnten sie darin keine zwei Tage lang alleine überleben.«

Ich wollte zu ihnen laufen, aber Fatou nahm mich wieder bei der Hand und befahl mir, beim Zelt zu bleiben. Sie wollte nicht, dass ich hörte, worüber gesprochen wurde, und das aus gutem Grund.

»Es sind zwei Menschen getötet worden«, sagte Alphonse Dupont, der Polizist mit den meisten Streifen auf der Schulter. Er hatte seine Leute in absolute Alarmbereitschaft versetzt. Sie rechneten jederzeit damit, von ihren Schusswaffen Gebrauch machen zu müssen. Und dabei hielt Dupont den Großteil seiner Männer noch im Verborgenen. Beim ersten Schuss würde eine ganze Hundertschaft, die jetzt noch zwischen den Dünen wartete, das Lager der Tuareg überrollen.

»Ich weiß das«, sagte Koumamá. »Der eine war ein sehr guter Freund von mir, die andere eine Verwandte meiner Frau.«

»Die Leichen sind in der Nähe des Tatorts vergraben worden«, fuhr der Franzose fort und lüftete seine Kappe, um sich mit der Hand in aller Ruhe über seine vor Schweiß leicht glänzende Halbglatze zu fahren. »Wir haben sie einer Obduktion zugeführt.«

»Sie haben sie wieder ausgegraben?« erregte sich Koumamá. »Die Ruhe eines Toten ist etwas Heiliges.«

»Dann haben Sie die Toten verscharrt?«

»Allerdings, das haben wir.«

»Offenbar ist die Tat von Nomaden begangen worden, wie Sie welche sind.«

»Jemand wollte, dass es so aussieht«, sagte Koumamá. »Das ist alles.«

Dupont zog eine Augenbraue hoch. Das war sicher etwas, dachte Koumamá, das er lange vor dem Spiegel geübt hatte, bis er es so gut konnte. »Sie scheinen mehr zu wissen als ich«, sagte Dupont mit dem Anflug eines gönnerhaften Lächelns und setzte die Kappe wieder auf.

»Imushaq sind zu so einer feigen Tat nicht fähig«, erwiderte Koumamá. »Wir leben nach den Regeln des asshaq. Er verbietet uns, einen Wehrlosen anzugreifen.«

»Sie können mir viel erzählen«, sagte Dupont ungerührt. »Aber wenn Sie nichts zu verbergen haben, dann spricht sicher auch nichts dagegen, dass wir mal einen Blick in Ihre Zelte werfen.«

»Nur zu«, meinte Koumamá. »Tun Sie, was Sie für nötig halten.«

Auch in unser Zelt kamen zwei Polizisten. Von mir nahmen sie keinerlei Notiz. Dupont war indessen bei Koumamá stehen geblieben und versuchte einen Plauderton anzustimmen.

»Wie lebt es sich denn so in der Wüste? Gibt es gar nichts, das Sie vermissen?«

Koumamá musterte ihn. »Warum fragen Sie?«

»Es ist ein Zeichen von Zivilisation, wenn man sich in Wartepausen höflich miteinander unterhält.«

»Sie verzeihen bitte«, sagte Koumamá, »wenn ich mit Ihnen nicht über die Wüste spreche. Ich würde mir vorkommen wie ein Adler, der mit einer Schildkröte über die Jagd diskutiert.« Er war auf den feindseligen Blick gefasst, den er bei seinem Gegenüber verursachte, aber es entsprach einfach nicht seiner Natur, sich Unverschämtheiten kommentarlos gefallen zu lassen.

Inzwischen fanden die Polizisten in unserem Zelt etwas, das sie interessierte. Im hintersten Winkel, verborgen zwischen verschnürten Ledermatten, holten sie große Bilder hervor, die auf Rahmen gespannt waren. Die Gemälde waren höher als die takuba meines Vaters lang war. Das oberste zeigte einen Sonnenaufgang hinter Sanddünen, das zweite war ein sehr beeindruckendes Abbild meines Vaters. Ich fand die Bilder wunderschön. So etwas hatte ich nie zuvor gesehen.

»Monsieur, das sollten Sie sich ansehen«, sagte einer der Polizisten, als er mit dem Sonnenaufgang aus dem Zelt kam. Damit war die Angelegenheit für Dupont besiegelt.

»Diese Bilder haben Sie von dem deutschen Mann, nicht wahr?« fragte er. »Ich bin gespannt, was wir noch so finden, wenn wir eine Weile suchen.«

Koumamá schnaubte: »Wie ich schon sagte, er war ein Freund. Die Bilder sind von seiner Frau und waren ein Geschenk.«

»Ich nehme Sie jetzt fest«, sagte Dupont, »und ich erwarte, dass Sie keinen Ärger machen.«

»Ich habe nichts getan, Monsieur.«

»Es ist nicht meine Sache, das zu klären. Dafür haben wir Gerichte. Ich nehme an, Sie wissen, was das ist, ein Gericht?« Dupont schnippte mit den Fingern und deutete auf Koumamá. Im selben Moment traten zwei Polizisten auf den Stammesführer zu.

»Hände auf den Rücken«, befahl einer von ihnen. Ein halbes Dutzend Tuareg-Männer traten zwischen die Polizisten und ihren Anführer, die Hände auf den Griffen ihrer takubas.

»Haltet euch raus!« rief Koumamá auf tamascheq. »Er hat noch sehr viel mehr Männer, hier ganz in der Nähe!«

Seine Leute zögerten.

»Na los!« bekräftigte Koumamá seine Anweisung. Die Männer zogen sich unwillig wieder zurück.

»Woher wissen Sie das?« wollte Dupont wissen. »Das mit den Männern.«

»Sie sprechen meine Sprache?« Koumamá war überrascht.

»Ich bin kein solcher Idiot, wie Sie gerne glauben möchten«, antwortete der Franzose. »Also bitte, nur aus Neugier: Woher haben Sie es gewusst?«

»Ihre Männer«, meinte Koumamá, »sind da hinten.« Er deutete auf eine Düne. »In der Luft sind leichte Spiegelungen. Die Männer haben zu viel Glitzerzeug an ihren Uniformen.«

»Nehmt ihn fest«, wandte Dupont sich an seine Männer. »Und die da auch.« Damit meinte er die Gefolgsleute von Koumamá, die versucht hatten ihn zu verteidigen.

»Ihr lasst euch entwaffnen und wehrt euch nicht, habt ihr verstanden?« gab Koumamá ihnen eindringlich zu verstehen. Die Männer gaben ihre Schwerter nur widerwillig ab, und sich fesseln zu lassen fiel ihnen noch schwerer. Die Tuareg wurden aneinander gebunden, mit Koumamá vorneweg, der wiederum an ein Pferd gebunden wurde, hinter dem er hertrotten musste.

»Wo geht abba hin?« fragte ich meine Mutter, als Koumamá und die anderen mit den Franzosen das Lager verließen.

»Er macht einen Ausflug«, sagte Fatou und verbarg ihre Betroffenheit, die an Panik grenzte. »Nur einen kleinen Ausflug.«

3

Im Lager herrschte Sprachlosigkeit. Fatou befahl Mariamá, mich unter allen Umständen im Zelt zu halten, denn ich sollte von dem, womit sie nun rechnete, nichts mitbekommen.

»Wir hätten uns wehren sollen«, sagte einer.

»So, hätten wir das?« erwiderte Fatou energisch. »Ich sage dir, was sie getan hätten. Sie hätten uns abgeschlachtet. Es wäre das Ende unseres Stammes gewesen.«

»Das ist auch das Ende unseres Stammes«, erwiderte Ibrahim. »Sie wissen jetzt, dass sie mit uns machen können, was sie wollen!« Der Beifall, den er bekam, zeigte, dass die meisten Stammesmitglieder seiner Meinung waren. Sein Sohn Lassad trat neben ihn und rief: »Das Problem ist der Junge mit den blonden Haaren! Er gehört nicht hierher! Nur wegen ihm haben wir den ganzen Ärger!« Der Beifall schwoll noch mehr an. Hitzige Rufe von anderen mischten sich darunter.

»Ja!«

»Geben wir ihn raus!«

»Er hat hier nichts zu suchen!«

Fatou drängte sich in die Mitte der Diskutierenden, und mit einem einzigen wütenden »Essûnfá!« schaffte sie es, die aufgebrachte Menge zum Schweigen zu bringen.

»Ein für allemal: Azahrú steht unter unserem Schutz. Der asshaq verbietet uns, daran etwas zu ändern! Wer von euch will gegen den asshaq verstoßen? Wer? Lasst es mich wissen.« Sie drehte sich langsam um die eigene Achse und blickte streng in die Runde.

»Koumamá und ich«, fuhr sie mit fester Stimme fort, »haben ihn als Sohn angenommen. Damit ist er ein imushaq! Ist irgendjemand hier, der das noch nicht begriffen hat?«

Alle schwiegen, niemand wagte es, dagegen das Wort zu erheben.

»Lasst uns überlegen«, fuhr Fatou in wesentlich ruhigerem Tonfall fort, »was wir tun können. Ich fürchte, unsere Männer sind darauf angewiesen, dass uns etwas einfällt.«

Fatou sah Ibrahim auffordernd an. Er ahnte, was sie von ihm erwartete, aber der Blickkontakt endete damit, dass er die Augen niederschlug. Lassad zupfte an seinem Ärmel.

»Vater, wir brauchen einen neuen Anführer«, sagte er.

»Unser Anführer ist Koumamá«, erwiderte Ibrahim. »Wir brauchen nur einen Stellvertreter.«

»Trotzdem muss sich jemand finden, der diesen Platz einnimmt«, sagte Fatou. Sie sah in die Runde, aber keiner der Männer vermochte ihrem Blick stand zu halten.

4

Hermann von Kramm schien zu schrumpfen, als sein Neffe ihm die Botschaft überbrachte. Der Mann, der ein Leben lang vor Energie gestrotzt hatte, war nur noch ein kleines Bündel ohne Leben.

»Du bist dir ganz sicher?« fragte er leise.

»Es gibt keinen Zweifel«, sagte Gerhard. »Leider.«

»Wie ist es passiert?«

Gerhard schwieg.

»Wenn du dir so sicher sein kannst«, fuhr Hermann fort, »dann wirst du auch wissen, wie es vor sich gegangen ist.«

»Sie starben einen schrecklichen Tod. Deswegen zögere ich, dir davon zu berichten.«

»Rede endlich!« befahl Hermann. »Mach den Mund auf, du Schwachkopf!«

Sein Neffe gehorchte sofort: »Primitive Nomaden haben sie überfallen. In der Nacht. Sie wurden ausgeraubt. Dabei hat man sie verstümmelt und verbrannt.«

»Feiges Pack«, stammelte Hermann von Kramm. »Was für ein unendlich feiges Pack.«

Er hatte alles verloren. Ein schwerreicher Mann mit Macht und Einfluss, für den es nichts mehr gab, das ihm wirklich etwas bedeutete. Er zog sich aus der Münchner Gesellschaft zurück, man sah ihn kaum noch auf Konzerten oder im Theater. Nur zu Veranstaltungen der Partei ging er noch hin und wieder, um es sich mit den Regierenden nicht zu verderben. Gerhard Angermair beobachtete, wie sein Onkel innerhalb weniger Wochen um Jahre alterte. Es bereitete ihm Freude, dabei zuzusehen, denn ihm wurde von Tag zu Tag klarer: Der Alte würde es nicht mehr lange machen. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde er sich aus den Geschäften zurückziehen und ihn als neuen Direktor einsetzen. Denn Onkel Hermann ging die Familie über alles, und sein nächster Verwandter war nun sein ihm treu ergebener Neffe. Der inzwischen auch schon begonnen hatte, Verantwortung innerhalb der Firma zu übernehmen (um sich auf seinen Aufstieg schon einmal vorzubereiten). Trotzdem behielt Gerhard seinen Rang innerhalb der SS, die beiden Aufgaben ließen sich gut miteinander verknüpfen. Sehr gut sogar, denn Heinrich Himmler hatte seit jeher eine besondere Vorliebe für pathetisch angehauchte Porzellan-Figuren gehabt, und deswegen gestattete er seinem Zögling Angermair gerne, einen großen Teil der Porzellan-Produktion ins Konzentrationslager Dachau zu verlegen. Himmler mochte es, wenn Häftlinge die Symbole ihres Untergangs selbst anfertigten, das verschaffte ihm besondere Befriedigung. Gerhard hätte sogar die gesamte Produktion nach Dachau verlegt, aber das wollte Onkel Hermann nicht.

»Wenn ich das mache«, sagte er, »kann ich bald nur noch diesen scheußlichen deutschnationalen Kitsch herstellen, und das wäre ein großer Fehler.« Das von Krammsche Porzellan war stilistisch breit aufgestellt, so gab es etwa Geschirrsets mit afrikanisch inspirierten Mustern und Vasen, die asiatischen Vorbildern nacheiferten.

»Es wäre besser, wenn wir keine fremdartigen Artikel mehr produzieren würden«, gab Gerhard zu bedenken. »Irgendwann kommt der Tag, da wird man sie aus unserem Programm streichen, ob es uns gefällt oder nicht.«

Sein Onkel sah ihn abschätzig an. »Neffe Gerhard«, sagte er. »Es gibt einen Markt für exotische Waren, und solange das so ist, biete ich sie an. Was glaubst du: Warum stelle ich diesen minderwertigen Nazi-Nippes her? Weil die Parteigrößen mich dafür lieben. Es bringt mir ein paar nicht zu unterschätzende Vorteile. Aber ich könnte es nicht ertragen, nur noch für solch widerlichen Ramsch zu stehen. Deswegen wird es bei mir auch weiterhin kulturelle Vielfalt geben. Und niemand, glaub mir das, wird jemals irgendetwas aus meinem Programm streichen.«

»Du hörst dich nicht gerade vaterländisch an«, sagte Gerhard. Er versuchte, etwas Drohendes in seinen Blick zu legen.

»Na und?« erwiderte der Onkel. »Irgendwann, mein Lieber, sind die Nazis auch wieder weg vom Fenster. Was willst du tun? Mich denunzieren?« Er lächelte mitleidig.

»Halt dich bitte zurück«, sagte Gerhard. »Ich bin nicht irgendwer.«

»Doch, das bist du.« Hermann verließ den Wohnraum seiner Villa, vorbei an all den illustren Sammlerstücken aus aller Welt. »Genau das bist du.«

Gerhard blickte ihm ausdruckslos hinterher. Er ballte die Hand zur Faust und vermisste dieses Tuareg-Schwert, das sich zwischen seinen Fingern so großartig angefühlt hatte, als er seinen Schwager damit durchbohrt hatte. So sinnlich. Besser als jede Pistole.

5

Keiner der verbliebenen Männer wagte es, aus dem Schatten meines Vaters heraus zu treten. Meine Mutter wusste aber, es würde nicht viel Zeit bleiben, um Koumamá und die anderen zurück zu bekommen. Vielleicht war es sogar jetzt schon zu spät. Also fing sie an, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu erteilen. Niemand widersetzte sich. Sie bestimmte eine Handvoll Männer, die sie begleiten sollten, dann wurden die mehara gesattelt, und sie ritten los. Meine Mutter machte sich auf die Suche nach anderen imushaq. Einen Stamm der kel iferouane vermutete sie ein bis zwei Tagesreisen in nordwestlicher Richtung. Es hatte ihr keine Ruhe gelassen, dass die Männer, die Franz und Zara getötet hatten, in Tuareg-Gewändern aufgetreten waren. Dafür gab es nur zwei Erklärungen: Entweder sie waren tatsächlich welche gewesen, oder sie hatten sich verkleidet. Das galt es heraus zu finden.

Es dauerte drei Tage, bis die Abordnung unseres Stammes auf die gesuchten Nomaden traf. Der amenokal der kel iferouane war mehr als betrübt, als er von Koumamás Festnahme erfuhr. Er rollte erst einmal seinen Gebetsteppich aus und betete für unsere Männer. Fatou und die anderen nahmen in aller Ruhe daran teil, und erst als ihnen anschließend Tee serviert wurde, fingen die Beratungen an. Niemand konnte sich vorstellen, dass Tuareg den Überfall begangen haben konnten. Jeder einzelne targi zwischen Mali und Tamanrasset kannte die Geschichte von Franz und Luise, die ihr Leben in den Bergen verloren hatte. Sie alle wussten, dass Franz und sein Sohn unter Koumamás Schutz gestanden hatten. Ein targi, der sich darüber hinwegsetzte, musste entweder wahnsinnig sein oder moralisch völlig verdorben.

»Dieser dreckige Mord«, sagte der amenokal der kel iferouane, »ist tragisch für Koumamá und seinen Stamm, aber er betrifft auch uns. Denn er bringt uns in Verruf. Uns alle. Die Menschen in den Städten, hinter den Mauern, die sie Häuser nennen, sie werden sagen: Wir haben es doch immer gewusst - die Tuareg sind feige Verbrecher. Sie achten weder Gesetz noch Menschenleben. Eines Tages werden sie in die Städte kommen und uns töten. Greifen wir also zu den Waffen und kommen wir ihnen zuvor. Genau das werden sie sagen. Die Ehre aller Nomaden der ténéré steht auf dem Spiel!«

Der amenokal mobilisierte seinen gesamten Stamm, der mehr als dreimal so groß war wie der unsrige. Sie schwärmten aus in alle Himmelsrichtungen, und schon am nächsten Tag kam einer der Männer zurück mit einer interessanten Nachricht: Auf einem Markt in der Nähe hatte ein targi eine Taschenuhr angeboten. Fatou erkannte die Uhr sofort - sie hatte Franz gehört. Noch am gleichen Abend erhielt der Händler Besuch. Jemand rüttelte an seinem Zelt. Als er die Eingangsmatte beiseite schob, stand er vor über 20 verschleierten Männern und einer unverschleierten Frau. Er behauptete, die Uhr einem targi abgekauft zu haben, den er gar nicht kannte. Fatou glaubte ihm nicht. Erst als drei Männer seinen rechten Arm festhielten und ein vierter sich anschickte, ihm die Hand abzuschneiden, keuchte er - halb wahnsinnig vor Angst - sein Geständnis in die Nacht. Er und drei weitere Tuareg hatten sich für eine Menge Geld anheuern lassen, um den kleinen Jungen und seinen Vater zu töten! Von einem Mann, der Französisch gesprochen hatte, aber kein Franzose war! Haupt-sächlich sei es um den Jungen gegangen, aber den hatten sie nicht gefunden.

Der Händler wurde noch in derselben Nacht auf einem mehari festgebunden und anderthalb Tage später den Franzosen vorgeführt.

Dafinah sah die Rückkehrer als erste. »Sie sind wieder da!« rief sie, und ihre Stimme überschlug sich. Ich rannte aus dem Zelt, und mit vielen anderen liefen wir ihnen entgegen. Koumamá ritt vorneweg, ein König, der aus dem Exil zurückkehrte. Mein Herz füllte sich mit Glück und schien zerplatzen zu wollen.

Azahrú

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