Читать книгу Azahrú - Richard Mackenrodt - Страница 9
ОглавлениеBilder in den Bergen
1
»Der asshaq ist«, begann Koumamá, »wie ein Fels, den die Götter einst in den Sand gerammt haben. Was wir tun, und warum, ist durch ihn geregelt.«
Franz begann zu verstehen. Der asshaq war so etwas wie ein Ehrenkodex, definierte Wertvorstellungen und Ideale.
»Er ruft uns auf zu Haltung. Disziplin. Wenn der Tag schwer ist, und die Nacht sogar noch schlimmer - wir lassen uns trotzdem nicht gehen. Weil der asshaq uns sagt: Auf jede Nacht folgt ein Morgen, mit neuen Möglichkeiten. Also halten wir den Rücken gerade, und unser Blick bleibt klar.«
Franz dachte bei sich, dass man das sehen konnte. Das Erscheinungsbild der Tuareg mochte oft einfach sein. Aber es war immer voller Würde.
»Vor allem aber«, fuhr Koumamá fort, »lehrt er mich eines: Die Welt verdient meine Achtung. Ein Mensch. Ein Tier - ob es mich bedroht oder ich es essen will. Eine Pflanze - ob sie mich sticht oder meine Krankheit heilt. Ein Sandkorn, ein Stein. Alles ist Teil des Ganzen. So wie ich.«
Mit ihren Bildern hätte Luise längst eine Ausstellung abhalten können, so viele waren es geworden. Ihre Schaffenskraft explodierte. Die Leinwände waren ihr längst ausgegangen, aber das machte nichts, sie hatte entdeckt, dass es sich auf Ziegenhäuten auch gut malen ließ. Koumamá war noch immer ihr Lieblingsmotiv. Inzwischen hatte er seine Gegenwehr längst aufgegeben und fühlte sich sogar geschmeichelt, dass sie so wild darauf war, ihn zu bannen beim Zubereiten von shahid, beim Feuermachen, beim Ritt auf dem mehari oder beim Schärfen seiner takuba.
Fatou spürte wohl, dass die Frau aus Europa für ihren Mann an Bedeutung gewann. Dass er sie zu beeindrucken versuchte. Dass sein Lächeln etwas Werbendes an sich hatte, wenn es Luise galt. Aber sie spürte: Seine Verehrung war voller Respekt. Also blieb sie gelassen, wenn die beiden zusammen saßen und sich gegenseitig zum Lachen brachten. Fatou wusste: Männer waren eitle Vögel und zeigten einer Frau gerne ihre Federn. Wenn man sie ließ, waren sie auch im Zelt der Familie gut zu haben.
Franz tat sich nicht so leicht mit der enger werdenden Freundschaft zwischen der Künstlerin und ihrem Modell. An manchen Tagen bekam er Luise kaum zu sehen, weil sie mit Koumamá in die Dünen ritt, um ihn dort zu malen. Ein andermal verschwanden sie in den Bergen und kehrten erst am späten Abend zurück. An einem weiteren Tag durchquerte Koumamá mit ihr ein wadi und zeigte ihr, wie man darin ein Wasserloch aufspüren konnte. Luise brachte von den Ausflügen stets ein neues Bild mit. Das war immerhin ein Beweis für ihre künstlerische Arbeit, genügte aber bald nicht mehr, um Franz zu beruhigen. Er spürte Eifersucht in sich aufsteigen. Er ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, Luise könnte im Schutz der Dünen in Koumamás Armen liegen. Franz kämpfte dagegen an, sagte sich, dass seine Frau ihn liebte, ein Kind von ihm bekam, und dass Koumamá ein Freund war, dem nichts ferner lag als unüberlegte Handlungen. Aber wenn die Eifersucht sich erst einmal ins Gemüt gefressen hat, lässt sie sich mit Argumenten nicht mehr abspeisen. Dann hat sie Hunger auf mehr.
Fatou erriet die Sorgen, die Franz sich machte. Sie sah es ihm an, wenn er Luise und Koumamá hinterher blickte, beim Aufbruch in die Wüste, mit Farben und Ziegenhäuten in den Satteltaschen.
»Wir können nur von Menschen betrogen werden«, sagte sie unvermittelt, »denen wir vertrauen.«
Franz fühlte sich ertappt. »Was meinst du?« fragte er.
»Du bist eifersüchtig.«
»Du etwa nicht?«
»Würde er mich betrügen«, meinte Fatou, »wäre ich die erste, die es wüsste. Keinen Wimpernschlag lang könnte er mir etwas vormachen. Darum weiß ich, dass die Gefahr nicht droht. Ihm gefällt die Aufmerksamkeit, die Luise ihm schenkt. Sie fühlt sich von ihm beflügelt. Damit schenken sie einander etwas Besonderes. Warum sollen wir ihnen das nicht gönnen? Jemanden lieben heißt, ihn sein lassen, was er ist, findest du nicht?«
2
Die Soldaten kamen um die Mittagszeit. Sie trugen blaue Uniformen und saßen auf großen, schlanken, dunklen Pferden. Es waren Franzosen. Ihr Anführer, ein capitaine, wollte den Stammesführer sprechen. Koumamá trat aus dem Zelt und forderte ihn in passablem Französisch auf, vom Pferd zu steigen. Mit einem Mann, der auf ihn herabsah, würde er nicht sprechen. Der capitaine erhob sich aus dem Sattel, zwei seiner Unteroffiziere taten es ihm gleich und flankierten ihren Vorgesetzten. Die Männer setzten sich in den Sand, der capitaine zog eine große Papierrolle aus seiner Uniform hervor, die er vor Koumamá ausbreitete. Fatou servierte den Männern Wasser, in dem kleine Minzzweige schwammen. Die Rolle zeigte verschiedene Zeichnungen: ein großes, komfortables Haus, von außen und von innen; einen Schmied, wie er ein Hufeisen schmiedete; einen Zimmermann, der eine Holzlatte bearbeitete. Ganz unten gab es eine Darstellung, die eine Menge Geld zeigte, Scheine und Münzen. Die Besucher wollten den Nomaden die Vorteile des sesshaften Lebens schmackhaft machen. Wenn sie ihnen nach Agadez folgten, würde jeder von ihnen feste Arbeit und ein gemauertes Haus bekommen. Mit dem Geld, das sie dann bekämen, könnten sie ein ganz anderes Leben führen als hier, nicht so karg und entbehrungsreich. Ihre Kinder könnten zur Schule gehen und hätten eine Zukunft vor sich mit allen nur erdenklichen Möglichkeiten. Der capitaine deutete auf den kleinen Lassad, der gekommen war und den Männern neugierig zuhörte. Dieser Junge da hätte die Chance, später ein erfolgreicher Kaufmann zu werden. Oder ein Arzt. Ein Anwalt. Er könnte ein angesehener Mann sein.
Koumamá hörte sich alles in Ruhe an. Erst als der capitaine fertig war, rückte Koumamá den tagelmust zurecht und ließ sein Gegenüber wissen, was er zu sagen hatte.
»Wenn Sie das Wasser festhalten, mon cher capitaine, was wird passieren?«
»Wie bitte?« Der Offizier sah ihn verwirrt an.
Koumamá deckte seinen Becher zu, um seine Rede zu illustrieren. »Es wird brackig. Abgestanden. Irgendwann fängt es an zu stinken. Und wenn Sie die Luft nehmen und einschließen, was passiert? Sie wird muffig.«
»Vermutlich«, sagte der capitaine.
»Das Gute bleibt gut«, sagte Koumamá, »solange es sich ungehindert bewegen kann. Sobald wir Ordnung hinein bringen und es unseren Regeln unterwerfen, verwandelt es sich in sein Gegenteil. Können Sie mir noch folgen?«
»Selbstverständlich.« In der Stimme des capitaine schwang bereits Ärger mit.
»Mein Volk empfindet Gebäude als Gefängnisse. Das ist unsere Natur. Wir heilen unsere Krankheiten selbst. Wir finden Wege, unsere Auseinandersetzungen zu lösen, ohne einen Anwalt bemühen zu müssen.« Koumamá deutete auf die Armbanduhr des capitaine, auf die der seit Beginn des Gespräches ab und zu einen Blick geworfen hatte. »Sie, capitaine, haben eine Uhr. Aber wir haben die Zeit. Sie mögen das vielleicht nicht verstehen, aber wir lieben unser Leben genau so, wie es ist.«
»Sie hatten Recht«, sagte der capitaine zum Unteroffizier, der links neben ihm im Sand saß. »So wird das nichts.« Er stand auf und klopfte sich den Sand von der Hose. »Ich möchte Ihre Pässe sehen. Von jedem einzelnen Stammesmitglied.«
Auch Koumamá erhob sich, aber ohne jede Eile. »Wozu?« wollte er wissen.
»Sie befinden sich auf französischem Hoheitsgebiet«, sagte der capitaine. »Ich muss Ihre Identität feststellen. Dazu bin ich verpflichtet.«
»Sie wissen sehr gut«, erwiderte Koumamá, »dass wir so etwas nicht besitzen. Keiner von uns.«
Der capitaine wiegte bedenklich seinen Kopf hin und her. »Das ist aber gar nicht gut. Das ist gewissermaßen ein Problem.« Er sah Koumamá lange und aufmerksam an. Koumamá erwiderte den Blick mit stoischer Ruhe.
»Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?« fragte der capitaine schließlich und deutete noch einmal auf die Rolle, die einer der Unteroffiziere inzwischen wieder zusammengerollt hatte.
»Woanders finden Sie bestimmt Leute, die Ihnen folgen«, sagte Koumamá.
»Ich habe vorhin ein oder zwei Schwerter gesehen«, merkte der capitaine an, als falle ihm das ganz nebenbei noch ein. »Das geht natürlich nicht. Sie sind nicht befugt, Waffen zu tragen. Ich muss Sie auffordern, alle Stich- und Schusswaffen einsammeln zu lassen und abzugeben.«
Lassads Vater Ibrahim, der sich zu seinem Sohn gesellt hatte, zog ohne zu zögern seine takuba aus der Scheide und hielt sie kampfbereit den Franzosen entgegen.
»Niemand bekommt meine Waffe«, sagte er auf tamascheq. »Es sei denn, er will Bekanntschaft mit der Klinge schließen.«
Im gleichen Augenblick richteten sich ein gutes Dutzend Gewehre auf ihn. Die Tuareg hielten den Atem an. Inzwischen hatten sich einige in Hörweite versammelt. Einige Männer legten die Hände auf den Griff ihrer takuba.
»Ibrahim!« sagte Koumamá mit scharfer Stimme. »Steck die Waffe weg. Sofort.«
Nach kurzem Zögern ließ Ibrahim die takuba wieder in die Scheide gleiten.
»Auf den Boden«, befahl der capitaine. »Er soll sie auf den Boden legen.«
»Tu, was er sagt«, ordnete Koumamá an.
Ibrahim warf seinem Stammesführer einen wütenden Blick zu, bevor er der Aufforderung folgte, die takuba wieder herauszog und mit der Spitze voran zu Boden warf, so dass die Klinge im Sand stecken blieb.
Der capitaine machte jetzt kurzen Prozess. Alle Männer mussten ihre takubas abgeben. Bald steckten mehrere Dutzend Schwerter im Sand, ein stählerner Wald, der in der Sonne funkelte. Der Franzose kündigte an, sämtliche Männer des Stammes in vorläufigen Gewahrsam zu nehmen, um an geeigneter Stelle ihre Identitäten zu klären - und sie täten gut daran, sich gegen diese Maßnahme nicht zu wehren. Koumamá besprach sich mit seinen Leuten. Sie waren sich einig. Darauf durften sie sich nicht einlassen. Diesen Kerlen war nicht zu trauen. Wenn die Franzosen die Männer des Stammes erst einmal in ein finsteres Loch gesteckt hatten - wer garantierte ihnen, dass man sie darin nicht verrotten ließ? Außerdem konnten sie ihre Frauen und Kinder nicht schutzlos zurück lassen. Was, wenn die Soldaten sich über ihre Frauen hermachten? Koumamá wusste, dass er es auf eine Konfrontation ankommen lassen musste. Viele von ihnen hatten noch eine zweite takuba in ihren Zelten. Es würde schwer werden, sich gegen die Gewehre der Franzosen zu verteidigen, aber andererseits waren die keine Männer der Wüste und wussten nicht, wie man sich, schnell wie ein Schakal, den Augen eines Jägers entziehen konnte. Dennoch war klar: Wenn die Franzosen anfangen würden zu schießen, würde es Verluste geben. Männer seines Stammes würden verletzt oder gar getötet werden. Aber er hatte keine andere Wahl. Koumamá wollte gerade vor den capitaine treten. Im Hintergrund waren die Frauen bereits damit beschäftigt, die takubas aus den Zelten zu holen. Da stellte Franz sich dem Stammesführer in den Weg.
»Lass mich mit ihnen reden«, sagte er.
»Wozu?«
»Ich bin Europäer. Er wird mich respektieren.«
»Von dir will er aber nichts.«
»Vielleicht kann ich trotzdem etwas ausrichten«, sagte Franz. »Lass es mich wenigstens versuchen.«
Koumamá trat beiseite, zum Zeichen, dass er einverstanden war. Auch wenn er sich von Franz‘ Bemühungen nicht viel versprach.
Franz sprach mit dem Offizier in fließendem Französisch und mit ausgesuchter Höflichkeit. Er stellte sich, seine Frau und den Zweck ihrer Reise vor und kam dann zum Punkt. »Monsieur le capitaine, ich nehme an, es geht Ihnen vor allem darum, diese Menschen zur Sesshaftigkeit zu bewegen, nicht wahr?«
Der capitaine wunderte sich. »Sind Sie jetzt hier der Unterhändler? Ein Deutscher als Sprecher eines Beduinen-Stammes?«
»Ich kenne diese Leute«, sagte Franz. »Ich denke, ich kann sie dazu bewegen, ihre Lebensweise zu ändern.«
»Wie wollen Sie das machen?«
»Ich weiß, wie man mit ihnen reden muss.«
Der capitaine zuckte mit den Schultern. »Dann reden Sie mit ihnen.«
Es gelang Franz, ein Ultimatum auszuhandeln. Wenn er es schaffen würde, die Nomaden innerhalb von 24 Stunden dazu zu bringen, ihrer Sesshaftigkeit vertraglich zuzustimmen und innerhalb von drei Tagen den Weg nach Agadez anzutreten, so würden die Franzosen niemanden gefangennehmen und sich darauf beschränken, den Transfer des Stammes in die Stadt zu überwachen. Als Franz den Tuareg diese Nachricht überbrachte, schenkte Koumamá ihm ein höchst anerkennendes Lächeln. Natürlich war Franz beim Aushandeln der Bedingungen klar gewesen, dass Koumamá sich auch am folgenden Tag darauf nicht einlassen würde – aber so hatte er seinen Freunden einen wertvollen Aufschub ermöglicht. Die Franzosen schlugen in unmittelbarer Nähe des Lagers ihre Armee-Zelte auf, und als es dunkel wurde, postierten sie Wachen. Die Nacht blieb ruhig und friedlich.
Erst als die Morgendämmerung einsetzte, erkannten die Franzosen, was geschehen war: Die Nomaden hatten all ihre Zelte abgebrochen und waren verschwunden, mit ihren Frauen, Kindern und dem gesamten Vieh! Auch das Zelt von Franz und Luise war nicht mehr da. Die Wachen saßen gefesselt und geknebelt an einem Strauch, der gerade weit genug entfernt war, damit sie sich mit ihrem Röcheln nicht bemerkbar machen konnten. Die takubas, die man in einem Zelt aufbewahrt hatte, waren ebenfalls verschwunden. Der capitaine tobte.
»Wieso hat keiner was gehört? Bin ich nur von Kretins umgeben?! Na los, ihr Idioten: Auf die Pferde!« Der capitaine ritt vorne weg. So war das eben, dachte er wütend, wenn man nicht alles selber machte. Die Spuren der Kamele wurden bald schon sehr undeutlich, was daran lag, dass sie nicht in die gleiche Richtung führten, sondern in ganz verschiedene. Ihm war schon klar, dass er damit in die Irre geführt werden sollte, aber er war ein erfahrener Soldat, der sich nicht so leicht zum Narren halten ließ. Zumindest dachte er das. Aber dann gab es immer wieder Spuren, die unkenntlich wurden oder einfach abbrachen. Der capitaine ritt einen Zickzack-Kurs, und seine Männer hinterher. Seine Laune wurde immer schlechter. Schließlich stoppte er sein Pferd so abrupt, dass der Hintermann fast mit ihm kollidierte, riss sein Gewehr aus dem Pferdeholster, richtete den Lauf in den Himmel und gab einen krachenden Schuss ab.
»Merde alors!« brüllte er. »Hört ihr mich, ihr feigen Drecks-Nomaden? Ihr könnt euch ruhig verstecken! Na los doch, grabt euch wie die Würmer in den Sand! Verbergt euch in Felsspalten! Das wird euer Schicksal nur ein bisschen verzögern, sonst nichts! Denn ich verrate euch etwas: Die Zeit des Nomadentums ist vorbei! Ende! Aus! Und irgendwann, Koumamá, das schwöre ich dir, da sehen wir uns wieder! Auf den Tag freue ich mich jetzt schon!« Er schickte einen weiteren Schuss in den Himmel, steckte die Waffe zurück ins Holster und wendete sein Pferd. »Wer mich anspricht, den schieß ich vom Gaul«, sagte er, als er an seinen Männern vorbei ritt.
3
Koumamá hatte seinen Stamm zu den Ausläufern des Aïr-Gebirges geführt, an einen Platz, wo die Franzosen sie nicht finden würden und die Tiere etwas zu weiden hatten, wenn auch nicht gerade viel. Hier würden sie nur ein paar Tage bleiben, länger nicht. Denn die Franzosen hatten mit ihrer Sesshaftmachungs-Mission ein riesiges Gebiet zu bearbeiten, und der capitaine konnte es sich nicht leisten, Wochen lang nach ihnen zu suchen und dafür zu riskieren, seinen Vorgesetzten am Ende deswegen zu wenige Erfolge präsentieren zu können.
Franz und Luise wurden jetzt behandelt wie Mitglieder des Stammes. Es war klar, dass sie dahin gingen, wo auch die Tuareg hingehen würden. Koumamá fühlte sich tief in Franz‘ Schuld. Er hatte ihm das Leben seiner Leute zu verdanken, vielleicht sein eigenes. Gab es etwas, das er von ihm haben wollte? Ein schöneres mehari vielleicht? Koumamá würde ihm sein eigenes überlassen, Franz brauchte nur ein Wort zu sagen. Franz war es peinlich, solche Angebote von Koumamá zu bekommen. Aber dann fiel ihm doch etwas ein, um das er ihn gerne bitten würde. Koumamá hatte ihm von den Felsmalereien im Aïr erzählt. Die würde er sehr gerne sehen.
»Du solltest aber wissen«, sagte Koumamá, »dass wir zu Fuß gehen müssen.« Er zeigte in die Berge, die vor ihnen aufragten. »Die steilen Geröllrampen sind für Kamele nicht passierbar.«
»Wie lange werden wir unterwegs sein?«
»Einen vollen Tag. Im Morgengrauen gehen wir los, am Abend sind wir wieder hier.«
Luise klatschte begeistert in die Hände. »Was für eine wunderbare Idee!« rief sie. Franz machte ihr klar, dass er die Tour nur mit Koumamá machen würde. Sie war im siebten Monat, ein einziger Blick auf die sanfte Rundung ihres Bauches genügte doch wohl, um zu wissen, dass die Unternehmung nichts für sie war.
»Es geht mir ausgezeichnet«, sagte sie. »Ich bin in sehr gutem Zustand, und ich möchte diese Malereien ebenso gerne sehen wie du. Da haben Menschen vor langer Zeit auf den Felsen gemalt, was ihnen wichtig war - so wie ich es jetzt mit Ziegenhäuten mache. Das lasse ich mir nicht entgehen, ich komme mit.«
Franz holte Koumamá zu Hilfe, der einen Vortrag darüber hielt, was alles passieren konnte. Steine konnten ins Rollen geraten, oder man rutschte auf ihnen ab. Es gab schmale Stellen, an denen es zu beiden Seiten steil und tief hinunter ging.
»Ich bin schwindelfrei«, sagte Luise ungerührt. »Und ihr könnt sowieso reden, was ihr wollt. Ich werde dabei sein.«
Abends im Zelt versuchte Franz es ein weiteres Mal. Er würde nicht zulassen, dass sie aus purem Übermut sich selbst und ihr Kind gefährdete. Eher würde er die Unternehmung verschieben.
»Das ist unfair«, stellte Luise fest. »Du weißt ganz genau: Ist das Baby erst mal da, können wir nicht beide auf den Berg gehen. Einer von uns muss dann hier bleiben.«
Und so ließ er sich überreden. Am folgenden Morgen, mit schafsledernen Taschen auf dem Rücken, begannen sie den Aufstieg. In der Kühle des Morgens und auf den ersten flacheren Abschnitten war der Marsch noch ganz angenehm. Das änderte sich, als die Sonne dem Zenit zustrebte und die Rampen steiler wurden. Zum Schutz gegen Sonne und Wind hatten auch Luise und Franz sich Tücher um die Köpfe geschlungen. Auf den Geröll-Passagen musste man vorsichtig sein und sehr sorgfältig einen Schritt auf den anderen folgen lassen. Zur Mittagszeit waren sie endlich auf dem Hochplateau angelangt. Luise hatte sich besser geschlagen, als die Männer befürchtet hatten.
»Du weißt doch«, sagte sie und zwinkerte Franz fröhlich zu. »Mich kriegt man nicht kaputt.«
Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch standen sie vor den ersten bemalten Felsen. Sie zeigten Männer, die mit Pfeil und Bogen auf Antilopen schossen. Ein anderer Mann saß auf dem Boden und machte Feuer.
»Wie alt sind diese Bilder?« wollte Franz wissen. Koumamá wusste es nicht. Ein paar tausend Jahre?
»Woraus bestehen die Farben?« fragte Luise. Die meisten Darstellungen waren rostrot, manche auch in einem dunkleren Braun gehalten.
»Sie haben roten Sandstein zermahlen«, sagte Koumamá, »und ihn mit Tierblut und Milch vermengt. So machen wir es heute noch.«
»Die Mischung scheint was auszuhalten«, bemerkte Franz, »wenn sie noch so gut erhalten ist.«
»Blut und Milch fressen sich in den Felsen. Das überdauert alles. Aber nur da, wo keine Sonne hin gelangt.«
Franz und Luise sahen sich um. Er hatte Recht. Nur die Nordseiten der Felsen waren bebildert. Auf einem machten Männer Jagd auf Kühe. Auf einem anderen war ein Elefant zu erkennen, ein weiteres Tier erinnerte an eine Giraffe. Franz war verwirrt.
»Solche Tiere gibt es hier doch gar nicht. Woher haben die Leute gewusst, wie sie aussehen?«
»Dafür gibt es wohl nur eine Erklärung«, sagte Koumamá. »Dass sie damals eben doch hier gelebt haben.«
»Unmöglich«, sagte Franz. »Das kann nicht sein.«
»Nur weil wir bisher nichts davon wissen?« mischte Luise sich ein. »Was heißt das schon?«
»Mein lieber Schatz«, sagte Franz. »Wir sind mitten in der Wüste. Nur wenige Tiere überleben hier ohne menschliche Hilfe: Kamele, Esel, Schakale, Schlangen, Rennmäuse und ein paar Insekten.« Er deutete auf die Darstellung des Elefanten. »Weißt du, wie viel der an einem einzigen Tag trinken muss? Etwa einhundert Liter. Außerdem braucht er ein bis zwei Zentner Gras, Früchte, Wurzeln, Zweige. Er benötigt jeden Tag mindestens 200.000 Kilokalorien. Wo will er die finden?«
Koumamá wandte sich Luise zu. »Dein Franz ist ein kluger Mann. Aber er weiß nicht alles. Ich möchte euch noch etwas zeigen.« Koumamá führte sie zu einer Wand, vor der sie ungläubig stehen blieben. Darauf waren Männer abgebildet, die Schwimmbewegungen ausführten, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ein anderer hatte mit einer Lanze einen Fisch aufgespießt. Daneben waren Bäume dargestellt, die üppiges Laub trugen. »Das waren mal blühende Landschaften«, hörte Franz sich sagen. »Die Geschichte der Wüste muss völlig neu geschrieben werden!«
»Sie hatten Seen«, fügte Luise staunend hinzu. »Wälder. Wie kann das nur sein?«
»Landschaften verändern sich«, sagte Koumamá. »Wo heute noch ein Strauch steht, gibt es nächstes Jahr vielleicht schon nichts mehr, das an ihn erinnert. Wir beobachten, wie die Wüste sich Jahr für Jahr ein wenig mehr ausbreitet.«
»Ich weiß jetzt schon, was passiert, wenn ich in München an der Universität darüber einen Vortrag halte: Die erklären mich für verrückt!« Franz fasste Luise aufgeregt an den Schultern, sie lachten sich an. Bis Luises Lachen erstarb und ihre Miene sich verzerrte. Franz war so im Rausch der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass er es nicht bemerkte. Koumamá dagegen begriff im selben Moment, dass etwas nicht stimmte. Franz blickte auf seine Füße hinunter. Seine Schuhe und seine Hosenbeine waren nass, als wäre er in eine Pfütze gesprungen.
»Meine Fruchtblase«, sagte Luise.
Franz hielt noch immer ihre Schultern fest. Er starrte sie an. »Nein«, sagte er leise.
»Doch, Franz.«
»Vielleicht ist es nur eine Blasenschwäche!«
»Nein«, sagte Luise mit erstaunlicher Klarheit. »Es ist so weit.«
»Liebste, wir bringen dich hinunter. Was immer passieren wird, es passiert im Tal und nicht hier oben.«
Luise lächelte schwach. »Der Weg, lieber Franz. Das Geröll.« Sie hob ihr Gewand ein wenig an. Blut lief in einem dünnen Rinnsal über ihren Schenkel.
»Wir legen dich hin!« rief Franz. »Auf den Boden!«
Koumamá half ihm. Gemeinsam betteten sie Luise auf die Steine. Franz schob einen Rucksack unter ihren Kopf.
»Ihr behaltet jetzt die Nerven, verstanden?« sagte Luise. »Ich war bei der Geburt von Dafinah, ich weiß, was zu tun ist. Ihr macht ganz genau das, was ich euch sage.«
»Ja, Liebes, machen wir!« Franz zitterten die Hände. Er atmete tief durch.
»Sieben Monate sind wenig, aber manche Kinder überleben das«, sagte sie.
»Koumamá«, bellte Franz, »bringen wir das Baby auf die Welt! Wirst du mir helfen?«
»Ruhig, Franz«, sagte Koumamá. »Natürlich helfe ich euch!« Aber Koumamá war selbst nicht so ruhig, wie er es gerne gewesen wäre. Nur Luise behielt wirklich die Nerven.
»Mich kriegt man nicht kaputt, Franz, das weißt du doch. Alles wird gut.«
Es zog sich lange hin, sehr lange. Das Platzen der Fruchtblase bedeutete nicht, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Luise hatte ihre Wehen noch in Abständen von mehreren Minuten. Das blutende Rinnsal wollte nicht aufhören zu strömen und bereitete Franz immer größere Sorgen. Er versuchte es mit einem Stück Stoff zu stoppen, aber das funktionierte nicht. Die Männer wuschen sich immer wieder die Hände mit dem Wasser, das sie als Verpflegung mitgenommen hatten - die einzige armselige Maßnahme, die möglich war, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Erst nach einer Ewigkeit wurden die Wehen heftiger und kamen schneller. Luise presste und atmete rhythmisch. Franz kühlte ihre Stirn immer wieder mit einem in Wasser getränkten Taschentuch, ihre Haare waren schweißverklebt. Der Muttermund begann sich zu öffnen. Koumamá war nicht darauf vorbereitet, so etwas jemals zu Gesicht zu bekommen. Ihm wurde schummrig zumute, aber er schüttelte sich kurz wie ein nasser Hund und hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Ich sehe den Kopf!« rief Franz.
»Wenn es nicht von alleine kommt«, stöhnte Luise, »dann zieht ihr es raus, hört ihr? Aber vorsichtig. Achtet auf die Nabelschnur! Wenn es draußen ist, nehmt ihr ein Messer und durchtrennt sie!«
Der Kopf des Babies wurde langsam ins Freie gedrückt. Da lief auf einmal ein Schwall von Blut aus Luise heraus, der immer noch stärker wurde. Ihre Augenlider begannen zu flattern.
»Luise!« schrie Franz. »Was sollen wir machen?!«
Sie antwortete nicht. Er klopfte ihr mit der Hand auf die Wangen, immer heftiger.
»Luise! Bleib bei mir! Wir schaffen das! Komm schon!«
Die Lider flatterten nicht mehr, die Augen waren geschlossen.
»Franz! Ich brauche Hilfe!« Koumamá versuchte das Baby heraus zu ziehen, war dabei aber viel zu vorsichtig. »Ich habe Angst, ich tue ihm weh!«
Franz klemmte die Hände unter die Achseln des Säuglings und zog. Es bewegte sich nicht. Er zog fester. Und noch fester. Mit einem saugenden Geräusch löste sich der kleine Körper vom Mutterleib, und Franz kippte, mit ihm in den Händen, fast hintenüber. Es war, als hätte man einen Stöpsel gezogen, denn der Blutschwall, der sich jetzt aus Luises Innerem ergoss, war ein Wasserfall aus Blut. Aber da war sie bereits tot.
Es dauerte lange, bis Franz das begriff. Er drückte Koumamá das Baby in die Hände und prüfte ihren Atem, ihren Puls. Nichts. Er beatmete sie. Nichts. Er versuchte eine Herzdruckmassage, obwohl er überhaupt nicht wusste, wie man das machte. Er konnte vor Tränen und Blut und Schweiß kaum noch etwas sehen. In seinen Ohren rauschte es so laut, dass er seine eigenen Schreie nicht mehr hörte. Koumamá packte ihn am Arm. Franz drehte sich zu ihm um, mit einem wirren Blick aus tiefroten Augen.
»Franz, sie ist tot«, sagte Koumamá. »Luise ist von uns gegangen.«
»Blödsinn!« sagte Franz. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Krächzen. »Luise kriegt man nicht kaputt! Sie ist unzerstörbar! Sie lebt!«
Koumamá hatte längst die Nabelschnur durchtrennt und versucht, das Baby halbwegs zu säubern. Er war der einzige, der den ersten Schrei des kleinen Jungen hörte, und der Anblick dieses kleinen, blutverschmierten Wunders - so grauenhaft die Umstände seiner Geburt auch sein mochten – entlockte ihm ein kurzes, bitteres Lächeln.
So habe ich vor langer Zeit die Welt betreten. Auf einem Hochplateau im Aïr-Gebirge, inmitten der Wüste Nordafrikas, als Sohn von Franz und Luise, die bei meiner Geburt verschied.