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Wildschwein im Büro des Direktors

1

Farbe zwischen den Borsten des Pinsels ist alles: Das Lachen einer hinreißenden Frau. Der Hinterhof einer Arbeitersiedlung. Der Sonnenaufgang über dem Meer. Die eiternde Wunde eines Leprakranken.

Das war es, was Luise am Malen so liebte. Der Pinsel in der Ölfarbe gab ihr die Macht, die Leinwand zu bedecken, womit auch immer sie wollte. Nichts drückte vollkommene Freiheit besser aus als blütenweißer Stoff, der darauf wartete, in ein Bild verwandelt zu werden.

»Franz, schau! Die Farben. Wie sie ineinander laufen!«

Er sah hoch von all den aufgeschlagenen Büchern. Im Nu war sie auf seinen Schreibtisch gestiegen.

»Meine Bücher!« lachte Franz. Luise setzte sich auf seine Lektüre und ließ links und rechts die Beine herunter baumeln.

»Küss mich«, forderte sie. »Und zwar auf der Stelle.« Er tat es.

»Wieso muss ich dich immer noch teilen mit so viel Druckwerk?« wollte sie wissen. »Dein Examen hast du doch in der Tasche. Mit Auszeichnung.«

»Weißt du, als Ethnologe wird man nur ernst genommen mit einem Titel vor dem Namen. Also suche ich ein Thema für meine Promotion.« Luise zog eines der Bücher unter ihrem Po hervor. Beim schnellen Durchblättern fand sie Abbildungen von Sanddünen und Felsformationen. Sie verzog das Gesicht.

»Deswegen kann ich mit Fotografien nichts anfangen«, sagte sie. »Mir fehlt die Farbe.«

»Dann sieh dir mal das hier an.« Franz nahm ihr das Buch aus der Hand und schlug eine Seite auf, die er mit einem Lesezeichen markiert hatte. Darauf war ein Mann zu sehen. Das Tuch, das er sich um die Stirn geschlungen hatte, verdeckte auch Nase und Mund, nur ein schmaler Schlitz war frei. Die Augen waren tiefschwarz, trotzdem schienen sie zu glühen. Luises Albernheit verflog beim Anblick des Bildes.

»Wer ist das?«

»Wir nennen sie Tuareg - die von Gott Verlassenen. Sie selbst bezeichnen sich als Imushaq - die Freien.«

»Wo leben sie?«

»Im Norden Afrikas. Sie ziehen herum, züchten Vieh und treiben Handel.«

»Nomaden?«

Franz nickte. Luise gab ihrem Mann einen Kuss. »Wann fahren wir hin?«

Er erwiderte ihr Lächeln. Sie war eine erstaunliche Frau. Offen für einfach alles. Unerschrocken auf eine, wie Franz fand, manchmal beängstigende Weise.

»Ich bin unzerstörbar«, sagte sie immer. »Mich kriegt keiner kaputt.«

2

Franz hatte das Büro nie zuvor betreten und war nicht gefasst auf das, was ihn erwartete. Der Raum war riesig. Überraschend dunkel. Und sehr unübersichtlich. Er war unterteilt durch mehrere Paravents, die erstaunlich hohen Wände behangen mit Teppichen, Gemälden und ausgestopften Köpfen von Hirschen, Füchsen, Bären und Tieren, die Franz nicht benennen konnte, weil er sie noch nie gesehen hatte. Sie alle starrten ausdruckslos ins Nichts, und dennoch fühlte er sich von ihnen beobachtet. Dominiert wurde der Raum aber von Porzellan. Auf dem Boden standen Vasen, mit und ohne Henkel - eine davon so ausladend, dass ein ausgewachsener Mann sich darin hätte verstecken können. Auf den Sideboards und in den Vitrinen drängten sich Schalen, Figuren, Salz- und Pfefferstreuer, Schnupftabakdosen - alles, was man aus Porzellan fertigen konnte, schien hier, bunt zusammengewürfelt, eine Heimat gefunden zu haben. Auch an den Wänden stilistisches Durcheinander, klassische Gemälde teilten sich eine Wand mit Originalen von Kandinsky und Franz Marc. Franz hielt die Luft an. War dies der Verkaufsraum eines exzentrischen Kunsthändlers, oder befand er sich tatsächlich im Büro seines Schwiegervaters, des erfolgreichsten deutschen Porzellanherstellers Hermann von Kramm?

»Franz, mein Lieber, komm her«, rief es von irgendwo her. Franz konnte niemanden sehen. Schwer zu sagen, woher die Stimme überhaupt kam. Er entschied sich, an der ersten Reihe von Paravents vorbei zu gehen, bis er plötzlich jemandem Auge in Auge gegenüber stand, mit dem er nicht gerechnet hatte. Ein Wildschwein richtete sich in voller Körpergröße vor ihm auf und starrte ihn angriffslustig an. Franz begrüßte den Umstand, dass es ebenfalls ausgestopft war.

»Bei den Gewehren rechts ab«, hörte Franz seinen Schwiegervater rufen. Er sah die Schusswaffen, die an der Wand hingen, und ging hindurch zwischen einer mehr als mannshohen Palme und einer massiven Bücherwand aus Mahagoni. Dahinter wurde es auf einmal heller. Das Herzstück des Raumes war erleuchtet von vielen kleinen elektrischen Lampen und wirkte wie das, was es sein sollte: das mit heiliger Bedeutung aufgeladene Refugium eines bedeutenden Mannes. Hermann saß in einem weißen Lederfauteuil und hantierte mit einem Gerät, das vor ihm auf dem Couchtisch stand. Es war schwarz und sah aus wie ein kleiner Ofen, nur ragte ein langes Rohr daraus hervor, mit einem Objektiv vorne dran.

»Guten Tag, Schwiegervater«, sagte Franz und neigte höflich das Haupt.

»Setz dich«, sagte Hermann. »Die Vorführung beginnt.«

Franz nahm Platz in einem zweiten Sessel. Sein Gastgeber drehte mit der Hand am Objektiv herum. Hermann war ein kleiner, gedrungener Mann mit schütterem, graumeliertem Haar. Sein Sakko, das er über die Sessellehne gehängt hatte, war längst auf den Boden geglitten. Seine Hemdsärmel waren aufgekrempelt, er hatte eine zupackende Körpersprache, der man schnell entnahm, dass er keinen Widerspruch gewohnt war.

»Afrika. Aufregender Kontinent. Möchtest du Tee?« Hermann deutete auf einen prachtvoll verzierten Samowar. Ohne die Antwort abzuwarten griff er in eine Schale mit schwarzem Tee, warf eine Handvoll davon in eine Tasse, ließ heißes Wasser darüber laufen und stellte schwungvoll die Tasse vor Franz ab.

»Vor einigen Jahren habe ich dort gejagt, in Deutsch Südwest. Auf Einladung des Kaisers.« Hermann drückte auf einen Schalter, all die kleinen Lampen erloschen auf einen Schlag, und für einen Moment wurde es stockdunkel. Er schaltete das Gerät auf dem Tisch ein, das mit lautem Brummen ein Licht aufflammen ließ. Das Objektiv war auf eine große Leinwand gerichtet, die vom Boden bis zur Decke ragte. Sie zeigte nun das überlebensgroße Schwarzweiß-Abbild des um gut 15 Jahre jüngeren Hermann, in Safari-Kleidung, mit einem riesigen Gewehr in der Hand, das Franz noch gerade eben an der Wand hatte hängen sehen. Hermann stand auf dem Foto neben einem toten Löwen und machte ein strenges Gesicht.

»Die ersten Tage waren ein großer Spaß«, fuhr er fort. »Dann kam die Diarrhoe. Den Kaiser hat sie auch erwischt. Aber wir hatten noch Glück.« Er nahm die Bildplatte aus dem Diaprojektor und ersetzte sie durch eine andere. Das zweite Foto zeigte einen halbwüchsigen Jungen mit matten Augen und schweißnasser Stirn: »Malaria«, sagte Hermann. Auf dem nächsten Bild war ein aus der Nase blutender Mann mit geschlossenen Augen, kalkweißem Gesicht und strähnigem, nassem Haar zu sehen. »Gelbfieber.« Dann ein Foto von einer jungen, blonden Frau. »Das war Margarethe, eine Nichte des Kaisers. Hübsch, nicht wahr?« Hermann schob ein weiteres Dia in den Schacht. »So sah sie aus, nachdem ein namenloses Virus sie dahingerafft hatte.« Auf dem nächsten Foto war dieselbe junge Frau abgebildet, aber ihr ausgemergeltes Gesicht war eine Kraterlandschaft, übersät von aufgeplatzten Wunden, und ihre toten Augen starrten stumpf ins Nichts.

»Unsere Delegation umfasste 32 Personen. Bei der Ankunft in Afrika. Als wir zwei Monate später wieder nach Hause kamen, waren wir nur noch 26.«

»Es gibt Impfungen«, sagte Franz.

Hermann machte den Projektor aus und schaltete die Lampen wieder ein. »Ein Bediensteter wurde von einem Nashorn angegriffen. Ein einheimischer Lastenträger wurde das Frühstück einer Löwenfamilie. Die Fotos erspare ich dir, sonst magst du den Tee nicht mehr trinken.«

»Wir reisen in den Norden von Afrika«, erwiderte Franz. »Dort gibt es solche Tiere nicht.«

»An der Nordküste stehen ein paar sehr schöne, zivilisierte Hotels«, meinte Hermann. »Traumhafte Strände. Macht ein bisschen Urlaub, reitet auf Kamelen umher, und dann kommt ihr wieder zurück. Aber eine Forschungsreise in die Wüste? Für mehrere Monate? Das ist da alles völlig unerforscht.«

Franz lächelte. »Das möchte ich ja gerade ändern.«

»Aber nicht mit meiner Tochter«, gab Hermann zur Antwort. »Dann reist du alleine.«

»Bei allem Respekt«, erwiderte Franz vorsichtig, »ich glaube, Luise ist fest entschlossen.«

Hermann bewegte kurz den Kopf ein wenig hin und her, als justiere er dessen Sitz auf dem Hals. »Sie ist mein einziges Kind«, sagte er. »Sie wird einmal die Firma übernehmen. Ich lasse sie nicht unter Wilde und Kannibalen.«

3

Er war der Hoflieferant des Kaisers gewesen, nun war es der Reichstag der Weimarer Republik, der von seinen Tellern aß. Als Geschäftsmann war Hermann von Kramm längst eine lebende Legende, aber bei seiner Tochter stieß er an Grenzen. So sehr er sie liebte, so wenig Einfluss hatte er auf sie. Nach ihrer Verlobung mit dem jungen Ethnologen Franz Kapellmann hatte er gehofft, dieser feine, ruhige Mann würde die wilde Luise ein wenig zähmen können. Aber mit diesem Ziel war Franz gar nicht angetreten. Und es gab wohl sowieso niemanden, der das hinbekommen hätte. Als sie ihrem Vater erzählt hatte, dass sie Franz nach Afrika begleiten würde, hatte Hermann vom ersten Moment an gewusst, dass es ihm nicht gelingen würde, sie abzuhalten. Aber er musste es doch wenigstens probieren!

An einem verregneten Oktobermorgen bepackten Luise und Franz den smaragdfarbenen Mercedes SSK und starteten vom Münchner Süden aus in Richtung Italien. Luises Vater winkte zum Abschied, sein junger Neffe Gerhard stand daneben und hielt den Regenschirm. Gerhard Angermair war Luises Cousin, und er machte sich seine ganz eigenen Gedanken: Vielleicht würde Luise in der Fremde ja tatsächlich etwas zustoßen? Dann würde er später einmal die Manufaktur erben! Natürlich sprach er solche Überlegungen nicht aus, er war ja schließlich nicht verrückt. Aber der Gedanke, seinem Onkel als Industriemagnat irgendwann einmal nachfolgen zu können, gefiel ihm schon sehr gut. Andererseits war Onkel Hermann erst Ende 50, stand voll im Saft, und man musste damit rechnen, dass es noch einige Jahre dauern würde, bevor er auch nur anfangen würde, an den Rückzug aus seinen Geschäften zu denken.

Azahrú

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