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10. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Kommunikationsmittel

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Die Menschen müssen zuerst essen, trinken, wohnen, sich kleiden“ Karl Marx

Seit mehreren Wochen experimentierte Thalheim im Labor, um die prinzipielle Lösung für die neue übertragene Entwicklungsaufgabe zu erarbeiten. Er hatte sich mit Honorarverträgen die fehlenden Chemikalien in Forschungslabors von Universitäten in kleinen Mengen präparieren lassen. Er synthetisierte und schuf Zwischenprodukte. Für die immunologischen Reaktionen im neuen Test brauchte er Antikörper, die durch Impfung im Tier gewonnen werden mussten. Nach der immunologischen Reaktion der nachzuweisenden Stoffe mit den viruspezifischen Antikörpern sollte in einer Lumineszenz-Reaktion ein Lichtsignal erzeugt werden, das gemessen würde und tausendfach empfindlicher sei als eine Farbreaktion.

Er immunisierte Kaninchen, isolierte präparativ aus dem Serum der Tiere die Antikörper, baute sie in das Nachweistestverfahren ein und bewertete die Empfindlichkeit, die Spezifität, die Genauigkeit des neuen Verfahrens. Er sollte mit dem neuen Test hochempfindlich Hepatitis- und HIV- Infektionen nachweisen. Direktor Weise brachte von seinen Dienstreisen ins Ausland die Information mit, dass sich AIDS im Westen wie eine Lawine ausbreite, man müsse zeitig eine Infektion nachweisen, bevor die jeweilige Krankheit ausgebrochen sei.

Aber Thalheim konnte vom Tier nur Antikörper gewinnen, die bisher bindungsschwach und wenig empfindlich waren. Er änderte die Impfschemata, setzte große Reihen von Impfversuchen an. Wenn er gemeinsam mit der Laborantin Stephanie Breit zur Blutabnahme im Tierstall im weißen Kittel erschien, rasten die Tiere wie wild in ihren Großraumboxen umher. Mit steifen, hochgestellten Ohren schlugen sie Haken. Die Assistentin hatte schon vorher versucht, Blut von den Tieren zu gewinnen. Stets waren es nur wenige Milliliter. Die Tiere zitterten dabei, hielten quasi das Blut zurück.

Thalheim bat, seine Hilfskraft möge blaue Kittel holen. Beide zogen die Kittel über.

Er legte eine Spritze, eine Flasche Xylol und Wattebällchen bereit und packte ein Kaninchen am Fell im Genick. Er setzte sich, nahm das Tier auf den Schoß, streichelte es und graulte es hinter den Ohren. Das Tier war ganz ruhig, er massierte die großen Löffel von Ohren, rieb die Ohren mit Xylol ab, damit die Venen gut sichtbar wurden und sich prall mit Blut füllten. Das Kaninchen war ganz entspannt, die Ohren hingen schlaff herab. Thalheim stach sanft mit der Kanüle in die Ohrvene und entnahm dreimal fünfzehn Milliliter Blut. Er füllte mehrere Zentrifugenröhrchen damit.

Stephanie Breit blieb förmlich der Mund offen stehen, das war ihr in den vergangenen Wochen nie geglückt, soviel Blut zu gewinnen.

Thalheim klärte sie auf. Beim Immunisieren hätte sie wahrscheinlich dicke und stumpfe Kanülen verwendet und so den Tieren Schmerz zugefügt, also hätten diese registriert, Menschen im weißen Kittel fügten ihnen Schmerz zu. Stephanie Breit verteidigte sich, es stünden keine anderen Kanülen zur Verfügung. Er wusste, dass erst mit der Importlieferung in einigen Monaten neue und dünnere Kanülen eintreffen würden.

Er erläuterte ihr am Beispiel seiner Tochter, wie stumpfe, dicke Kanülen bei Impfen Schmerzen beim Einstechen und so ein Leben lang enorme Abneigung und Angst vor Impfen erzeugen könnten. Nach den ersten Impfungen im Kleinkindalter habe seine Tochter Katja vor jeder neuen Impfung so kräftig beim Arzt geschrien, dass es über mehrere Zimmer weiter zu hören war. Selbst bis in ihr Teenageralter habe sie die totale Abneigung gegen das Piken mit der Spritze nicht wieder abgelegt. Es war zur Phobie geworden. Und schuld daran waren die dicken, stumpfen, wieder aufbereiteten Kanülen, die aufgrund des Mangels viele Mal verwendet werden mussten. Im Westen verwendete man extrem dünne Einmal-Kanülen, mit denen das Piken kaum zu spüren war.

Die umfangreichen Versuchsreihen brachten nicht den Durchbruch. Sie immunisierten Schafe und Ziegen und testeten die Immunseren. Die Mitarbeiterin trennte das Proteingemisch im elektrischen Feld in der Elektrophorese auf, zwar fand sie höhere Gehalte, aber die Bindungsstärke der Antikörper war noch zu gering und eine hohe Rate an unspezifisch reagierenden Antikörpern störten im Test.

Thalheim suchte, obwohl er innerlich nicht das Bedürfnis empfand, den Rat bei seinem Kollegen, Hans Vogel, in der Nachbarabteilung.

Nach sachlicher Erörterung aller Probleme kamen sie überein, dass nur monoklonale Antikörper, also von einem einzelnen Zellklon in einem zellbiologischenVerfahren produzierte Antikörper helfen können. Diese würden die spezifischen Antigenmuster auf den Viren erkennen. So wäre ein Test dann hochspezifisch.

Thalheim ging durch den Kopf, dass nun der Fristenplan nicht mehr zu einzuhalten wäre und außerdem ein Partner mit den detaillierten Erfahrungen für dieses Verfahren erforderlich sei.

Als er mit dem Entwicklungsleiter, Strohbach, über das Problem Korrektur des Fristenplanes und Verlängerung der Entwicklungszeit diskutieren wollte, herrschte dieser ihn an, Zeitverzug habe fast immer subjektive Gründe. Er, Strohbach, werde dies im Ministerium nicht beantragen. Das müsse Thalheim schon selbst verantworten. Thalheim dachte, welch ein Strohkopf. Dieser ehemalige Armeeangehörige könne zwar hörig im Sinne des Direktors Weisungen erteilen und die Leute anherrschen, aber fachlich sei er nicht kompetent.

Thalheim überarbeitete sein Pflichtenheft für die Entwicklungsaufgabe, präzisierte das Lösungsprinzip und korrigierte den Ablaufplan. Er bereitete Folien für eine Projektion vor.

Betriebsdirektor Weise nahm den Bericht Thalheims entgegen und schickte ihn allein nach Berlin.

Als Thalheim am Abend zuhause von seiner geplanten Fahrt nach Berlin berichtete, fragte Sonja:

„Weißt du denn schon, wo du einen Anhänger für die Grußbotschaften ausleihen kannst?“

Ulrich schaut sie verduzt und nachdenklich, fragend an:

„Wie, Anhänger, ich fahre mit dem Zug.“

„Ach,…ich denke gerade an das letzte Programm des Kabaretts - in der Herkuleskeule“, sagte Sonja mit einem verschmitzten Lächeln, „nach Berlin solle man immer mit Auto und Anhänger fahren. Nach Berlin werden im Anhänger die vielen Grußbotschaften für Zentralkomitee und Regierung transportiert und auf der Rückfahrt nach Hause bringt man die vielen guten Sachen aus der Hauptstadt mit, die man in der Provinz seit Monaten und Jahren nicht oder noch nie gesehen hat.“

Im Ministerium hielt Thalheim einen kurzen Vortrag und erläuterte das wissenschaftliche Problem. Er brauche einen Kooperationspartner für die Gewinnung monoklonaler Antikörper.

In der zentralistisch geführten Bürokratie reichten zwei Anrufe, um einen Partner in Berlin-Weißensee zu verpflichten, die benötigten Biosubstanzen zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Es wurden neue Festlegungen getroffen, sein Problem war abgehandelt, er hatte nun Zeit für sich.

Thalheim dachte an den bevorstehenden Hochzeitstag, die Betriebsfeier und an Sonjas Kleid. Er überlegte, dass es in Berlin eine Reihe diverser Modegeschäfte gebe, die als Vorzeigegeschäfte gegenüber den Interessenten aus Westberlin und zur Befriedigung von Wünschen der eingebildeten, modebewussten und teils aufsässigen Hauptstädtlerinnen galten, denen man keine Einheitskleidung anbieten könne.

Als Ulrich an den Schaufenstern vorbeispazierte und vor sich hin sann, musste er für sich schon bestätigen: das Angebot aller Waren, aller Konsumartikel, angefangen vom Wein bis zu Jeans, vom Salzhering bis zur Wohnzimmereinrichtung war in Berlin viel, viel besser als in der Provinz. Hier bekam man Besonderheiten. Berlin war Aushängeschild gegenüber den Ausländern und denen, die jenseits der Mauer wohnten. Die Berliner waren verwöhnt. Die Berliner waren selbstbewusst und auch etwas schnippisch. Er entsann sich, als neulich ein Kollege berichtete: ‚Da frag´ ich einen Berliner am Ostbahnhof, ich möchte zum Alex, da sagt der doch: na, da müssen se´ eben hingehen‘.

Nun erinnerte er sich, dass er einige Aufträge für Einkäufe erhalten hatte. Katja hatte Jeans bestellt. Vorerst betrat er ein Delikatessengeschäft und kaufte eine supergroße Blechdose mit Salzheringen, die er in seiner großen Aktentasche verstaute. Heringe waren zur Seltenheit, zu einem kulinarischen Genuss geworden. Sonjas Vater erzählte noch vor Jahren, dass Heringsessen das Essen der armen Leute war. Wie sich die Zeiten geändert hatten?

Thalheim betrat das Konfektionsgeschäft Exquisit am Karl-Marx-Platz. Er schlenderte zuerst, äußerlich desinteressiert erscheinend, an den Kleiderständern vorbei, prüfte dabei scharf registrierend und vergleichend, was angeboten wurde. Dabei senkte er die Augenlider etwas, taxierte die Kleider mehr aus einem Seitenblick heraus. Er hasste es, wenn sich die Verkäufer sofort auf einem stürzten und fragten - 'darf ich ihnen helfen?'. Er bemerkte, dass sämtliche Verkäuferinnen in der Ecke zusammenstanden und plauschten.

Er überlegte, ein neues Kleid sollte ein Blickfang sein. Nun suchte er etwas intensiver unter der Größe 42. Er hatte schon mehrmals verschiedene Kleidungsstücke gekauft und geschenkt. Die Maße hatte er von anderen Kleidern Sonjas abgenommen und im Portemonnaie immer bei sich. So hatte es mit der Größe immer geklappt. Das Angebot war wirklich enorm groß. Die Tagesausflügler aus dem westlichen Teil kauften hier aufgrund des Wechsels außergewöhnlich billig ein und ein Anreiz musste es auch geben, also wird er seinen Eyecatcher sicherlich ausfindig machen können. Es fiel ihm schwer, aus dem umfangreichen Angebot etwas auszuwählen. Was sprach die Frauen an? Was lag jetzt im Trend? Welche Charakteristika bestimmten den Trend? Als Naturwissenschaftler wollte er Kriterien haben, wie er diese Merkmale ermitteln könnte, um dann gezielt danach in den Kleiderständern suchen zu können. In seiner Provinz, Dresden, hatte er keine Möglichkeiten, die Merkmale von Trends, ja von internationalen Richtungen zu erkennen. Was sei nun modern?

Er setzte sich erst einmal etwas abseits auf einen Stuhl und beobachtete die Geschäftigkeit um sich herum. Ein Glück, dass die Verkäuferinnen ihn nicht nervten und ständig fragten, was er wolle. Also analysierte Thalheim das Kaufgebahren der Interessentinnen. Die Berlinerinnen müssten doch Ahnung haben, was modern sei, was man jetzt trage. Aufgrund der internationalen Kommunikation wären sie doch bestens informiert. So hoffte er.

Thalheim saß auf einem Stuhl und beobachtete scharf, jede Handbewegung, jede Mimik der Frauen. Drückte das Mienenspiel Anerkennung, Begeisterung, Frohlocken aus?

Da, schon das dritte Mal griffen Frauen nach einem beigen-sandfarbenen Kleid, eine hielt es an - ja, es kleidete sie sehr gut, sagte sich Ulrich - sportlicher Schnitt, leger, ein Kleid für die Freizeit, zum Bummeln, für Samstag oder Sonntagnachmittag - vielleicht auch für ein Pferdeturnier - vielleicht noch ein passender Hut dazu. Aber für eine festliche Veranstaltung wäre es wohl nicht das Richtige.

Er wechselte den Platz, damit er besser die Ständer mit der festlichen Kleidung überblicken konnte. Er gab sich so, als warte er auf jemanden. Hin und wieder schaute er zur Tür, mal auf seine Uhr. Da - an einem blaugrünen Samtkleid blieben die Frauen häufiger stehen, er hatte deutlich analysiert und gezählt; signifikant häufiger blieben sie vor diesem Kleid stehen und begutachteten es, hielten es sich an, schauten auf das Preisschild und gingen weiter. Wahrscheinlich war es sehr teuer. Er sah das Kleid als blau-grün. Sonja meinte immer, dass er die Farben anders sähe, nein ganz bestimmt - es war grün - wohl türkis. Wenn so viele Frauen an dem Kleid haltmachten, es an den Körper hielten, musste es doch etwas Besonders sein. Da, eine junge Frau - vielleicht hatte sie die Statur von Sonja, sie nahm das Kleid und ging in die Umkleidekabine. Wie wird es ihr stehen, wie sah sie darin aus. Er konnte doch nicht zur Kabine gehen. Die junge Frau kam aus der Kabine. Eine Verkäuferin ging auf sie zu. Thalheim konnte nicht verstehen, was sie redeten. Aber aus dem Nicken und den Gesten der Verkäuferin entnahm er, dass das Kleid der Frau sehr gut stand. Die Frau betrachtete sich noch vor dem Spiegel - von vorn - von hinten. Die Interessentin tastete das Kleid ab, streifte mit den Fingern entlang. Sie sah glücklich aus, da jetzt machte sie einige Tanzschritte, drehte sich und strahlte. Sie sah äußerst zufrieden aus und nickte der Verkäuferin zu. Sie kaufte das Kleid.

Thalheim ging sofort zum betreffenden Kleiderständer. Dieses Kleid musste es sein und kein anderes - Größe 42 - ja, er hatte Glück, ein zweites und drittes Exemplar hing noch am Ständer. Er sah sich das Kleid von beiden Seiten an. Er betastete es, er fasste mit dem Arm hinein, es war schön gefüttert. Unauffällig, etwas verschämt um sich sehend, hielt er das Kleid an die Wange - wirklich mollig weich, eben samtig. Es war ja ein Samtkleid mit kleinen Perlen auf der Vorderseite - natürlich keine Perlen aus der Tiefsee. Diese kleinen Schmuckstücke gaben den besonderen Pfiff, dachte Thalheim. Er machte heimlich die Knitterprobe und drückte dabei ein Teil des Kleides zu einem Knaul mit großer Kraft zusammen und ließ es wieder los. Erstaunlich - die Knitterfalten glätteten sich wieder allmählich, es schien ein guter Stoff zu sein. Er nahm das Kleid daneben, mit dem er keine Knitterprobe gemacht hatte und ging zur Kasse. Von der Verkäuferin ließ er sich noch eine Jeans geben, die kleinste Größe, hoffentlich passte sie. Glücklich, mit erhobenem Haupt, die Einkaufstasche mit dem Kleid und den Jeans in der Hand stolzierte er ins Freie.

Nach solch einem erfolgreichen Einkauf habe er Appetit auf eine Berliner Weise mit Schuss, auf eine große Rote mit einem doppelten Schuss an Himbeersirup. Er sagte sich, er habe ein feines Kleid gekauft. An den Jeans haftete kein Markenetikett. Er hoffte, dass Katja gegenüber ihren Freundinnen bestimmt eine Erklärung finden werde.

Am Abend war es bald wie Weihnachten, als Ulrich die Präsente verteilte. Er holte auch das Kleid für Sonja. Sie herzte ihn und bedankte sich, es sei ein sehr schönes Kleid.

Katja richtete sofort ihren kritischen Blick auf das Etikett. „Sag‘ mal Sonja“, fragte Ulrich in der Küche, „Du hast doch ständig mit Kindern und Jugendlichen zu tun, ist es heute nicht mehr üblich, sich für ein Präsent zu bedanken? Haben wir veraltete Lebenseinstellungen? Katja habe ich nicht angemerkt, ob sie sich über die Hose freut, ihr Gesicht war fast ohne Regung, kein Wort eines kleinen Dankes. Bei solchen Reaktionen vergeht einem der Ansporn, wieder mal etwas zu besorgen, eine winzige freudige Rückkopplung wünschte ich mir schon.“

„Klar Ulrich, jede Generation hat ihre Eigenheiten und das Förmliche und Steife gehört der Vergangenheit an.“

„Aber ein kleines freudiges Wort, eine kleine dankende Geste über das empfangene Wohlwollen ist doch gerade menschlich, und das wünsche ich mir. Das verbindet uns, das stärkt unsere Gefühlswelt. Wenn alles als selbstverständlich betrachtet wird, kühlen sich die Empfindungen des Miteinanders ab. Sag`, ist Dankbarkeit eine Last?“

„Jetzt redest du wieder etwas philosophisch, fast wie in der Kirche. Da müsste ich auch noch Cicero anführen, ich hatte es neulich Schülern vorgetragen: ‚Keine Schuld ist dringender, als die - Dank zu sagen‘. Aber das klingt alles so formal. Recht hast du schon mit deinem Wunsch. Ich hatte auch mit den Schülern ein Zitat Goethes besprochen: ‘Undank ist immer eine Art Schwäche Wahrscheinlich muss man es lernen, sein Gefühl der Freude und Dankbarkeit locker dem anderen zu zeigen, wir müssen stärker Vorbild sein.“

An diesem Abend drehte sich Sonja noch lange in ihrem neuen Kleid, voller Erwartung fieberte sie dem Fest entgegen.


Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen

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