Читать книгу Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen - Richard R. Bernhard - Страница 5
3. - Zweite Hälfte der 80er Jahre – Im Frühjahr
Оглавление„Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe.“
Jacob Burckhardt
Im Frühjahr, es muss in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre gewesen sein, wurde Thalheim in das Büro von Martin Weise gerufen. Weise war Betriebsdirektor des Elbpharmwerkes in Dresden und thronte auf einem erhöht stehenden Stuhl. Weise trug die anscheinend gefärbten Haare relativ lang, sie bedeckten vollkommen seine Ohren. Seine Barttracht am Kinn pflegte er besonders auffällig. Zwar eiferte er nicht Salvatore Dali mit dem Schnurrbart nach, der meinte, dass ein Mann ohne Bart nicht richtig angezogen sei. Eher war der Spitzbart sein Markenzeichen, wie bei dem obersten Herren, der seinen Spitznamen danach erhielt. Für Weise war der Bart kein Mode-Accessoire, sondern ein Zeichen der Macht und der körperlichen Vitalität. Mit dieser Zierde der Männlichkeit könne er sich den Herausforderungen des Lebens stellen, wie er manchmal betonte. Die Betonung der Machtansprüche stand für ihn im Vordergrund.
An dem darunter stehenden Konferenztisch saßen ein Unbekannter und weitere leitende Angehörige des Werkes und Parteikader. Der Schreibtisch stand erhöht auf einem Podest, so konnte Weise von oben herab seinen Anweisungen mehr Gewicht verleihen. Auf dem Schreibtisch stand eine Leninfigur in Bronze, an der Rückwand hingen Bilder von Marx und Engels.
Weise strich seinen spitzen Kinnbart glatt, schaute zu dem Unbekannten, stellte den Gast als Oberstleutnant der Organisation vor, die verdeckt arbeite.
Während Thalheim beim Kontakt mit der ominösen Macht dubiose Empfindungen verspürte, schien zwischen Direktor Weise und der Staatsicherheit ein eher mephistophelisches Zusammenspiel zu wirken. Bei diesen Connections versorgte Weise die Geheimdienstler mit speziellen Informationen und erhielt dafür den Freibrief und die materielle Unterstützung für Reisen in die große Welt. Er erhielt die Möglichkeit, den eingeengten Mikrokosmos des eigenen Landes zu verlassen und ein anderes entwickeltes herkömmliches Gemeinwesen zu beschnuppern.
Der Oberstleutnant wünsche Auskunft über den Kollegen Chris Peschel, der von einer Jugoslawienreise nicht zurückgekommen und demzufolge republikflüchtig sei, sagte Weise. Peschel habe schon viermal den Antrag gestellt, mit Familie in Jugoslawien Urlaub zu machen, stets sei das abgelehnt worden. Diesmal sei eine Reise für ihn allein genehmigt worden. Der Stabsoffizier wolle wissen, was für ein Mensch dieser Peschel sei.
Weise forderte Thalheim auf, diese Frage zu beantworten, da er doch Peschels Vorgesetzter sei. Thalheim charakterisierte ihn als fleißig, effektiv und gewissenhaft arbeitend, er habe neue Lösungen erreicht und Anteil an Patenten.
Im scharfen Ton erwiderte der verdeckt Arbeitende, dass ihn dies weniger interessiere. Er wolle wissen, welche gesellschaftlichen Ansichten Peschel habe, worüber er diskutiert habe. Thalheim antwortete, dass sich Peschel in dieser Richtung nicht geäußert habe.
Der breitschultrige, glatzköpfige Stasi-Mitarbeiter mit hervortretenden Backenknochen lief im Gesicht rot an und stieß, Speichelreste auf den Lippen, die beim Sprechen in Richtung des gegenüber sitzenden Thalheim verspritzten, im militärischen Befehlston hervor:
„Dr. Thalheim, dass Sie ein guter Wissenschaftler sind, mag ja sein – aber in erster Linie sind Sie politischer Leiter. Also müssen Sie doch wissen, was Ihre Leute gesellschaftlich denken, welche Anschauungen diese haben, was sie in der Freizeit treiben, mit wem sie sich treffen. Also, wie ist das mit dem Peschel?“
Thalheim entgegnete, dass er in erster Linie Forschungsergebnisse hoher Qualität abliefern müsse, die Forschungsarbeiten effektiv zu organisieren habe und wenn sich jemand nicht über politische Fragen äußere, könne er auch nichts über dessen Ansichten sagen. Man könne nun mal keine Gedanken lesen.
Der Geheime nahm steife Haltung an und herrschte Direktor Weise an, er möge doch von seinem Hochsitz herunterkommen und hier unten am Tisch Platz nehmen.
Die anwesenden Organisierten ließen die Erklärung Thalheims nicht gelten. Es hagelte Fragen.
Auf Thalheim waren die strengen Blicke von zehn Augenpaaren gerichtet. Er hasste solch ein Klima, im Kreuzfeuer der Worte zu stehen, sich grundlos rechtfertigen zu müssen. Als er realisierte, dass er einer geballten Macht gegenüber saß, fühlte er sich plötzlich an eine weit zurückliegende große Mitgliederversammlung erinnert, in der er aufgrund einer nebensächlichen Äußerung, die monumental vergrößert und verzerrt wurde, über sehr lange Zeit Antwort auf ihn einprasselnde Fragen geben musste. Sein Klassenstandpunkt sei zu überprüfen. Er war Sanktionen ausgesetzt.
In derartigen Situationen gelang es ihm nicht immer, genügend Selbstbewusstsein zu entwickeln. In solch einer aufgeheizten Atmosphäre der Spannung wurde man klein gemacht, man wurde niedergehalten, man wurde verbal zur Unterwerfung genötigt, man verspürte den Druck von unzähligen imaginären Fäusten im Nacken, eine pure Selbsterniedrigung. Er wollte sich wehren, aber die passenden stichhaltigen Antworten konnte er nicht überzeugend formulieren, nur Stückwerk brachte er hervor. Disziplin der Organisation der Bewussten wirkte wie ein Korsett, wie eine feste Bandage am Hals, die immer straffer zugezogen wurde. Er hörte, Kritik und Selbstkritik sei das Lebens- und Entwicklungsprinzip der Organisation.
Thalheim wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich der verdeckt arbeitende Offizier mit lauter aggressiver, quäkender Stimme an ihn wandte:
„Thalheim, mit solch einer Haltung werden Sie wohl nicht Ihren Aufgaben als Leiter gerecht.“
Wenn jemand sein Land verlassen wolle, müsse man vorher davon etwas bemerkt haben. Das Verhalten solcher Menschen würde sich doch ändern.
Die provokante Stimme, die beklemmende Atmosphäre rief Unbehagen in Thalheim hervor. Er fühlte sich, als sitze er auf der Anklagebank und habe eine Untat begangen.
Der leitende Funktionär der betrieblichen Organisation der Bewussten wollte wissen, wie Thalheim denn die monatlichen Bewusstseinsanalysen anfertige, wenn er nicht wisse, was die Leute dächten. Das aufgeblähte Berichtswesen verabscheute Thalheim. Ständig waren Berichte zu verfassen und Sachverhalte zu schildern, Berichte zu aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen, Berichte zu Stimmungen und Meinungen, Berichte zu besonderen Vorkommnissen, Monatsberichte. Nach Auswertung durch die Organe der Organisation wurden alle Berichte im geheimen Überwachungsapparat gesammelt, hinsichtlich Informationen ausgeschlachtet und archiviert. Zur Mitwirkung an verdeckten Ermittlungsverfahren waren alle Behörden, Bildungseinrichtungen, Betriebsleitungen, Verwaltungen, Krankenhäuser zur geheimen Zusammenarbeit verpflichtet. Bei diesem politisch operativen Zusammenwirken waren die Lebensumstände des Subjekts zu ermitteln, feindlich negative Kräfte waren ausfindig zu machen. In fast jeden Lebensbereich konnten die Geheimen einwirken.
Wenn Thalheim Kongresse und Tagungen besuchte, hatte er anschließend über Kontakte zu berichten. Wurde er in der montäglichen Versammlung der Organisation gefragt, welche Meinungen und Diskussionen es in seinem Bereich zu gesellschaftlichen Fragen gab und wie er als Leiter gegnerischen Anschauungen entgegengetreten sei, fühlte er sich stets in einer misslichen Situation. Zum einen wollte er niemand denunzieren und damit das Vertrauen zerstören. Zu sagen, es gebe keine Fragen, keine Diskussionen, wurde oft rasch als Unfähigkeit, als Nichteignung für den Posten des Leiters gewertet. Also berichtete er über allgemeine Missstände, Unzulänglichkeiten, die es im Alltag zur Genüge gab, und nannte so anonym nicht gelöste Fragen.