Читать книгу Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen - Richard R. Bernhard - Страница 7
5. - 80er Jahre – Ideologische Mühlsteine
Оглавление„Bevor man seine Bedenken äußert, sollte man seine Äußerungen bedenken“ Gerhard Uhlenbruck
Übers Wochenende beschäftigten Thalheim gedanklich die angekündigten Neuentwicklungen, für die es keine materielle Basis gab. Betriebsversammlungen hatten oft ihreTücken.
Die Dämmerung des warmen, sonnigen Sonntags hing bereits schwer in den Straßen. Die Zeremonie des Abends – die vielen Handgriffe waren getan. Seine Frau strich ihm über die Schulter. Vielleicht dachte sie, sie habe es lange nicht getan. Aber sie fühlte an diesem Tag: Er braucht es. Thalheim ging auf den Balkon und schaute in den Abendhimmel. Der Taghimmel war verschwunden. Er nahm das tiefe Blau während der Dämmerung und des aufsteigenden Nachthimmels wahr. Kandinsky, der expressionistische Maler des Blauen Reiters, verband das Blau mit Ruhe, Ferne, Ewigkeit, Unendlichkeit. Thalheim mochte aber auch das Blau in den Aquarellen seines verehrten Malers Querner. Er blickte gern in den grenzenlosen Himmel, er hing dann seinen träumerischen Gedanken nach, neben der Tiefe und Weite blitzten Formeln auf, Assoziationen zu seinen chemischen Versuchen kreisten im Kopf. Trotz starken Streulichts drang das irreale Funkeln des Abendsterns am westlichen Abendhimmel ins Blickfeld. Kant sah Himmel und Mensch als Einheit, als moralische Schicksalsgemeinschaft – der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Über Nacht bliesen starke Sturmböen über das Land. In den Morgenstunden war der Himmel grau, dunkel, Wolken über Wolken. Eine desolate Wetterlage. In schrägen Fäden rieselte Schnürregen vom Himmel. Die himmlischen Ausscheidungen initiierten depressive Gefühle. Im Nachhinein war es eine Vorhersage, eine düstere Ahnung, wie eine Prophezeiung für die Belegschaftsversammlung an diesem Tag.
Direktor Weise hatte angekündigt, dass in Vorbereitung des Jahrestages der Republik auf der Versammlung die Zustimmung zu neuen Produktions- und Entwicklungsverpflichtungen erwartet werde und die Strategie des Betriebes für die folgenden Jahre erläutert würde.
Die Zusammenkunft von Menschengruppen, also der Belegschaft, war für Weise wieder eine Möglichkeit, ein Podium zu schaffen, auf dem er seinen Willen gegen dissonante Meinungen durchzusetzen versuchte. Auf dieser Spielfläche durchlebte Weise seine Glücksgefühle, seine Wollust nach Macht. Zur Umsetzung, zur Vervielfältigung, zur Verstärkung seines Willens bediente er sich der Transmission durch mehrere andere, vorzugsweise weibliche Personen. Oft ließ er über Leitungsmitglieder der Organisationen oder über andere Sprecher seine Meinung verbreiten.
Die Belegschaft hatte sich im großen Speisesaal zusammengefunden. Vor den Stuhlreihen waren mehrere mit rotem Tuch überspannte Tische aufgestellt, an denen das Präsidium saß. In der Mitte hatte Direktor Weise Platz genommen. Seine Frisur und sein Kinnbart waren gut gepflegt. Sein roter Binder gab einen intensiven Kontrast zu seinem blaugestreiften Hemd. Als er sich erhob, quoll sein Bauch über den Gürtel. Zu Beginn seiner Rede verwies er auf die guten Ergebnisse des Betriebes, dafür dankte er allen. Wohlwollend blickte er in die Runde.
Nachdem er die internationale Lage und die schlechten außenwirtschaftlichen Bedingungen des Landes angesprochen hatte, leitete er auf die zukünftigen Entwicklungsvorhaben, die kommenden betrieblichen Aufgaben und die zu erwartenden Verpflichtungen über. Alle Angehörigen von Elbpharm sollen ihren Beitrag leisten, die letzten Geißeln der Menschheit zu besiegen.
Thalheim war mit seinen Gedanken abgeschweift, und er fuhr zusammen, als er hörte:
„Und der Doktor Thalheim hat gegenüber den neuen Entwicklungszielen unseres Betriebes Vorbehalte.“
Dabei verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, er streckte seinen Arm hoch in die Luft, spreizte die dickfleischigen Finger und ahmte die Gestik von östlichen Arbeiterführern zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach, um somit seinen Worten genügend Nachdruck zu verleihen.
Viele der Anwesenden drehten sich in Richtung Thalheim um. Kaum hatte Weise seine Rede beendet, als auch schon die Vorsitzende der Gewerkschaft fragte, welche Vorbehalte denn Doktor Thalheim habe.
Thalheim schoss es durch den Kopf. Weise hatte wie üblich wieder eine Reihe Sprecher aus dem Kreis seiner Marionetten, seiner Schachfiguren, seiner Günstlinge bestellt, die noch einmal tüchtig in der Problemmasse herumrühren und durch Fragen die Darlegungen Weises untermauern und vertiefen sollten. Auf diese Art konnte Weise Übereinstimmung zwischen seinen Vorstellungen und denen der Leitungen der gesellschaftlichen Vereinigungen herstellen und so seinen Willen, seine Forderungen, seine Machtansprüche zentralistisch durchsetzen und ein funktionierendes Machtinstrument schaffen.
Thalheim, mit ernster Miene, erhob sich von seinem Sitz, betonte, dass er keine Vorbehalte habe, es aber Probleme gebe. Er legte die Fakten dar und erläuterte seine Auffassung. Er berichtete: „Erfahrungswerte zeigen, es vergehen zwei Jahre, ehe Importchemikalien eintreffen. Erst dann können wir mit der Arbeit richtig loslegen. Also kann nach zwei Jahren noch kein Produktionsbeginn sein, die Laborversuche können erst ab dieser Zeit nach Eintreffen der benötigten Chemikalien intensiv betrieben werden. Ich kann das noch mit einer Begebenheit untermalen. Für die letzte Forschungsarbeit brauchten wir bestimmte Chemikalien von einer Firma in der Schweiz. Die Bestellung ging über die staatlichen Stellen. Als nach zwei Jahren Wartezeit nur einige Chemikalien geliefert waren, fragten wir bei den staatlichen Stellen an und erhielten die Antwort: ‚Bei dem Buchstaben M war das Geld für das betreffende Jahr alle‘. Also verging noch ein Jahr, ehe die restlichen Chemikalien eintrafen, die nun nicht mehr gebraucht wurden. Wir mussten ein anderes Verfahren wählen, das nicht so effektiv war.“
Im Saal ging ein Raunen durch die Anwesenden. Viele Blicke trafen Thalheim.
Da erhob sich eine Aggressive aus der Leitung und fragte: „Doktor Thalheim, weshalb verschwenden Sie Valutamittel und horten Chemikalien, die Sie gar nicht brauchen?“
Eine andere stand auf und sagte: „Sie haben studiert und müssen doch Wege finden, wie Sie ohne dieses Westzeugs an Chemikalien auskommen.“
Eine Dritte agitierte: „Unser Land braucht schnell neue Produkte, die wir verkaufen können. Da kann man nicht über Wartezeiten diskutieren. Wir können nicht warten.“
Im Präsidium gaben einige Beifall.
Eine weitere aus der Leitung der Bewussten, die im Präsidium saß, rief in die Menge: „Doktor Thalheim, Sie sollten Ihren gesellschaftlichen Standpunkt überprüfen.“
Thalheim realisierte, auf solch eine extrem naive Vereinfachung könne er nicht mehr sachlich antworten, besonders wenn noch versucht würde, alles auf die allgemein-öffentliche Ebene zu ziehen. Er hatte gelernt, seinen Widerstandswillen zu zähmen, in manchen Situationen die eigenen Gedanken für sich zu behalten. Ein schwankender Standpunkt zu Fragen des Gemeinwesens konnte den beruflichen Leumund belasten und im krassen Fall die Stellung kosten. Er sah sich in dieser Situation, in dieser Atmosphäre einer Macht ausgesetzt, die über ihm schwebte, die nicht mehr nur von einer Person ausging. Diese Macht war imaginär, sie war aber fühlbar. Er fühlte sich niedergedrückt, gedemütigt, unsachlich behandelt, mit primitiven Äußerungen konfrontiert. Wenn etwas auf die politische Ebene gezogen wurde, war es nicht mehr fassbar – aber als Druck spürbar. Der Druck dieses Dunstkreises lastete auf seinen Empfindungen, beeinflusste sein Gemüt. Er fühlte sich, als würde er von einem mächtigen Wesen in den Schlamm des Alltags gedrückt, als würde ein Über-Ich sein Ich steuern wollen, als solle sein Selbstwertgefühl herabgesetzt werden. Er sagte sich, dass jeder Mensch unverwechselbar sei und er sich als fühlendes, denkendes Ich wahrnehme. Er gehe jetzt in sein Labor und wehre die unangenehmen Gefühle ab, verdränge sie, entziehe sich symbolisch dem bedrohlichen Einfluss. Er wolle mit den Augen des chemisch arbeitenden Pharmazeuten gedanklich die Bewegungen der Atome und Moleküle in seinen Reaktionsansätzen verfolgen.
Nach Ende der Versammlung schauten beim Hinausgehen mehrere Anwesende ihn länger als einen Augenblick an, manche mit starrem verdächtigem, andere mit anerkennendem Blick. So diente diese Versammlung – wie häufig im Land – eine Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit zu erzeugen.
Auf dem Flur begegnete Weise vor seinem Büro Dr. Hans Vogel.
„Na, Doktor, was sagen Sie zu unseren neuen Zielen“, wollte Weise von Vogel wissen.
„Da haben Sie ja einen ganz schön großen Ballon aufgeblasen“, erwiderte Vogel.
„Nicht wahr, schön farbig, interessant, weit hin sichtbar, erregt Aufmerksamkeit.“
„Was ist aber, wenn die Gasfüllung ausgeht? Dann fällt er in sich zusammen, fällt zu Boden. Das Gebilde ist in sich nicht stabil. Bleiben dann nur die schönen Worte übrig? Man hört heutzutage so viele schöne Worte, die kein Geld bringen.“
Der Endfünfziger Vogel mit langem grauem Haarschopf und Hornbrille versuchte stets, Widerpart zu bieten, offizielle Äußerungen in Zweifel zu ziehen - es war unklar, zu welchem Zweck. Einerseits hielt er sich stark in Äußerungen, ganz besonders in politischen zurück – andererseits war er oft bemüht, ins Interesse der betrieblichen Öffentlichkeit zu kommen. Er war quasi der Hofnarr, der Götze. Vogel leitete die Nachbarabteilung in der Forschung, die neben Thalheims Abteilung gelegen war. Außer einen Guten-Tag-wünschend, kamen Thalheim und Vogel kaum ins Gespräch. Die unterschiedlichen politischen Ansichten waren meist der Hinderungsgrund für persönliche Kommunikationen. Vogel war gegenüber dem organisierten Thalheim misstrauisch, wie er wohl gegen alle Mitglieder der Organisation Argwohn hegte.
Von den Inhabern der Macht wurde Vogel hofiert, auch wenn er sich manchmal bösartig benahm. Jede spitze, spöttische, geistreiche, selbstgefällige Bemerkung, die er öffentlich äußerte, verschleierte sein wahres Wesen nur noch mehr. Manchmal ließ er scheinbar Schwächen erkennen, die in Wirklichkeit aber nicht seine Person betrafen. Er versuchte abzulenken, sich unwissend zu stellen, doppelsinnige Assoziationen herzustellen, vielleicht irrezuführen, zu übertreiben, zu karikieren, um als eigentlicher Systemleugner, als Kritiker des Zeitgeistes nicht erkannt zu werden. So genoss er Narrenfreiheit.
„Ja Doktor, durch unsere Arbeit müssen wir ein in sich stabiles System daraus machen, das sich gut verkaufen lässt“, setzte Weise fort.
„Aber uns fehlt doch viel zu viel, um aus einem Ballon einen dauerhaft stabilen Körper zu machen. Es fehlt an allen Ecken etwas“, erwiderte Vogel.
Vogel nickte Weise zu und ging weiter.