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1. – Der Anruf
ОглавлениеRichard R. Bernhard
Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen
Erzählung
Inhaltsverzeichnis
„Väter soll man weder sehen noch hören“ Oscar Wilde
Über ein Problem sinnend, saß Ulrich Thalheim an seinem Schreibtisch zwischen Papierbergen, aufgeschlagenen Ordnern und seitlich deponierten Bücherstapel, aus denen Lese- und Merkzettel herausschauten. Während ihn seine Frau oft geißelte, dass doch in diesem undurchdringlichen Papierdickicht ein unproduktives Chaos herrsche, verteidigte er seine ganz persönliche Unordnung an Papier, Notizen, angefangenen Manuskripten. Für ihn als kreativ Denkenden gelte das Chaos als Inspirationsquelle. Jeder wichtige Gedanke müsse auf einem Zettel festgehalten werden. Während eines Telefonates sei es oft notwendig, rasch Stichworte zu notieren.
Anders sein jüngerer Kollege in der Nachbarabteilung der Firma, der Zettelwirtschaft verabscheute, Aktenschränke als verstaubt und altmodisch ansah, eine Lanze für Papierminimalismus brach und das papierlose Büro als moderne Vision des Arbeitens propagierte. Sein Schreibtisch war immer aufgeräumt. Hinterließ er beim Vorgesetzten einen besseren Eindruck?
Während im Computer vordergründig vielleicht eine Ordnung von A bis Z zu finden sei, stöbere Thalheim im Regal, in Dokumenten, in Büchern oder in Aktenbergen nach querverbindenden Problemen. Das Aufschnappen auftauchender Begriffe rege ihn zu Analogieschlüssen an. Er verteidigte seine Assoziationsräume, die im Computer verloren gingen und dem Menschen eigen seien und ihn schöpferisch machten.
Am Telefon auf Thalheims Schreibtisch kündigte eine Chopin Melodie einen Anruf an. Der sportliche, groß gewachsene Thalheim mit links gescheiteltem Haar schaute auf das Display und erkannte die Nummer seiner Stiefmutter. Noch gedankenversunken, löste sich die den Kopf stützende Hand von seinem Haupt und griff zum Mobilteil, unwillkürlich straffte er den Oberkörper und nahm eine aufrechte Haltung ein:
„Ja.“
„Jung, dein Vater liegt im Sterben. Wenn du ihn noch einmal sehen willst, dann komm schleunigst nach Hause.“
Am anderen Ende der Telefonverbindung gab seine Stiefmutter unvermittelt ihre Mitteilung von sich. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie sie kerzengerade an der Wand lehnte, die spitze Nase und das Kinn leicht nach oben gehoben, ebenso wie sie, die Hotelbesitzers-Ehefrau, immer ihre Befehle im energischen Tonfall an die Angestellten weitergab. Sicherlich hatte sie ihre rotbraunen Haare hochgesteckt, die Lippen mit Rouge betont und die Wangen gepudert. Häufig wurde sie von männlichen Gästen wegen des Mahagonirots ihrer Haare bewundert. Von manchen war auch das Sprichwort leise murmelnd zu hören: Rotes Haar, spitzes Kinn, da sitzt der Teufel drin. Diesem oder jenem wird das Klischee über Rothaarige in den Sinn gekommen sein, wonach dieser Frauentypus als geheimnisvoll, erotisch, verführerisch, stolz und streitsüchtig galt. Durch die Gasträume des Hotelbetriebs schritt sie stets majestätisch mit leicht erhobenem Haupt und gebieterischem Blick, ihre Augen registrierten jede Abweichung vom Standard der Abläufe. Gab es Divergenzen, wurden die Angestellten zurechtgewiesen.
„Ich habe keinen Vater“, sagte Thalheim bestimmend in das Mikrofon.
„Jung, es ist dein Vater.“
„Seine Beichte bei meinem letzten Besuch hat mir nur einen Fremden gezeigt. Er hat meine Mutter auf dem Gewissen. Mein Bruder und ich, wir mussten als Kleinkinder und die Jahre danach in der Fremde aufwachsen.“
Unbewusst fasste er sich an die Nase.
„Jung, er ist dein Blutsverwandter.“
„Ich habe nur einen Erzeuger. Es gab keine Vater-Kind-Beziehung. Er hat uns nie umsorgt, nicht auf den Arm genommen, er hat uns in kritischen Momenten nicht beigestanden, er gab uns keinen Schutz, wir hatten keine sichere Umgebung, er hat sich nicht für uns interessiert.“
Thalheim neigte seinen Kopf zur Seite. Sein Blick blieb auf dem Selbstbildnis mit der Distel des Dresdner Malers Curt Querner haften, das rechts von seinem Schreibtisch gemeinsam mit Querners Aquarell Schneeflecken vor Karsdorf und Kipse hing. Das Symbol der Distel als Verbildlichung des Widerspruchs, der Divergenz, des Einspruchs, vielleicht sogar des Protestes fand Thalheim immer spannend und anregend.
Das Telefongespräch war beendet.
Auf dem Fenstersims vor Thalheims Schreibtisch war eine grau-braune Taube gelandet. Der kleine rundliche Kopf neigte sich und pickte die Krümel auf, welche Ulrich Thalheim als Vogelfutter gelegentlich auslegte. Der Anblick der Taube rief in diesem Moment in ihm unweigerlich Assoziationen zu Aschenputtel hervor. Wie sich doch die Stiefmütter in ihrem Wesen glichen.
Zwischen Thalheim und seiner Stiefmutter bestand eine große emotionale Distanz. Er verspürte keine Familienharmonie. Mit strenger Miene und scharfer Stimme erteilte sie in seiner Jugendzeit ständig Aufträge. Im Garten hatte er auf den Knien Unkraut zu jäten. Die in Großvaters Stall eingestellten Ziegen mussten auf die Weide gebracht werden und der Stall war auszumisten. Er fühlte sich wie die Pechmarie im Märchen, während die Tochter der Stiefmutter ihren Tag nach eigenen Vorstellungen verbringen konnte.
Einige Tage später teilte die Stiefmutter mit, dass Vaters Seele den Leib verlassen habe und sich nun im Himmel bei Gott befände.
Als Naturwissenschaftler sah Thalheim den Tod als Ende des individuellen Lebens. Die Lebensfunktionen fielen unumkehrbar aus. Es war das Ende aller lebenserhaltenden biochemischen Vorgänge und aller Funktionsabläufe.
Ja, die Seele, die Lebenskraft, hatte den Körper verlassen. Wo war sie jetzt? Er zog sich am Abend in seiner Wohnung zurück, um ungestört einen Brief zu schreiben. Er verspürte das dringende Bedürfnis, der Seele seines Vaters zu schreiben, seine Gedanken über seinen Vater in Worte zu fassen. Wie sollte er beginnen, welche Anrede sollte er wählen? Vater im Himmel - diese Anrede war bereits besetzt. Auch zu Vater konnte sich Ulrich nicht durchringen. Natürlich war er Ulrichs biologischer Vater, der Erzeuger, aber die Vaterrolle hat er nie wahrgenommen. Ulrich begann:
Ich habe die Bilder deines Albums angeschaut. Auf mehreren Fotos stellst du dich in SA-Uniform, gestiefelt, stolzgeschwellt in Positur. Auf anderen hältst du das Parteibuch der NS-Partei lächelnd in die Kamera.
Mehrere Aufnahmen zeigen, wie du mit deiner SA-Horde, den Gummiknüppel in der Hand, anscheinend johlend und ‚Heil‘-rufend, um die Häuserblocks zogst. Wen wirst du gejagt haben? Wen wirst du wohl niedergeschlagen haben? Im Sportlerheim habt ihr die Hatz tüchtig begossen.
Dann begann der Krieg. Auch hier zeigen dich Bilder in selbstgefälliger, aufgeblasener Pose. Du musstest nicht in Schützengräben darben, du standest im Hinterland in der Feldbäckerei an dem Backofenwagen und bukst das Kommissbrot. Einige Mal warst du auf Fronturlaub und hast meinen Bruder und mich gezeugt. Während meiner Geburt muss es Probleme und Risiken gegeben haben. Es muss bei meiner Mutter zu vorübergehenden anfallartigen Erscheinungen mit Bewusstseinsverlust gekommen sein. Ich habe recherchiert. In Unterlagen war zu sehen, dass du mit deiner verbissenen Nazi-Einstellung zugestimmt hast, dass an meiner Mutter Maßnahmen der Eugenik vollzogen wurden. Niemand hatte gefragt, ob die Entladungen in den Nerven des Gehirns meiner Mutter während der Geburt einfache Stoffwechselstörungen, Störungen im Mineralhaushalt oder Zeichen einer Unterzuckerung waren. Im Sinne der ‚Rassenhygiene‘ hast du zugelassen, dass sie in eine Anstalt kam und systematisch dem Euthanasieprogramm unterworfen wurde, bis sie letztlich starb. Du hast zugestimmt, dass sogenanntes ‚minderwertiges ‚ lebensunwertes Leben‘ ausgemerzt wurde. Wie aus Unterlagen hervorging, ließ man sie allmählich verhungern.
Du hattest im Krieg und in der Gefangenschaft dein Kommissbrot, du brauchtest nicht zu hungern. Im Gegenteil, auf deinen Fotos war zu sehen, wie dein Brot ein Lockmittel für gefügige Frauen war.
Du hast unsere Mutter auf dem Gewissen. Sie war fern von uns Kindern. Wir hatten keine mütterliche Wärme, keine Mutterliebe, keine Fürsorge, kein Streicheln. Ganz klein, als Säugling, als Kleinkind wurden wir in die Fremde geschickt. Nie hatten wir die Geborgenheit einer Familie verspürt.
Das kann ich nicht vergessen. Du kamst aus dem Krieg zurück und warst für uns ein Fremder. Ein gemütliches, vertrauensvolles Zuhause hast du nie aufgebaut. Von deinen Kindern hast du dich systematisch entledigt.