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7. - Jahrzehnte zurück
Оглавление„Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten“
Karl Emil Franzos
Das Interesse Thalheims für naturwissenschaftliche Vorgänge, für chemische und biologische Abläufe begann bereits in der Schule.
Der Vater kam aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurück, als seine Söhne, Ulrich und Wolfgang, bereits sportlich-athletische Schulkinder waren. Der Vater schwärmte von den Kriegserlebnissen, ein leichter Stolz über seine Mitgliedschaft in der faschistischen Partei war noch zu merken. Die Mutter war verstorben, der Vater hatte sie nicht gerettet, er hatte sie den nazistischen Schergen überlassen, die ihr das Leben nahmen, die lebensunwertes Leben vernichteten, wie die Vollstrecker es nannten.
Der Vater hatte das Werden der kleinen Persönlichkeiten, Ulrich und Wolfgang, nicht verfolgen können. Er hatte weder in den ersten Monaten und Jahren deren kleine Finger halten, die Buben auf den Arm nehmen, noch später mit ihnen das Laufen üben können. Er hatte sich nie in die kleine Seele der Heranwachsenden hineindenken müssen. Seine Kinder waren in der Fremde groß geworden. Als der Vater aus dem Krieg kam, hatten sie sich bereits ihre eigene Welt erobert. Mit den Gleichaltrigen spielten sie auf dem angrenzenden Berg Räuber und Gendarm. Sie bauten auf Bäumen mit Brettern aus abgelegenen Gärten Festungen, legten Münzen und andere Metallteile auf die Bahnschienen, die beim Darüberfahren des Zuges breit gewalzt wurden, anschließend wurden die Figuren entschlüsselt und mythisch gedeutet.
Sie züngelten mit einem brennenden Fidibus, mit dem sie eigentlich Zigaretten vom Schwarzmarkt anzünden wollten, an losem trockenem Waldgras, das brennend von einer Windböe erfasst, in den angrenzenden niedrigen Wald junger Bäume getragen wurde, der lichterloh zu brennen anfing. Die Feuerwehr musste ausrücken. Die Behörden verhängten Strafen. Der Vater züchtigte seine Kerlchen mit Schlägen, wobei er blitzschnell den Hosenriemen in der Hand hielt und auf die Bengel gewalttätig einschlug, wie er es sicherlich in seinen NS-Schlägerbanden gelernt hatte. Ulrich fiel auf, wie seine Gesichtszüge ein brutales Aussehen annahmen. Vielleicht kam ihm in den Sinn, wie er auf Gegner während der Blütezeit des besiegten Regimes losging. Ulrich schien es, als hätte er Anzeichen von Hass im Gesicht erkannt. Diese Visage vergaß Ulrich nicht mehr, dieser Eindruck war tief in sein Inneres eingebrannt. Die beiden Brüder hatten mit Sehnsucht den Vater erwartet. Aber das zarte Pflänzchen beginnender emotionaler Bindung war nun vertrocknet.
Hausarrest folgte.
Schulische Abläufe interessierten die heranwachsenden Jungen nicht, Aufgaben wurden nicht erledigt.
Der Vater wusste mit den Knaben nichts anzufangen, also gab er sie zu seiner Schwester Hertha und ihrem Mann Fritz in Jena. Hier lernten Ulrich und Wolfgang erstmalig kennen und schätzen, was unter Familie zu verstehen war, wie reich und vielstimmig familiäre Beziehungen sein können. Bei Onkel Fritz, dem Feinmechaniker in den Zeiss-Werken, bekamen sie Einblicke in mechanische und technische Prozesse. Sie durften ihm an einem besonderen Tag bei der Arbeit zusehen. Hier wurde in Ulrich und Wolfgang das erste Interesse für mechanische Abläufe im Alltag geweckt. Onkel Fritz machte sie neugierig, wie Werkstoffe bearbeitet und umgewandelt werden.
Ulrich und Wolfgang waren in Jungenklassen und wetteiferten mit ihrer fast gleichaltrigen Cousine Inge, welche die parallele Mädchenklasse besuchte. Aus vorherigen Noten Vier und Fünf wurden nunmehr auf dem Zeugnis Einsen und Zweien.
Zu Ostern erwanderte Onkel Fritz mit den Kindern die Umgebung Jenas. Sie suchten einige der Sieben Wunder Jenas auf. Zuerst stiegen sie den markanten Muschelkalkberg mit der Nase, den Jenzig empor.
Onkel Fritz stellte sich vor, wie wohl Goethe während seines Spazierganges mit Wagner seinen Eindruck beim Blick ins Tal in Verse verwandelte. Denn Onkel Fritz deklamierte: Kehre dich um. Von diesen Höhen/ Nach der Stadt zurückzusehen./ Aus dem hohlen, finstern Tor/ Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
An den Rändern der Wanderwege war die Schichtung des Kalksteines zu erkennen, der manchmal von einer dünnen Lage farbiger, häufig blauer Mineralien durchsetzt war.
Sie suchten im Gestein nach Fossilien, hatten aber wenig Glück. Onkel Fritz kannte aber bestimmte Stellen mit geologischen Besonderheiten, an denen sie kleine Schnecken, Muscheln und Reste versteinerter Meerestiere fanden. Mit viel Fantasie wurden sie Seeigeln, Seelilien und Armfüßern zugeordnet.
Am Ostermontag suchten sie weitere Wunder Jenas auf. Zuerst schnauften sie den langgestreckten Hausberg hinauf, auf dem der Fuchsturm stand. Knappschaften und Studenten hatten dort oft ihre Feste gefeiert. Nachdem der Turm im achtzehnten Jahrhundert ein Dach erhielt, wurde dort eine astronomische Beobachtungsstelle eingerichtet. Als sie alles beschnuppert hatten, jagten sie den Berg hinab ins Ziegenhainer Tal und fuhren mit der Straßenbahn ins Stadtinnere. Sie hatten Glück, noch kurz vor der vollen Stunde am Rathausturm zu sein, als dann mit Glockenschlag die Schnapphans-Figur nach einer goldenen Kugel an einem Stab, die ein Pilger hielt, schnappte.
Dann schauten sie sich noch den siebenköpfigen Drachen Draco aus dem siebzehnten Jahrhundert an. Damals hatten Studenten außerdem noch vier Beine, zwei Arme und vier Schwänze daran gebastelt.
Der Vater suchte sich über Anzeige eine neue Frau. Zur Stiefmutter hatten beide Jungen kein gutes Verhältnis. Während Ulrich noch folgsam war und sich nicht traute, gegen die Anordnungen der Stiefmutter aufzubegehren, war Wolfgang quasi rebellisch. Er verließ früh das Haus, holte sich nach der Schule bei den Großeltern etwas zu essen und zog mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen durch den Wald. In Waldhütten brieten sie Spiegeleier, die sie vorher noch warm den Hühnernestern eines Großbauern entnommen hatten. Sie probierten das Rauchen, ahmten dabei die Gesten auf den Plakaten der Werbung für Zigaretten nach. Zigaretten waren für sie ein Symbol der Auflehnung, die Mädchen sahen darin das Merkmal der Gleichheit. In der Öffentlichkeit war das Rauchen tabu. Hier auf ihren Tummelplätzen ließen sie bei leicht erhobenem Kopf den Rauch durch den halbgeöffneten Mund entweichen. Zwischen den Zügen hielten sie das angezündeten Stäbchen, das weiße, dünne Ding, wie gedankenversunken in der Hand, so als wollten sie die Zigarettenlänge Freiheit mit Lasterhaftigkeit und Erotik unterstreichen. Kurz eingenebelt – bevor der Wind den Smog vertrieb.
Hier an ihrem Treffpunkt testeten sie den Geschmack von Bier oder von Dessertwein, wobei Wolfgang sich das nötige Kleingeld aus der Hauskasse des Hotels oder durch den Verkauf diverse Sachen besorgte. So hatte er die Fähigkeit, sich bei älteren Frauen einzuschmeicheln und um Erlaubnis zu fragen, einige Maiglöckchen im Garten pflücken zu dürfen. Mit rasanter Geschwindigkeit mähte er quasi die Blumen ab, suchte im Eiltempo das Weite und machte aus den sich ergebenden zwanzig Sträußen, die er vor dem Friedhof verkaufte, genügend Kleingeld. Den Mitschülern drehte er beliebte Souvenirs an, die er billig erwarb und mit Aufpreis weiterverkaufte. Mit Ballspielen auf dem Fußballplatz klang das tägliche Treiben aus.
Von der Stiefmutter ließ sich Wolfgang nichts sagen, permanent opponierte er. Trotz ihrer resoluten, bestimmenden Art war sie einem solchen Verhalten nicht gewachsen.
Ulrich war folgsam, strebsamer und ehrgeiziger als Wolfgang. Aber beide liebten die naturwissenschaftlichen Fächer, besonders Chemie. So entwickelte sich bei beiden der Wunsch, Chemiker oder Pharmazeut zu werden.
Als der ältere Wolfgang die Grundschule beendet hatte, sagte seine Stiefmutter zu ihm:
„Jung, ich habe einen Schulfreund im Westen, der führt eine Apotheke. Er würde dich aufnehmen, dort kannst du Medizin zusammenrühren.“
So hatte sich die Stiefmutter den Aufsässigen vom Hals geschafft, und sie hatte einen Esser weniger.
Wolfgang schrieb einige Male Briefe aus dem Westen, zu Weihnachten kam ein Päckchen mit Süßigkeiten. Dann riss die Verbindung ab. Ulrich hörte nichts mehr von seinem Bruder.
Während nun die Tochter der Stiefmutter den Tag nach den eigenen Vorstellungen gestaltete, wurde Ulrich von der Stiefmutter immer angestellt: auf den Knien Unkraut jäten, die großen Fenster im Hotel putzen, Ziegen hüten, Ziegenstall ausmisten, Tiere füttern, mit dem Fahrrad Ziegenmilch an Kunden in der Kleinstadt bringen. Der Erlös dieser Ziegenmilchlieferungen wurde gesammelt, dafür erhielt Ulrich den Konfirmationsanzug.
Um die Zahl der Aufträge zu verringern, die von der Stiefmutter erteilt wurden, saß Ulrich lange an den schulischen Hausaufgaben. Die Wichtigkeit der Aufgaben unterstreichend, deklamierte er in der Küche, wo er seine Aufgaben erledigte, die Regeln, Zusammenfassungen, mathematischen Operationen, die chemischen und physikalischen Lehrsätze, die russischen Vokabeln laut vor sich hin. Er kommentierte vieles laut, was er gerade las, lernte oder erarbeitete. So lerne man nachhaltig, erläuterte er seiner Stiefmutter, die ihn misstrauisch beäugte, weil ihre Aufträge nur dürftig erledigt wurden. Der Erfolg blieb nicht aus.
Ulrich hatte gute bis sehr gute Ergebnisse in der Schule. Er wollte seinen Wunsch, Chemiker oder Pharmazeut zu werden, verwirklichen. Er las über die Kunststückchen der Alchemisten, machte sich Geheimtinte, mit der man schreiben konnte, ohne die Buchstaben zu sehen. Er verehrte ein Mädchen, das er oft von weitem, von der Straße aus beobachtete, wenn sie im Garten hantierte oder mit dem Hund spielte. Zwar winkte er ihr oft zu, sprach sie aber nicht an, weil er sich scheute. Aber er schrieb ihr kleine Briefchen. Wie die Römerinnen im Altertum schrieb er zuerst mit Milch, er probierte auch Essig, Citronen- und Zwiebelsaft. Wenn er in den Schulpausen ihr die Zettelchen zusteckte, war auf dem Papier nichts zu sehen. So war die Diskretion gewahrt, falls ihn andere beobachteten und vielleicht den Inhalt erfahren wollten. Erst beim Erhitzen wurde die Schrift lesbar. Später verwendete er Chemikalien, die erst nach dem Besprühen mit einer anderen Substanz farbig wurden.
Seine angebetete Brunhilde verfiel den Sprüchen eines älteren Draufgängers und flüchtete mit ihm in den Westen. Als er sie zu einem Klassentreffen nach 30 Jahren wieder anblickte, schien es ihm, als schaue sie ihn noch so verliebt wie damals an. Während eines Tanzes mit ihr, verspürte er permanent ein leichtes Zittern ihres Körpers. Es war das erste Mal, dass er sie in den Armen hielt.
Ulrich war von manchen penetranten, aufdringlichen Gerüchen bestimmter Substanzen fasziniert. Heimlich verbreitete er diese im Hause, im Hotel, im Restaurant und wurde euphorisch.
Aber als Ulrich die achte Klasse beendete, verkündete die Stiefmutter gegenüber dem Vater:
„Der Jung´ muss raus, er kann nun sein eigenes Leben gestalten.“
Bei einem Besuch der Oberschule, des Gymnasiums zwecks Erwerb des Abiturs hätte Ulrich weiter zu Hause wohnen müssen. Oberschule kam also nicht in Frage.
Die Tochter der Stiefmutter, Ulrichs Stiefschwester, durfte die Oberschule besuchen, brach diese aber nach zwei Jahren ab, sie durfte Klavierspielen lernen, brach es aber nach einem Jahr ab.
Ulrich spielte Blockflöte, mehr wurde nicht bewilligt. Zum Spielen musste er in den Keller gehen, die hohen Töne gingen angeblich der Stiefmutter auf die Nerven.
Später – als junger Bursche - summte Ulrich oft vor sich hin:
„Man müsste Klavierspielen können, wer Klavier spielt...“. Sonntags wurde Ulrich in die Kirche geschickt, er solle demütig vor seinen Gott treten, sagte die Stiefmutter, für jeden gäbe es Unerreichbares, man müsse Unterwerfung zeigen. Demut sei der Schlüssel im Leben. Hier bildete sich der Keim für seine Ablehnung, Religionsrituale zu praktizieren.
Aber die Konfirmation fand planmäßig am Palmsonntag statt. Hierfür musste der Kircheneingang geschmückt werden. Die Jungen zogen los, um im Wald zwei Birken und Grünzeug für die Girlanden, die die Mädchen banden, zu holen.
Ausgelassen machten sich die Kerlchen auf den Weg. Dieter sagte am Waldesrand, wo eine lange Reihe von Birken stand:
„Wir haben zwar gelernt, die Birke soll das Symbol der Jugend und des Frühlings sein. Aber viel wichtiger ist doch für uns Männer, dass Birkensaft den Haarwuchs ankurbelt. In Biologie haben wir doch die sekundären Geschlechtsmerkmale kennengelernt. Mein großer Bruder sagte, ein buschiger Haarwuchs am Körper erhöhe die Attraktivität. Also Leute helfen wir etwas nach.“
Er holte aus seiner Tasche einen kleinen Holzbohrer, bohrte einige Birken an, steckte einen Trinkhalm hinein. Es dauerte nicht lange und aus dem Halm floss ein winziges Rinnsal Birkensaft. Er forderte alle auf, die Brust freizumachen und die Hosen runter zu lassen und den heiligen Saft an den markanten Stellen gut einzureiben. Die Birke sei ja ein heiliger Baum und ein Helfer in Liebesnöten.
Lothar, ein Biologieass, suchte am Ende der Prozedur kleine Äste, die er in die Bohrlöcher steckte, damit die Bäume keinen Schaden nehmen sollten.
Als Ulrich die Grundschule beendet hatte, schickte ihn die Stiefmutter in die Lehre in den Thüringer Wald. Seinem Vater, dem Gastwirt mit einfachen Denkstrukturen, war es egal, er hielt zu seiner neuen Frau, der Jung war unnützes Beiwerk. Zwischen dem Vater und Ulrich war keine Beziehung entstanden. Beide waren sich fremd.
Wenn sich der Vater mal zurückzog, ausruhte, seinen Gedanken nachging und abseits im Wohnzimmer oder bei warmer Witterung hinterm Haus auf einer Bank saß, hielt er oft ein Album in der Hand. Beim Betrachten der Bilder entspannte sich sein Gesicht, ein kleines kaum sichtbares Lächeln breitete sich aus. Er schien Genugtuung, innere Freude zu verspüren. Ulrich wurde neugierig, was der Vater da wohl betrachte. Durch seine Distanz zum Vater konnte er sich nicht überwinden, sich neben ihn auf die Bank zu setzen und mit in das Fotoalbum zu schauen. Er umkreiste den Vater, beschäftigte sich abseits und behielt ihn im Blick. Als der Vater das Betrachten der Bilder unterbrach, aufstand, ins Haus ging, schnappte sich Ulrich das Sammelbuch, blätterte und staunte. Auf den Bildern sah er den Vater in Uniform mit geschwellter Brust, dann wieder in anderer Kleidung durch die Straße rennend, mit einem Knüppel in der Hand. Auf einem weiteren standen mehrere Männer nebeneinander, die sich an den Schultern fassten, die Münder aufrissen und anscheinend grölten. Auf anderen Fotos stand er mit einem Brot in der Hand neben einem fahrbaren Backofen. Ulrich wusste zwar die Bilder nicht zu deuten, dass sie aber aus vergangenen Zeiten stammen mussten, ahnte er.
Ulrich erlernte im tiefen Thüringer Wald einen Beruf. Schon im zweiten Lehrjahr begann der Arbeitstag früh vier Uhr, obwohl es gesetzlich nicht zulässig war. Später kamen auch Nachtschichten dazu.
Zum Wochenende fuhr er zu den Eltern, die an den Ausläufern des Thüringer Waldes wohnten. Er fuhr dabei mit einem kleinen leichten Motorrad die steilen Straßen hinauf über den Rennsteig und dann wieder steil hinab. Im Winter konnte er selten gut Spur auf der vereisten oder tief verschneiten Fahrbahn mit tiefen Spurrillen halten, viele Male stürzte er mit dem kleinen Motorrad und glitt dann lang auf der Fahrbahn hin.
Im Hotel auf dem Dachboden, wo es ein mit Brettern abgetrenntes Kabuff gab, das nur Licht über ein schräges Dachfenster erhielt, hatte sich Ulrich fernab von allem Geschehen im Haus einen Schlafplatz und so einen Zufluchtsort eingerichtet. Die Bretter überzog er mit Tapete. Trotzdem pfiff der Wind durch die Ritzen und rief heulende Geräusche hervor. Nachts kamen auf dem Dachboden noch das Kratzen, Laufen, Tapsen, Knappern und Geraschel Unterschlupft suchender Tieren, wahrscheinlich von Siebenschläfern oder Waschbären, hinzu. Die Ausscheidungen der Tiere verbreiteten einen bestialischen Gestank. Im September war anscheinend die Besuchszeit vorbei. Geräusche wurden nicht mehr wahrgenommen, der Winterschlaf begann. Doch welch ein Graus, im Frühjahr setzte sich das nächtliche Getümmel fort und wie es schien mit verstärkter Intensität. Wenn jetzt noch die Hochzeit der Tiere hinzukam und sich Dreck und Lärm verstärkten, musste der Ausbreitung der Tiere Halt geboten werden. Es blieb nur übrig, Lebendfallen aufzustellen und mit Apfelstücken die Unruhestifte anzulocken. Nach dem nächtlichen Klack der Falltür wurde am Folgetag die Falle im Karton auf dem Fahrrad durch ausgedehnte Wälder transportiert, wo die Falle am Rand von Streuobstwiesen dann geöffnet wurde.
Im Winter wurde auf dem Dachboden oft der Schnee durch das geöffnete Dachfenster geweht, früh war die Feuchtigkeit des Atems an der Bettdecke gefroren. Im Sommer suchten Spinnen einen kühlen Platz neben der Dachluke. Mit Eintritt der Dunkelheit liefen kleine Lichtspiele an der dem Dachfenster gegenüber liegenden Wand ab, allmählich breitete sich ein dunkler Schleier aus.
Wenn Ulrich im Bett lag, konnte er nachts direkt in den Himmel sehen. Frühkindliche Erinnerungen an Peterchens Mondfahrt kamen ihm manchmal in den Sinn, er dachte an die Sternenwiese, wo Kinder ihre Sternchen umarmten, an die Milchstraße und den Großen Bären.
Später regte die Beobachtung der Sternsysteme seine Gedanken an, über Raum und Zeit, über außerirdische Bereiche, über den Kosmos, über Struktur und Expansion, über die Unendlichkeit nachzudenken.
Neben dem Bett stand noch eine Kommode, in der er für sich Pralinen deponierte. Er bemerkte, dass die Stiefmutter seine Kammer hin und wieder inspizierte und sicherlich auf Damenbesuche tippte, denn die kleinen Härchen, die er über den Spalt der Schubkästen klebte, waren verschoben oder verschwunden.
In der Gastwirtschaft bediente er jeden Tag über das Wochenende. Sonntagnachmittags kamen im Sommer die vielen Schaulustigen vom Fußballspiel, die meist Bier aus Stiefeln tranken. Das Trinkritual musste beherrscht werden, durch geschicktes Drehen beim Trinken war ein Gluckern an der Stiefelspitze zu vermeiden, beobachtete man dies, musste der Verursacher die neue Runde bestellen.
Zu Feiertagen, zur Kirmes und an anderen besonderen Tagen wurde im großen Saal der Wirtschaft Tanz veranstaltet, der starken Zuspruch fand. Bei solchen Veranstaltungen wurde auf dem Dorf viel getrunken, der Bedarf noch harten Getränken und Likören war hoch, der Umsatz stieg entsprechend. Schon Wochen vorher sagte die Stiefmutter zu Ulrich, es würden viele Getränke gebraucht, er wolle doch Giftmischer werden, er solle Eier-, Schokoladen-, Pfefferminz-, Kümmel-, Enzian- Kräuterliköre und Wodka herstellen.
Die Chemie der Koch- und Backkunst und die Kräuterkunde hatten Thalheim stets interessiert, so dass er auf der Basis von Füllcremes – also Puddings – denen die entsprechenden Zusätze wie Ei oder Kakao und am Ende Alkohol beigemischt wurden, literweise die gewünschten Getränke zubereitete. Der 96er Lebensmittel-Primasprit wurde zweimal mit Aktivkohle behandelt und verdünnt und ergab den nichtkratzenden, milden Wodka. Aus Kräutern der Apotheke fertigte er durch Extraktion den Thüringer Bitter.
Die Stiefmutter hatte die Originalflaschen der entsprechenden Getränke aus der Wirtschaft und von allen Verwandten pedantisch gesammelt und mit den neuen Zubereitungen wieder gefüllt.
Ulrich erhielt ein kleines Trinkgeld, die Stiefmutter machte riesengroßen Gewinn, der einem Vielfachen des Materialeinsatzes entsprach.
Sparsam zu sein, gut zu rechnen, optimal die Prozesse im Hotel zu organisieren, stets die Rendite im Blick zu haben, das war ihr tägliches Metier. Aber auch in der privaten Sphäre waren viele Handlungen hart an der Grenze zum Geiz. So wurde der Rückstand des aufgebrühten Tees mehrere Tage verwendet, zusammen mit der Zitronenschale wurde er mit Wasser erneut aufgekocht. Nach mehrmaliger Verwendung vergrößerte sich das Volumen der Zitronenschale beträchtlich. Aufgedunsen schwamm sie im Sud und rief sonderbare Assoziationen hervor.
Stets wurden Reste zu neuen Gerichten aufgearbeitet. Brotreste vom Vortag ergaben mit Zwiebel, Anis, Fenchel, Kümmel die bayerische Brotsuppe, die von den Gästen als sehr delikat eingestuft wurden. Zwar fehlten vielleicht noch Piment, Koriander – aber solche Gewürze waren in Ostdeutschland nur gegen Devisen einzuführen und demnach selten, manchmal wurden sie zur Weihnachtszeit kurzzeitig erspäht.
Vor Weihnachten suchte die Stiefmutter verschiedene Pakete zusammen, die sie von Verwandten aus dem Westen auf Anforderung im Laufe des Jahres erhalten hatte. Aus ihnen entnahm sie viele Sachen, die es im Osten nicht gab. Sie beauftragte Ulrich alle Dinge und Köstlichkeiten mit Geschenkpapier einzupacken und mit Namen zu versehen, wofür sie eine Liste übergab. Am Ende sagte sie:
„Das sind die Geschenke für meine Verwandten. Ein Geschenk für dich muss dein Vater besorgen.“
Sekunden später war noch leise zu hören:
„Aber an so etwas wird dein Vater wohl nicht denken.“
Die eigene Tochter Ulrichs fragte ihn später einmal:
„Weshalb bist du eigentlich immer wieder zu deinen Eltern gefahren, wenn du wie ein Frondienstler und wie ein Fremder behandelt wurdest und keine Zuneigung, keine Geborgenheit erfahren hattest, kein liebes Wort gehört hattest?“
„Ach Katja, vielleicht hat da so eine eingeimpfte, verinnerlichte christliche Autoritätshörigkeit – vielleicht hat das Elterngebot der christlichen Ethik – Du sollst Vater und Mutter ehren – gewirkt“, beantwortete damals Ulrich die Frage seiner Tochter.