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6. - 80er Jahre – Im Labor

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Ich dachte nicht, sondern ich untersuchte“

Wilhelm Conrad Röntgen

Nach der Belegschaftsversammlung verzog sich Thalheim in sein Labor, er wollte jetzt keine zwischenmenschlichen Kommunikationen. Er zog das Experimentieren, das Hantieren mit der toten Materie vor. Das Labor unterschied sich in der Grundausstattung kaum von anderen chemischen oder biochemischen Laboratorien. Große Laborschränke mit verschiedenen Glasgeräten, wie Bechergläsern, Messzylindern, Petrischalen, Glastrichtern, Flaschen mit Chemikalien standen an der Wandfront. Wasserbad, Zentrifuge, Fotometer waren auf Wandtischen platziert. Auf einem gesonderten erschütterungsfreien Wägetisch hatten eine Halbmikrowaage und eine Laborwaage ihren Platz. Kleine Roboter dienten zur Dosierung der winzigen Mengen an Reaktionsbestandteilen. Ein Reaktor zur Festphasensynthese von Proteowirkstoffen an polymeren Trägern stand etwas abseits.

Unter einem Abzug standen mehrere Stative, an denen über Klemmen und Muffen kleine Zweihals-Schliffkolben und jeweils Rührmotoren befestigt waren. An der gesamten Fensterfront standen Arbeitstische, die Sitznischen aufwiesen, an denen Schreibarbeiten und Auswertetätigkeiten im Sitzen erledigt werden konnten, dazwischen befanden sich Unterschränke.

Thalheim arbeitete gern experimentell. Die Umwandlung von chemischen Verbindungen – eben das Kochen der Ansätze – bedeutete ihm Erfüllung. Das war wahrscheinlich auch der Grund, dass er zu Hause übers Wochenende das Kochen der Mahlzeiten übernahm. Er benutzte in seiner Wohnung auch Erlenmeyerkolben und Bechergläser als Vasen und Karaffen oder auch mal als Trinkgefäß. Nicht eingeweihte Gäste wussten sehr schnell, dass sie bei einem chemisch Arbeitenden zu Besuch waren, wenn er mit typischer Berufsgestik nach dem Umrühren seines Tees mit der Spitze des Teelöffels die Innenseite des Teeglases berührte, wie er es eben von der quantitativen Analyse her kannte. Das Verfolgen der Reaktionen im Labor bereitete ihm in der Regel Befriedigung, gern veränderte er die Stoffe und stellte neue Verbindungen her. Für ihn waren die chemisch–biochemischen Versuche intellektuelles Handwerk, wofür er den Kopf wie die Hände einsetzen musste, alles im dosierten Verhältnis. Die Missachtung dieser ausgewogenen Beziehung wäre ihm einmal bald zum Verhängnis geworden. Während des Studiums unterrichtete er vertretungsweise in einer Schule Chemie. Zur Faschingszeit wollte er eine besondere Einlage geben und die Sinnesfreuden der Chemie spüren lassen. In eine schüsselförmige Reibschale, den Mörser, gab er eine Spatelspitze Chlorat und ebenso eine kleine Menge elementaren Schwefels. Er umwickelte die Hand mit einem Handtuch, mischte und rieb kräftig mit dem Pistill, dem keulenförmigen Stößel. Es sollte knistern und leicht knattern. Es tat sich nichts. Also fügte er noch mehr Schwefel hinzu und rieb. Mit einem riesigen Knall trat plötzlich die Reaktion ein, der Porzellanstößel war zerbrochen, das Handtuch hatte ein gewaltiges Loch – er als Experimentator war unverletzt, aber die Schüler der ersten Reihe bekamen Nasenbluten und in der Tür erschien kurz danach stürmisch die gesamte Lehrerschaft.

Die jetzigen Versuche waren komplexer Natur, er musste genau wissen, wo die Reaktionspartner angreifen sollten, unerwünschte Reaktionen waren zu unterbinden. Bei der Planung und Durchführung der Experimente, mit der konzipierten Versuchsstrategie im Kopf, dachte er nicht an andere Dinge, persönliche Probleme oder Fragestellungen waren verdrängt.

Thalheim synthetisierte bioaktive Eiweißkörper. Nacheinander wurden die verschiedenen Aminosäurebausteine in einem aufwendigen Verfahren aneinander gefügt. Wie bei der Paarung zweier Partner im Alltag suchte sich die aktivierte, reaktionsfreudige Carboxylgruppe eines Bausteins die reaktionsbereite Aminogruppe eines anderen Partners. Sie kamen sich näher. Sie umarmten sich sinngemäß. Die Elektronen des Stickstoffs an der Aminogruppe des einen Partners wurden von der partiell positiven Stelle am Kohlenstoff der Carboxylgruppe des anderen angezogen, sie kamen sich ganz nah. Sie vereinigten sich zu einer dauerhaft festen Bindung, der Peptidbindung. Die Kette wuchs. Nach Abspaltung der Schutzgruppe und der Freisetzung der endständigen Aminogruppe suchte sich diese wiederum einen vom Experimentator vorherbestimmten bindungsfähigen Partner in der Lösung, hielt ihn fest und vereinigte sich mit ihm. So bildeten sich hochspezifische langkettige, vielleicht spiralförmig verdrehte, teilweise gefaltete Strukturen heraus.

Thalheim strebte hochmolekulare Eiweißkörper an, die wichtige Lebensfunktionen ausführen können. Während er am Reaktor manipulierte, philosophierte er gedanklich. Wenn die Eiweißkörper Grundlage des Lebens seien, wenn Leben die Daseinsweise nativer Eiweißkörper sei, wie entstand dann das Leben, fragte er sich. Es gab verschiedene Erklärungsversuche, wie vor Milliarden Jahren Kohlenwasserstoffe, und daraus auch Aminosäuren entstanden, die komplizierte organische Verbindungen, so auch Proteine und Nukleinsäuren bildeten. Dies geschah besonders im Umfeld vulkanischer Ausdünstungen. Aber wie wirkten diese Stoffe zusammen und wie vermehrten sie sich? Wie entstand lebende Materie mit Stoffwechsel?

Ein Anruf holte ihn zurück in die Jetztzeit mit den gerade erlittenen Demütigungen und öffentlichen Anklagen.


Als grüne Tomaten in den Weihnachtsstollen kamen

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