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ОглавлениеAugsburg, 18. Mai 1578
Raymund hatte sich an diesem Sonntagabend mit seinem Onkel getroffen, um gemeinsam mit ihm in das großzügige Patrizierhaus der Witwe Eiselin unterhalb des Weinmarktes zu gehen. Es war ihm, als würde er nach Hause kommen. Wie er es unzählige Male in Leeder erlebt hatte, traf er auf eine begeisterte und froh gelaunte Versammlung von Schwenckfeldern aller Altersgruppen, Geschlechter und Stände.
»Schau an, ein junger Rehlinger aus Pilgerhausen! Sei herzlich willkommen, Raymund«, sagte die Witwe und umarmte ihn. Auch die anderen nahmen ihn freundlich auf.
Nach der Bibellesung, die von dem Herrn handelte, der seinen Knechten Talente anvertraute, die zwei der Knechte vermehrten, der dritte aber vergrub, stand ein stattlicher Mann in mittlerem Alter auf. Er hatte einen schwarzen Bart und ebenso schwarzes schulterlanges Haar.
»Wer ist das?«, flüsterte Raymund seinem Onkel zu.
»Der Goldschmied Altenstetter, hast du noch nie von ihm gehört?«
Raymund schüttelte den Kopf. Er war fasziniert von diesem Mann, der eine Auslegung und Erklärung der Bibelstelle vortrug. Sein in Schwarz und Grün gehaltener Umhang aus feinstem Samt verstärkte seine imposante Erscheinung und wies ihn als Meister und Gildenmitglied aus. Er verstand es, mit der Kraft seiner Worte und einer großen Gestik die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen. »… denn jeder, dem unser Gott, der Schöpfer des Lebens und aller Dinge, eine Fähigkeit gegeben hat, verwende diese, damit sie sich entwickle und der Gemeinschaft oder einem höheren Zweck diene, denn dafür hat er sie uns gegeben. Wer seine Bestimmung noch nicht gefunden hat, suche nach ihr, wer seine Talente nicht kennt, frage nach ihnen und wühle im Sand des Alltäglichen, um Gott dem Herrn gefällig zu sein und seinem Dasein einen Sinn zu geben. Oft werden unsere Gaben unterdrückt durch Herkunft, Stand oder andere Hindernisse. Diese gilt es zu überwinden. Betet zum Herrn, dass er euch den Weg leite, um zu erkennen und zu Gottes Werkzeug zu werden, Amen.« David Altenstetter verneigte sich vor der aufmerksamen Zuhörerschaft, die ihm beipflichtend zunickte, und nahm wieder auf seinem Stuhl neben der Witwe in der ersten Reihe Platz.
Die Predigt hatte Raymund sehr nachdenklich gemacht. Er wusste, dass er ein Talent für den Beruf des Büchsenmachers hatte, und ja, er würde eine besondere Waffe erfinden. Aber waren seine Gründe dafür gottgefällig oder eitel und nichtig? Er musste sich eingestehen, dass er mit seinem Talent glänzen wollte. Es nagte an ihm, denn er wusste, er wollte eine Waffe erschaffen, um nie wieder hilflos dazustehen, nie wieder ohnmächtig zu sein. Er fragte sich, ob er beim Benzenauer auf dem richtigen Platz war oder ob Gott vielleicht etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.
»Dieser Mensch hat etwas Begeisterndes und gleichzeitig Geheimnisvolles; Ihr müsst mir diesen Mann unbedingt vorstellen, Oheim«, raunte Raymund.
Nach dem Gottesdienst servierten die Mägde der Witwe Gebäck und Getränke, und ganz beiläufig machte ihn sein Onkel mit dem Goldschmied bekannt.
»Wie gefällt es dir denn in Augsburg, mein junger Bruder?«, wandte sich Altenstetter an Raymund. »Es ist bestimmt nicht einfach, sich an die Stadt zu gewöhnen, wenn man in den Wäldern aufgewachsen ist. Ich kann mir das nur schwer vorstellen, denn ich habe ausschließlich in Städten gelebt und gearbeitet.« David Altenstetter war noch größer, als es während seiner Ansprache den Anschein gehabt hatte.
»Leeder ist nicht so hinterwäldlerisch, wie Ihr vielleicht vermuten mögt. Wir sind ein Gut, an dem mehrmals im Jahr von weit her Händler, Kaufleute und viel Volk zusammenströmen, und wir haben eine richtige kleine Lateinschul…«
»Mein Neffe hat es nicht leicht beim Benzenauer«, fiel Hieronymus ihm ins Wort. »Neid, Eifersucht und auch seine roten Haare sind immer wieder Anlass zu Streitereien und Spott.«
»So schlimm ist es nicht. Mein Oheim meint es nur gut mit mir«, Raymund war es peinlich, dass der Onkel seine Haare erwähnte. »Ich werde in zwei Jahren meine Gesellenprüfung machen und sehen, ob ich dann weiter beim Benzenauer arbeite. Aber es stimmt schon. Der Obergsell macht mir Schwierigkeiten, wo es nur geht. Es ist unmöglich, eigene Ideen und Vorschläge zu unterbreiten. Dabei habe ich etwas entdeckt, was die Zielgenauigkeit eines Gewehrs entscheidend verbessern könnte.«
»Wie meinst du das?«, fragte der Goldschmied. Anscheinend hatte Raymund seine Aufmerksamkeit geweckt.
»Indem ich den Lauf nicht in einer geraden Naht verschweiße, sondern den gegärbten Stahl um einen Dorn drehe, wird ein Gewehr viel kürzer und handlicher. Somit wird der Lauf viel stabiler und die Kugel behält mit einer größeren Pulverladung wesentlich länger ihre Richtung.«
Der Goldschmied runzelte die Stirn. »Das klingt sehr interessant. Neben meiner Goldschmiedetätigkeit fertige ich hin und wieder Schusswaffen, die aber meist von reichen Auftraggebern zur Zierde und als Symbol ihrer Macht getragen werden. Getötet wurde damit wohl kaum jemand, dafür sind sie viel zu ungenau.« David Altenstetter lächelte und zwinkerte ihm vielsagend zu, nahm ihn etwas zur Seite und senkte die Stimme. »Warum kommst du nicht einmal in meine Werkstatt? Ich zeige dir, welche Art von Waffen bei mir hergestellt wird, und vielleicht kann ich dir ja bei deiner Idee von einem zielgenaueren Lauf behilflich sein?« Der Meister packte Raymund väterlich mit beiden Händen an den Schultern. »Ich wohne nicht gerade in der vornehmsten Gegend der Stadt, das hat Gründe, die ich dir heute noch nicht darlegen kann. Überleg’s dir, junger Bruder, es soll zu deinem Schaden nicht sein!«
Es machte Raymund sehr glücklich, das zu hören, und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, in der Werkstatt dieses würdevollen und geheimnisvollen Mannes zu arbeiten. Was für ein Unterschied zu Meister Benzenauer, der sich in seinen Entscheidungen vom Obergsell bevormunden lässt.