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Emmenhausen, Neujahr 1579

»Ist’s möglich, Otto, du lässt dich doch noch bei uns sehen!« Hans III. Honold umarmte Otto und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. Nur zu gern ließ sich Otto von ihm aus der starren Kälte in das geheizte Schloss ziehen.

»Seit deinem letzten Besuch sind einige Jahre ins Land gegangen. Siehst du, du hattest doch ein schlechtes Gewissen wegen deines Berichts an das Hochstift! Fast hätte der Herzog meinen Prediger abgesetzt. Sie wollen sich einfach nicht mit dem Nebeneinander von Katholiken und Protestanten abfinden. Die sollten sich an unserer Familie ein Beispiel nehmen. Seit einigen Tagen sind wir wieder alle zusammen. Oktavian ist aus Prag gekommen; der wird sich freuen!« Hans Honold blickte nach oben. »Dein Freund Otto ist da, Herr Medicus, jetzt beweg dich schleunigst herunter«, schrie er so laut durch das hallende Treppenhaus, dass einige der Bediensteten verstört zusammenliefen.

Der alte Honold muss mächtig stolz auf seinen Sohn sein, dachte Otto, da stürmte Oktavian schon die Treppe herunter. Sie begrüßten sich wie damals am Collegio üblich mit dreifachem Handschlag. Die Jahre hatten Oktavian nicht viel anhaben können, sein Haar war immer noch voll und dunkel wie eh und je, seine Haut nach wie vor ungewöhnlich braun, fiel Otto auf.

»Dass sie dich aus den engen Kirchenmauern herauslassen, wem hast du das denn zu verdanken?« Oktavian hatte anscheinend seine Sprüche nicht verlernt.

»Als Dekan kann ich mir die eine oder andere Freiheit gestatten. Heute Abend zur Komplet muss ich aber wieder meinen Platz im Chorgestühl einnehmen.«

»Du kündigst deinen Abschied an, bevor du richtig angekommen bist. Otto wie in alten Tagen, immer kurz angebunden. Schon beim Kyrie an das ite, missa est9 denken! Aber jetzt komm erst mal nach oben in die warme Stube.«

Gemeinsam gingen sie ins Kaminzimmer, wo ihm Oktavian seine Mutter, Jakobina Welser, vorstellte.

»Endlich darf ich Euch kennenlernen. Oktavian hat schon damals in Bologna so viel von Euch erzählt.«

»Ich hoffe, nur Gutes«, antwortete sie und lächelte. Sie wirkte auf ihn bescheiden, zurückhaltend und war einfach gekleidet, obwohl sie wohlhabend war und ein riesiges Handelsunternehmen mit in die Ehe gebracht hatte.

»Oktavian wird ab Sommer in Augsburg praktizieren, weißt du das schon, Otto?«, posaunte Hans Honold die Neuigkeit heraus, und Otto merkte an dem bösen Blick Oktavians, dass er ihm das hatte selbst erzählen wollen.

»Das ist ja wunderbar. Dann wirst du ja immer in meiner Nähe sein und ich brauche mich um meine Gesundheit nicht mehr zu sorgen«, scherzte Otto erfreut.

»Der Rat der Stadt hat mich als Wundarzt und Verantwortlichen für die Gefängnisse und Kranken- und Leprosenhäuser berufen. Das heißt erst einmal viel Arbeit für wenig Geld!«

»Geld ist doch nicht so wichtig, wenn du wieder hier bei deiner geliebten Familie sein kannst?«, bemerkte Hans Honold und klopfte seinem Sohn auf die Schulter.

»Mit einem Mal so bescheiden, Hans? Wenn dir das Geld nicht wichtiger als der Glaube gewesen wäre, hättest du mich wohl nicht geheiratet«, fuhr ihm seine Frau dazwischen und lachte herzlich. Otto wusste schon aus den Erzählungen Oktavians noch zu Studienzeiten, dass es bei seinen Eltern immer wieder religiöse Meinungsverschiedenheiten gab.

»Du siehst, Otto, Katholiken und Protestanten streiten sich wieder einmal um den schnöden Mammon!«, entschuldigte sich Hans Honold und schenkte seiner Frau ein warmes Lächeln.

»Komm, lassen wir die beiden alleine; sie haben sich sicherlich viel zu erzählen! Ich schicke euch warmen Apfelwein herauf.« Mit diesen Worten zog Jakobina ihren Mann aus der Stube.

Oktavian atmete hörbar aus. »Ich konnte dir in meinen Briefen nie die Wahrheit schreiben, Otto. Die Gefahr, dass mitgelesen wird, war einfach zu groß. Was weißt du von Rico?«

»Darum bin ich hier, Oktavian, ich weiß eben überhaupt nichts. Im ›Roten Ochsen‹ habe ich ihn darüber aufgeklärt, dass Erminio seine geliebte Mona ermordet hat, und ihm das Flugblatt von Don Alfonso in die Hand gedrückt. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich weiß nur, dass du ihm nach dem Brandanschlag auf Erminio im Kloster zur Flucht verholfen hast und dass er in türkische Gefangenschaft geraten ist.«

»Richtig, Rico ist zu mir nach Venedig geflüchtet. Er hat mir alles erzählt. Sie waren ihm auf den Fersen. Er musste Venedig so schnell wie möglich verlassen und sich dem Zugriff des Kirchenstaates entziehen. Ich habe ihn auf einem Schiff untergebracht, das die dalmatinische Küste entlanggesegelt ist, um schließlich auf Umwegen an die Grenze des Reiches zu kommen. Dort sollte er in Neusohl die Bewachung unserer Kupfermine organisieren. Er hat sich mehrmals über die schlechte Ausrüstung beschwert und Feuerwaffen gefordert, die wir ihm nicht gewährt haben – ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein zeigte.«

»Wann hast du denn zuletzt etwas von ihm gehört?«

»Die Türken wurden zunehmend frecher und fielen immer häufiger ein. Dann kam die Nachricht aus Neusohl, dass das Bergwerk in türkische Hände gefallen sei. Es war zwei Tage vor Bartholomä im Jahr ’63, als ich davon erfuhr, ich weiß es noch wie heute. Es gab anscheinend Tote und eine Vielzahl von Gefangenen, die verschleppt wurden. Rico war nicht unter den Toten. Das war das Letzte, was ich über ihn erfahren habe. Wie es der Teufel wollte, klopfte nur Stunden später die Inquisition an meine Tür. Ohne lange zu überlegen, habe ich am selben Tag Venedig verlassen und bin nie mehr dahin zurückgekehrt. Mein Vater hat getobt, weil er die Geschäfte wieder an die Familie meiner Mutter übertragen musste. Ich bin nach Prag gezogen und habe dort mein Medizinstudium beendet.«

Eine Bedienstete klopfte und brachte heißen Apfelwein.

»Was ist wohl mit ihm passiert?«, fragte Otto, von dieser Geschichte sichtlich beeindruckt. Er nahm einen Becher und nippte nervös daran.

»Ich habe alles versucht, um ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen. Meine Briefe von Prag aus an den jeweiligen Orator von Konstantinopel wurden nie beantwortet. Eine Petition an das Kaiserhaus brachte mich auch nicht weiter. Von Gesandten des Kaisers sind Geschichten über die Türken im Umlauf. Es wird erzählt, dass sie nur Gefangene machen, wenn es sich für sie lohnt und sie Verwendung für sie haben. In Konstantinopel werden Arbeitssklaven dringend benötigt, überall werden ganze Viertel abgerissen und großzügiger und höher gebaut. Am schlimmsten sind wohl die armen Schweine zu bemitleiden, die sich auf den Steingaleeren zu Tode schuften. Bei sengender Hitze über das Marmarameer zu rudern, kann kaum jemand länger als einen Monat überstehen. Wer das vorgegebene Tempo nicht mehr halten kann, wird losgekettet und ins Meer geworfen.«

»Um Himmels willen, was für ein schrecklicher Tod.« Otto spürte, wie das Blut aus seinen Wangen wich.

»Wer wider Erwarten sechs Monate die Torturen einer Gefangenschaft überlebt, hat drei Möglichkeiten: Wenn er einen Patron hat oder irgendwie zu Geld gekommen ist, kann er sich freikaufen und zurück in die Heimat, das gelingt nur den Wenigsten. Den Turban nehmen, sich beschneiden lassen und Allah fünfmal täglich auf den Knien nach Mekka gerichtet anbeten, ist die Alternative. Flucht ist so gut wie unmöglich, denn jeder erkennt sofort die rasierten Köpfe. Also bleibt nur noch übrig, so lange zu arbeiten, bis man tot umfällt.«

»Was glaubst du, wofür sich Rico entschieden hat?«

»Woher sollte er das Geld haben, sich freizukaufen? Sie haben ihm sicher alles abgenommen. Den Turban nehmen? Ich glaube nicht, dass Rico so etwas macht. Hast du ihn jemals auf Knien gesehen? Ein Stier wie er arbeitet vielleicht immer noch irgendwo. Wer weiß?«

»Rico in Ketten? Das ist schwer vorstellbar. Er ist geschickt genug, einen Weg für sich zu finden. Wenn er wüsste, dass Erminio diesen Brand überlebt hat und jetzt mit noch mehr Hass und Verbitterung als Großinquisitor unser Land von Bamberg bis Partenkirchen in Angst und Schrecken versetzt, würde er sicher handeln.«

»Was sagst du da? Erminio treibt im Hochstift sein Unwesen? Du hattest mir doch geschrieben, dass du ihn in Rom wiedergesehen hast. Ich war der Meinung, dass er in diesem Kloster dort seine Wunden leckt und auf das Ende seiner Tage wartet.«

»Ein frommer Wunsch, der alle Probleme lösen würde. Er hat von Papst Pius V. den Kardinalshut bekommen. Auf dem Sterbebett hat der Papst seinem Wunsch entsprochen und ihn als Großinquisitor für die Provinz der Dominikaner im Süden des Reichs über die Alpen geschickt. Seit vier Jahren brennen die Scheiterhaufen und die Köpfe rollen; es ist schlimm. Da er seine Legitimation von ganz oben hat, sind wir alle machtlos. Auch der jetzige Papst, mein verehrter Boncompagni, enttäuscht mich schwer, weil er ihn gewähren lässt. Was denkst du, Oktavian, würde Rico machen, wenn er wüsste, dass der Kardinal noch lebt?«

»Ich weiß nicht, Otto, aber Nichtstun war noch nie Ricos Sache und das hast du mit ihm ja wohl gemeinsam«, Oktavian legte seine Stirn in Falten.

»Ja, ich versuche alles, was mir möglich ist. Bei einem Gespräch, das ich vor einiger Zeit im Namen von Dutzenden aufgebrachten und verzweifelten Amtsleuten und Versehern mit dem Kardinal persönlich in Dillingen geführt habe, hat er mir erklärt, dass mir, als Freund eines Mörders, der Weg in weitere kirchliche Ämter versperrt sei. Glaubst du, wir könnten Rico irgendwie aufspüren?«

Oktavian lächelte gequält. »Rico aufspüren? Die Suche nach einem einzelnen Gefangenen im gesamten Osmanischen Reich, wenn er denn noch leben sollte, ist schwierig, aber wir sollten nichts unversucht lassen. Da fällt mir ein – ich erinnere mich an einen jungen Theologen mit Namen Salomon Schweigger, der mit Joachim von Sinzendorf, dem Botschafter Kaiser Rudolfs II. in Konstantinopel, persönlich bekannt ist. Er hat ihn als Reise- und Gesandtschaftsprediger in sein Gefolge aufgenommen. Die Delegation ist am 10. November von Wien aus aufgebrochen und auf dem Weg nach Konstantinopel. Vielleicht ergibt sich dadurch die Gelegenheit zu erfahren, was mit Rico geschehen ist. Es wird sicher bei den Türken Listen von Gefangenen geben. Der Habsburger Botschafter wird ja schließlich auch mit Gefangenenaustausch, Freikauf oder Konvertiten zu tun haben, was meinst du?«

»Das wäre eine Möglichkeit! Es ist schön von dir, dass du dir meine und die Sorgen des Hochstifts zu eigen machst!«

»Ich bin mitverantwortlich und habe außerdem ein schlechtes Gewissen. Nur weil wir der Truppe, die unsere Mine verteidigen sollte, eine modernere Ausrüstung verweigert haben, konnten die Türken erfolgreich sein.«

»Halte mich auf dem Laufenden, Oktavian! Du weißt, wo du mich finden kannst!« Otto war froh, in seinem Kampf nicht mehr allein zu sein.

9 Geht, es ist Sendung.

Das Ketzerdorf - In Ketten

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