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Kapitel 6

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Washington, D.C. | 04:00 Uhr

Kaum dass Präsident Burroughs über den Fund eines »Dante-Päckchens« an der US-Grenze zu Mexiko informiert worden war, rief er den mexikanischen Präsidenten Cesar Munoz an, um Ansprüche auf die Mitnahme der Bombe geltend zu machen, egal ob sie nun ein paar Meter südlich des Zauns gelegen hatte – und somit nur knapp auf dem Boden des Nachbarlands – oder nicht. Es gab weder Diskussionen noch Streit oder Verhandlungen. Burroughs hielt an seinem Wunsch fest und wäre unter keinen Umständen eingeknickt, denn die Sicherheit der Vereinigten Staaten genoss Vorrang.

Munoz gab innerhalb weniger Augenblicke nach und versicherte im Bestreben, die festen politischen Bande mit den USA nicht zu zerreißen, seine CISEN-Gesandtschaft aus dem Gebiet zurückzuziehen. Dieses Eingeständnis machte er gleichwohl nicht, bis sein Präsidentenkollege empfindlichst darauf hinwies, seine Militäreinheit werde jegliche Gewaltmittel anwenden, die zur Inbesitznahme der Bombe erforderlich seien.

Klare Ansage!

Weniger als zehn Minuten nach dem Telefongespräch mit dem Regierungsoberhaupt Mexikos berief Präsident Burroughs seinen Hauptberaterstab zusammen – darunter Alan Thornton, der leitende Sachbearbeiter in Sicherheitsfragen, CIA-Analytiker Doug Craner, Staatssekretärin Janet Dommers, Vizepräsident John Phippen und Verteidigungsminister Michael Duarte –, um eine Sitzung von höchster Priorität im Oval Office abzuhalten. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, gaben sich alle zumindest den Anschein, ausgeschlafen zum bevorstehenden Tag anzutreten.

Normalerweise war Burroughs ein umgänglicher, schwungvoller Mensch und nie um ein Lächeln oder einen Scherz verlegen. Heute jedoch wirkte er weniger einnehmend mit seinen fest zusammengepressten Lippen und einer Miene, die von tiefer Besorgnis zeugte.

»Danke, dass Sie gekommen sind, zumal so früh am Morgen«, hob er an. »FBI-Leiter Larry Johnson und NSA-Chef Davis Means werden sich später per Telefonkonferenz einklinken. Die Bombe, die an der Grenze von Arizona nach Mexiko gefunden wurde, wird momentan auf Radioaktivität und Wirkungskraft hin untersucht.« Er wandte sich an Alan Thornton, den er stets zuerst heranzog, wenn er vernünftigen Rat brauchte. »Al, Ihre Auswertung des vorläufigen Berichts, bitte.«

Dem Sachbearbeiter, der oft altmodische Kleidung trug, haftete etwas Weltfremdes an. Zudem glaubte er, seine mehr schlecht als recht zur Seite gekämmten Haare würden darüber hinwegtäuschen, dass er eine Glatze bekam, doch wenn er sprach, schlug er einen verbindlichen Ton an. »Unseren Informationen zufolge, Mr. President, scheint es sich um einen funktionsfähigen Sprengsatz zu handeln, der durch einen aus unabhängiger Quelle stammenden Code – beispielsweise einen Fernzünder wie vor Ort gefunden – aktiviert wird.«

»Und er wurde in Russland gebaut?«

»Das ist unsere vorläufige Annahme diesbezüglich, Mr. President. Jawohl, wir gehen davon aus. Die Version aus der Zeit des Kalten Krieges ist veraltet. Wir nennen sie Rucksackmodell, ein zylindrischer Behälter mit den ungefähren Maßen eines Kanisters für fünf Gallonen Flüssigkeit. Die Frage lautet daher: Sind die Russen in der Lage, die alten Bomben auszuschlachten, um neue, kompaktere und erheblich kraftvollere zu entwickeln? Bis auf Weiteres, Mr. President, müssen wir dem Anschein nach davon ausgehen.«

Burroughs richtete sich nun an Craner, der bei der CIA die Fäden zog. »Was geht aus Ihren Unterlagen dazu hervor, Doug?«

Der Direktor war Militärmann der alten Schule und als Marinesoldat von unschätzbarem Wert gewesen. Sein Bürstenhaarschnitt wurde allen Konventionen gerecht, und seine abgehackte Redeweise offenbarte, dass sich Gewohnheiten nur schwerlich ablegen ließen. Auch neunzehn Jahre nach seinem Austritt bei der Armee umwehte Craner weiterhin das Stoische eines Kriegers. »Die Modelle von damals sind uns freilich ein Begriff, Mr. President, aber diese Bombe ist unvergleichlich. Unseren Mittlern zufolge könnte sie von einem Russen namens Yorgi Pertschenko kommen – einem KGB-Chef, der kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs stellvertretender Leiter von Direktorat S wurde, bevor man ihn ohne Umschweife entließ, weil er sich geweigert hat, seine verstockten Ansichten zugunsten neuer Alternativen aufzugeben.« Damit reichte er dem Präsidenten ein kleinformatiges Hochglanzfoto eines alten Mannes mit meliertem Haar und wohl gegen Kälte hochgestelltem Jackenkragen, weshalb man seinen Unterkiefer nicht sah, sein Gesicht aber sehr wohl.

»Ich erinnere mich an ihn«, sagte Burroughs leichthin und legte das Bild nieder. Während seiner Zeit als Senatsabgeordneter hatte er den Ostblock im Auge behalten, als die Berliner Mauer gefallen und der Kommunismus im Niedergang begriffen gewesen war. In jenen Jahren hatte man immer wieder von Pertschenko und seinen lautstarken Äußerungen im russischen Parlament gehört, wonach Widerstand mit brutaler Gewalt im Sinne der Selbsterhaltung zerschlagen werden müsse, statt sich auf allen Ebenen zu unterwerfen. Der Lohn für seine verbalen Breitseiten: ein rascher Wechsel ins Direktorat S, wo er nur kurz gearbeitet hatte, bevor er komplett von der Bildfläche verschwunden war.

Der Präsident hörte den Namen seit langer Zeit zum ersten Mal.

»Wir gehen davon aus«, so Craner, »dass Pertschenko vor seiner Berufung ins Direktorat S Zugang zu Lagerstätten des Militärs erhalten hatte und die überkommenen Modelle in den Wirren des Untergangs der Sowjetunion entwendet hat. Uns liegen konkrete Beweise dafür vor, dass mehrere portable Sprengkörper auf unerklärliche Weise verschwunden sind. Dahinter steckte möglicherweise Pertschenko.«

»Warum ausgerechnet jetzt? Aus welchem Grund sollte sich der Mann zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Regimes an der Staatsmacht Amerika rächen wollen?«

»Das tut er nicht«, behauptete Thornton.

Craner fügte hinzu. »Unserem Dafürhalten nach hat er die Bombe weiterentwickelt, indem er jene aus dem Kalten Krieg ausgeschlachtet hat, und verkauft sie jetzt auf dem Schwarzmarkt an Höchstbieter. Gegenwärtig versuchen wir, diese Mutmaßung zu bestätigen.«

Der Präsident ließ sich gegen die Rückenlehne seines Sessels fallen und bewegte seinen Unterkiefer zur Entspannung, weil er zusehends verkrampfte. »Und die Höchstbieter für Pertschenkos Angebot auf dem Schwarzmarkt waren jene Araber, die wir an der Grenze entdeckt haben.«

»Sieht ganz so aus. Im Augenblick suchen wir nach einer Geldspur.«

Burroughs nickte angewidert. »Wer eine solche Waffe auf dem Schwarzmarkt verkauft, handelt extrem verantwortungslos und besitzt unleugbar weder Vernunft noch Verstand, also ist Pertschenko brandgefährlich. Solche Menschen verdienen es nicht, auf diesem Planeten herumzulaufen.«

Nach kurzer, nervöser Stille brachte er eine Bitte hervor und klang dabei, als wolle er Geruhsamkeit erzwingen. »Erzählen Sie mir mehr über die Bombe, auf die Sie an der Grenze gestoßen sind.«

Verteidigungsminister Michael Duarte hielt ihm ein gefaxtes Foto vom Fundort vor. »Als die CIA diese Truhe öffnete«, erklärte er, »stellte sich heraus, dass sie zur Abschirmung mit einem dünnen Bleimantel verkleidet war. Die wesentlichen Bauteile stammen aus den alten Modellen, wie Doug bereits nahelegte, aber nicht alle.«

»Und was bedeutet das, bitte schön?«

»Die Komponenten in dem Gehäuse, Mr. President, wurden im Grunde genommen mithilfe von Mikrochips und Prozessoren auf ein Computersystem übertragen – Technologien, die im Kalten Krieg noch nicht existierten. Gleich geblieben sind hingegen die drei Kugeln im Inneren, denn sie wurden, glaube ich, exakt so von damals übernommen und zu dem zusammenmontiert, was Sie hier sehen.«

»Und was genau hat es mit ihnen auf sich?«

Duarte redete nicht um den heißen Brei herum: »Sie sind der Stoff, der einen atomaren Alptraum heraufbeschwört.«

Burroughs betrachtete das gefaxte Bild weiter, während der Minister fortfuhr.

»Die früheren Versionen haben nur über eine Kugel verfügt, wobei der Detonator einen Großteil des Gehäuses beansprucht hat. Mit der Zeit wurde er kleiner, um Platz einzusparen. Deshalb passen jetzt drei statt nur einer Kugel wie damals hinein, wodurch sich die Sprengkraft verdreifacht.«

»Wie hoch ist die einer einzelnen Kugel?«

»Genau eine Kilotonne.«

Burroughs schloss seine Augen. Drei Kilotonnen waren etwas weniger als ein Viertel dessen, was Hiroshima auslöschte.

»Und Pertschenko mag dafür verantwortlich sein.« Nach diesen Worten schien der Präsident nachdenklich zu werden. Infolge des Übergangs des KGB ins Direktorat S hatte Pertschenkos Rolle als stellvertretender Leiter darin bestanden, mehrere Abteilungen zu beaufsichtigen, unter anderem auch terroristische Umtriebe und Sabotageakte im Ausland. Mochte er sich auch nie selbst die Hände schmutzig gemacht haben, war er dennoch zumindest stets der Waffengeber gewesen.

Seufzend fragte Burroughs: »Und die Männer, die dort erschossen wurden?«

Doug Craner legte ihm noch ein Foto vor und hielt seinen Zeigefinger einen Moment lang fest auf die Tischplatte gedrückt, während er antwortete: »Wir haben bestätigt, dass alle drei auf der Fahndungsliste des FBI standen. Einer von ihnen ist allerdings besonders interessant – Abdul-Ahad, syrischer Staatsbürger und Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg unter Assad. Nachdem er schwer verwundet worden war, wechselte er die Seiten, womit auch seine Zeit als Leibgardist zu Ende ging. Als erfahrener Soldat, der früher im Dienst eines Eliteregimes gestanden hatte, schloss er sich al-Qaida an und ging gegen amerikanische Truppen im Irak vor. Wir hegen den Verdacht, dass Abdul-Ahad unter ISIS elf US-Agenten umbrachte.«

Der Präsident neigte sich mit je einem Foto in einer Hand nach vorn. Ein Russe und ein Araber … Er bemühte sich, Verbindungen zwischen den beiden zu erkennen. »Jetzt möchte ich Folgendes von Ihnen wissen, Doug«, sprach er. »Von der Warte der CIA aus, würden Sie sagen, dass sich Russen und Araber gegen amerikanische Interessen verschworen haben könnten?«

»Fest steht nur, Mr. President, dass die vor Ort gefundene Fernbedienung aus Russland stammt, denn die Beschriftung der Tasten ist kyrillisch, was auch so auf dem Display angezeigt wird. Wir konnten sogar die Seriennummern auf den Platinen darin auf einen Hersteller in Minsk zurückführen. Dennoch steht anzunehmen, dass Pertschenko unabhängig agiert. Die russische Regierung ist, wenn Sie mich fragen, in keiner Weise hieran beteiligt. Andererseits: Da sich Putin weiterhin auf die Geisteshaltung der Sowjetzeit beruft, ziehen wir alles in Betracht und schließen nichts aus. Oberflächlich betrachtet scheinen die Araber dezidiert mit einem eigenmächtig handelnden Komplizen gearbeitet zu haben.«

Burroughs legte die Bilder wieder auf den Tisch. »Halten Sie es für denkbar, dass es einer Terrororganisation – ISIS, um genau zu sein – gelungen sein könnte, eine Bombe über die Grenze zu schaffen?«

Craner nickte. »Ja, Sir, das kann ich mir vorstellen. Unsere Grenzen sind nicht hermetisch abgeriegelt, also ist theoretisch möglich, dass sich eine Bombe in die Vereinigten Staaten schleusen ließ.«

Der Präsident bewahrte einen ruhigen Ton. »Vielleicht sogar mehr als eine?«

Der Minister nickte erneut. »Diese Möglichkeit besteht ebenfalls, Mr. President.«

Burroughs drückte seine Finger gegeneinander und tippte sich damit unters Kinn. Er grübelte. »Ich kontaktiere den russischen Präsidenten und mache ihn indirekt für das, was geschehen ist, verantwortlich. Natürlich wird Putin alles abstreiten und mir die Worte im Mund umdrehen wollen, aber sie dürfen davon ausgehen, dass er sich, sobald unser Telefonat beendet ist, mit seinen Informanten in Verbindung setzt, um herauszufinden, ob es stimmt, was ich ihm gesagt habe. Ich verlange, dass unsere Nachrichtendienste im vollen Umfang einsatzbereit sind. Es muss alles abgefangen werden, was die Russen bezüglich Pertschenko über den Äther jagen. Ich will wissen, wie viele Waffen der Kerl an Rebellengruppen verkauft hat … und eines sei unmissverständlich klargestellt – das betrifft ausdrücklich Sie, Doug, und jegliche Geheimermittler unsererseits in Russland –, nämlich dass die Special Activities Division Pertschenko aufspüren und beseitigen soll, sobald wir die genaue Zahl der Kampfmittel kennen, die verkauft sowie in US-Staatsgebiet in Umlauf gebracht wurden. Ferner müssen Sie alle begreifen, dass wir momentan mit den Rücken an der Wand stehen und nicht weiter zurückkönnen. Deshalb bitte ich Sie als meine besten Leute, Ihr Allerbestes zu geben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Daraufhin murmelten die Anwesenden im Einklang ihre Zustimmung.

»Dann machen wir uns an die Arbeit«, schloss der Präsident. »Ich muss herausfinden, wo diese Waffen sind, falls welche im Land kursieren.«

Washington, D.C. | 06:30 Uhr

Burroughs hielt sein Wort, indem er den russischen Präsidenten anrief, ihm drohte und Fristen setzte, wobei ihm genau bewusst war, dass es sich um wirkungslose Druckmittel handelte, denen sein russischer Gegenspieler als Politmacho selbstverständlich Kontra geben würde. Was er dadurch jedoch im russischen Staatsapparat lostreten wollte, waren Ermittlungen in ihren eigenen Reihen, die der US-Spionagedienst dann genau und geschickt überwachen sollte.

Die Instanzen im Osten steckten nach dem Gespräch der beiden Oberhäupter prompt die Köpfe zusammen und machten Pertschenko zur Chefsache. Plötzlich wurde sein Privatleben durchleuchtet, etwa Aktivitäten im Zusammenhang mit bestehenden Bankkonten seit seinem Ausscheiden aus dem Direktorat S und im Weiteren seine Unternehmungen auf dem Schwarzmarkt. Vor allem aber wollten die Russen erfahren, wo der Mann steckte, was darauf schließen ließ, dass er ausradiert werden sollte, bevor die amerikanischen Behörden dazu kamen, ihn selbst zu finden.

So oder so, Yorgi Pertschenko wurde bald zur Zielscheibe.

Und dies freute Präsident Burroughs über alle Maßen.

Er hatte erreicht, worauf er aus gewesen war.

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