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Kapitel 2

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Wohngebiet Cipro, Rom, Italien | Sechs Monate später

Es hörte sich an wie ein Kind, dessen Geschrei man vage nebenbei mitbekam – jene Art von Geräusch, die fern und dumpf klingt, wie ein Schrei vom anderen Ende eines langen Tunnels oder auch irgendetwas aus einem schwammigen Traum. So oder so, Vittoria Pastore fiel es auf.

Die Mutter von drei Kindern hob ihren Kopf ein klein wenig vom Kissen und horchte.

Im Zimmer war es dunkel. Die Schatten bewegten sich nicht. Draußen wehte leichter Wind durch die Äste der Bäume vorm Schlafzimmerfenster.

Aber kein Ton mehr.

Nachdem sie den Kopf wieder gesenkt hatte, brummelten abermals leise Stimmen vor der Tür.

Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 3:32 Uhr an.

Vittoria stützte sich auf einen Ellbogen und lauschte erneut, während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Zu ihrer Linken neben dem Fenster stand ein Kleiderschrank, ein edles antikes Stück mit üppigen Verzierungen – handgeschnitzten Putten über den Türen –, und direkt vor ihr die zugehörige Kommode mit einem Spiegel, in dem sie sich gerade sah. Wie zur Bestätigung ihrer Ungewissheit in diesem Moment rutschte ihr eine Haarsträhne in die Stirn, gelockt wie mehrere Fragezeichen untereinander, was ihren zutiefst argwöhnischen Blick noch intensiver wirken ließ. Ist da draußen jemand?

Die Antwort erhielt sie prompt: Es klang abermals wie ein ferner Schrei, nahezu unhörbar. Sie fuhr erschrocken hoch und drückte sich die Fäuste gegen die Brust. »Chi c'è?« Wer ist da?

Die Frage war kaum lauter als geflüstert.

Stille.

Sie wiederholte sie, diesmal lauter: »Chi c'è?«

»Mama? Mama, vieni qui.« Mama. Mama, komm her.

Obwohl der Rufer weit entfernt zu sein schien, gab es für sie kein Vertun: Es handelte sich um ihren fünfzehnjährigen Sohn, es war die Stimme eines Knaben, der zu einem erwachsenen Mann heranreifte. »Basilio, sono le tre e trenta del mattino. Che c'è?« Basilio, es ist halb vier in der Früh. Was ist los?

Basilios nächster Ruf klang dringlicher, als jammere er vor Entsetzen. »Per favore, mama. Per favore!« Bitte, Mama. Bitte!

Plötzlich knallte die Tür am anderen Ende des Flurs zu, dass das ganze Haus vibrierte.

»Basilio?«

Nichts.

»Basilio?«

Vittoria warf die Decken beiseite und stand nach kaum sechs Schritten an der Schlafzimmertür. Im Flur davor blieb es finster. »Basilio?« Sie tastete blind im Dunkeln, bis sie den Lichtschalter fand, und drückte darauf, immer wieder.

Die Lampen gingen nicht an.

Daraufhin schlich sie langsam zum Zimmer der Kinder, die Arme vorgestreckt wie eine Untote.

Bei Tag waren die Wände so hellblau, dass es Nichteuropäern weiß vorgekommen wäre, wohingegen es Vittoria an den strahlenden Putz der Reihenhäuser an den Kanälen Venedigs erinnerte, vor allem das ihrer Eltern, in dem sie aufgewachsen war. Nachts blieb die Wand allerdings ebenfalls dunkel.

Vittoria bewegte sich auf dem Flur vorwärts, indem sie sich mit den Händen an den vielen Gegenständen orientierte, die an den Wänden hingen, wobei sie die meisten verschob, sodass sie schief hängen blieben, was sie später wieder zu berichtigen gedachte.

Sanft und leise trat sie auf, die Bohlen fühlten sich unter ihren Füßen kalt an wie die Schatten überall ringsum.

»Während sie sich dem Kinderzimmer näherte, machte sie Helligkeit unter der Türschwelle aus.

»Basilio?«

Die Tür ging von selbst auf wie zur Einladung, aber nicht ganz, und gleichzeitig flutete Licht aus dem Raum in den Flur.

»Mama?«

»Basilio, che diavolo ci fai?« Basilio, was zur Hölle tust du da?

Sie öffnete die Tür ganz und sah den Jungen mit seinen beiden jüngeren Schwestern in den Armen auf der Couch sitzen. Alle weinten.

Neben ihnen stand ein dunkelhäutiger Mann, der ein Soldatengewehr auf sie richtete. Er trug eine Armeehose und einen schwarzen Kapuzenpullover. An der Waffe war ein Schalldämpfer, der so lang wie der Lauf selbst war, dessen Maß also verdoppelte.

In einem Sessel gegenüber der Couch saß ein Bursche mit übereinandergeschlagenen Beinen und auf die Armlehnen gestützten Ellbogen, der die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinanderdrückte. Er sah unwesentlich älter als ihr Sohn aus, schaute die Mutter jedoch zwanglos wie eine alte Freundin an. Er war schmächtig und hatte einen zerrupften Bart. Sein Blick wirkte freudlos, so lange er auf ihr ruhte. Gleich darauf verwies er mit einer Hand auf einen zweiten Sessel, der vor ihm stand.

»Bitte«, begann er. »Ihren Kindern geschieht nichts, wenn Sie tun, was ich sage. Sie haben mein Wort.« Seine Stimme klang buchstäblich honigsüß, sein Italienisch war tadellos. »Bitte.«

Vittoria zog den Stoff ihres Nachthemds am Ausschnitt zusammen und nahm wie aufgefordert Platz. Ihr Kinn zitterte, während sie die Eindringlinge ansah. »Was soll das heißen?«, wollte sie wissen.

Der junge Kerl antwortete nicht. Er taxierte sie bloß weiter, wobei er seine Finger immerzu nachdenklich gegeneinander beugte und streckte.

»Wir haben Geld. Sie können alles haben. Nehmen Sie es einfach, und lassen Sie uns in Frieden.«

»Uns geht es nicht um Geld«, erwiderte er, »sondern um unsere Ideologie.«

Sie starrte ihn an wie ein Mensch gewordenes Rätsel und stellte ihren Kopf schräg. Langsam, neugierig.

»Ich brauche allerdings Ihre Hilfe«, fügte er hinzu. »Es gibt da etwas, das nur Sie mir geben können.«

Da raffte sie ihr Nachthemd noch fester zusammen.

Als der Fremde seinem Begleiter zunickte, nahm dieser sein Gewehr hinunter und zog kurzerhand ein Messer aus einem Futteral an einem seiner Oberschenkel. Er schwenkte es gezielt im Bogen unter Vittorias Kinn, nicht ohne die Haut zu zerkratzen. Die Kinder schrien auf, als sie das Blut sahen.

»Was ich von Ihnen möchte«, erklärte der Fremde immer noch sprachlich korrekt, »ist relativ schlichter Art.« Er zeigte auf einen Minicamcorder auf einem Stativ auf der anderen Seite im Zimmer. Ein rotes Lämpchen daran leuchtete, also nahm sie auf. »Ich will«, so der Bursche weiter, »dass Sie da hineinschauen und kreischen.« Dann neigte er sich ihr zu und ergänzte mit drohendem Unterton: »Ich sagte … kreischen!«

Und genau das tat Vittoria Pastore.

SHEPHERD ONE (Die Ritter des Vatikan 2)

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