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Messe – der Wahnsinn
Оглавление„Es ist doch jedes Jahr der gleiche Wahnsinn“, Marlene drehte sich zu ihrer Kollegin Sandra um, die in der winzigen Kabine des Messestands versuchte, Wein- und Sektgläser unfallfrei auf einem Tablett zu platzieren.
„Ich sollte es ja nun nach zehn Jahren Frankfurter Buchmesse wirklich besser wissen, aber am Tag unseres Autorenempfangs kann ich einfach nie ein Outfit finden, zu dem flache Schuhe passen. Und dann bin ich regelmäßig völlig fertig, kurz bevor es losgeht.“
Sandras Mitleid hielt sich in Grenzen: Wie jedes Jahr trug sie auch heute halbwegs schicke, aber vor allem flache Stiefeletten zu ihrem blauen Hosenanzug und fühlte sich um sechzehn Uhr immer noch topfit. Aber mit einem Meter und fünfundsiebzig Zentimetern konnte sie sich das auch leisten. Marlene fehlten glatte zehn Zentimeter, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Und die glich sie halt mit schicken Pumps aus. Sie hatte einfach keine guten Erfahrungen damit gemacht, zu Einmeterneunzig-Autoren aufzublicken und ihnen gleichzeitig Entgegenkommen beim Honorar abhandeln zu wollen.
„Warum musst du auch ausgerechnet auf der Buchmesse versuchen, in Honorarverhandlungen die Oberhand zu gewinnen?“ Sandra kannte ihre Freundin gut genug, um deren heimliche Strategien zu durchschauen. „Nächstes Jahr machst du hier nur Smalltalk und zurrst die Details einfach anschließend fest. Nüchtern und vom Büro aus. In Ballerinas.“
„Sagst du mir das in einundfünfzig Wochen, wenn ich mein Köfferchen packe, bitte noch mal laut und deutlich?“ Marlene seufzte und schlüpfte probehalber aus dem linken Schuh. Nein, da würde sie nie wieder reinkommen, wenn sie es sich jetzt bequem machte. Und in einer halben Stunde war hier der Teufel los. Dann hieß es lächeln, lächeln, lächeln. Und dabei nicht gequält aussehen. Sie hatte es bisher noch jedes Jahr geschafft. Also würde sie es heute wohl auch hinbekommen.
Marlene schnappte sich ihr Notizbuch und zog sich in die kleine Besprechungsecke zurück. Ein letzter Blick zur Vorbereitung konnte ja nicht schaden. Mindestens zwei der Autoren, die sich angekündigt hatten, waren knallharte Verhandler. Da musste sie ihre Argumente beisammenhaben. Und dann kam ja auch noch ihre ‚Lieblings‘-Herausgeberin, Frau Meyer-Wübbecke. Immer unter Strom, immer mit völlig unerfüllbaren Sonderwünschen, immer für eine Überraschung gut. Und leider sehr wichtig und eine echte Umsatzgarantin. Die musste sie auf jeden Fall zufriedenstellen, sonst würde sie es bei der Manöverkritik nach der Messe auszubaden haben.
Sie sah Peters zerknitterte Miene förmlich vor sich: Wenn ihm etwas missfiel, konnte ihr Chef seine Stirn in unglaublich viele Falten legen. Und man tat gut daran, die Quelle seines Missfallens möglichst umgehend zu beseitigen. Auch wenn er sonst als Vorgesetzter echt ein Glückstreffer war – man reizte ihn besser nicht.
Marlene liebte ihren Beruf und ging darin auf. Aber auf einen missgestimmten Peter konnte sie verzichten. Der ruinierte locker eine ganze Arbeitswoche.
„Wie viele Gäste haben sich eigentlich angemeldet?“, fragte Sandra aus dem Hintergrund. „Es wird doch bestimmt wieder voll, oder?“ „Rappelvoll. Vorgestern waren wir bei achtundsechzig Anmeldungen. Und du weißt ja: Manche kommen spontan dann doch noch, weil ein anderer Termin ausgefallen ist. Oder weil die Häppchen einen guten Ruf haben.
Zum Glück ist das fast meine letzte Amtshandlung auf der Messe. Morgen hab ich nur noch zwei Vorträge, die ich gern hören möchte. Und dann geht es ab ins Wochenende.“ Marlene war die Vorfreude anzuhören: ausschlafen, gemütlich frühstücken, vielleicht ein langer Spaziergang. Danach wäre sie für die nächste Arbeitswoche wieder gewappnet.
Sandra guckte neidisch. „Du hast es gut. Und während du dir mit deinem Lukas einen schönen Tag machst, darf ich hier an vorbeiziehende Horden Kugelschreiber verteilen und bis spät abends Bücher zusammenpacken.“ Tja, so war das, wenn man für den letzten Messetag eingeteilt war. Beliebt war das nicht. Das Fachpublikum war bereits zu Hause und die „Horden“, wie Sandra sie wenig liebevoll genannt hatte, bestanden aus begeisterten Buchliebhabern, die möglichst viele Promis sehen wollten und möglichst viele Bücher möglichst preiswert mit nach Hause nehmen wollten. Am letzten Tag waren die Verlage ja froh über jeden Band, den sie nicht wieder einpacken mussten.
Ehe die beiden Freundinnen sich weiter über das bevorstehende Wochenende austauschen konnten, brach auf der anderen Seite des Messestands ein kleiner Tumult aus. Was war denn da los?
„Oh, Prominenz im Anmarsch“, hauchte Sandra und bekam ganz rosige Wangen. „Guck mal, Marlene, den kennen wir doch!“ Marlene drehte sich um. In der Tat, da stand Stefan Sommer, bekannt aus Film und Fernsehen, Schwarm aller Schwiegermütter, inmitten einer Traube von Fotografen. „Na, der hat sich doch bestimmt verlaufen. Von uns kann er ja wohl nichts wollen.“ Marlene blieb gelassen. Ihr Verlag war auf Sachbücher und wissenschaftliche Publikationen spezialisiert. Wohl kaum die richtige Adresse für einen Promi, der sich als Schriftsteller versuchen wollte. Und noch weniger geeignet, um eine dümpelnde Karriere mit autobiografischen Informationen anzukurbeln.
„Nee, als Verlag kommen wir für den nicht infrage“, Sandra war da ganz ihrer Meinung. „Ich glaube auch kaum, dass er es nötig hat, als Autor zu dilettieren. Seitdem er den Hauptkommissar Wendrich spielt, kann er sich ja offenbar vor Angeboten kaum retten. Wahrscheinlich ist dies hier einfach der schnellste Weg zum Ausgang für ihn.“ Sandra holte das Handy aus der Tasche, um wenigstens ein Erinnerungsfoto von diesem denkwürdigen Besuch zu schießen. Da war sie Marketing-Profi. Das könnte man auf der Website posten. Es würde bestimmt ein paar Menschen zum Verweilen einladen. Und wer verweilt, kauft. Jedenfalls manchmal.
„Egal. Hauptsache, er ist wieder weg, wenn unsere Autoren hier aufschlagen. Sonst stiehlt er denen noch die Show. Und das mögen sie gar nicht.“ Marlene lachte. „Ich möchte nicht wissen, was Frau Meyer-Wübbecke unternimmt, wenn sie die ihr gebührende Aufmerksamkeit mit einem Fernsehfuzzy teilen muss.“
Der Pulk, der sich um Stefan Sommer gebildet hatte, löste sich langsam auf. Fotografen auf der Buchmesse hatten nicht ewig Zeit, sich einem Prominenten zu widmen. Dafür gab es einfach zu viele. Foto im Kasten – fertig. Er sah übrigens aus der Nähe betrachtet gar nicht schlecht aus, der Stefan Sommer. Marlene hatte in den letzten zehn Jahren auf der Messe viele Stars und Sternchen aus der Nähe betrachten können. Und meistens hatte sie festgestellt, dass der Bildschirm der Ausstrahlung offenbar guttat. Im wirklichen Leben waren die Idole häufig weit weniger eindrucksvoll: viel kleiner als gedacht, doch schon ziemlich faltig, mit künstlichem Lächeln im Gesicht und geschmacklos bis schlampig angezogen. Aber der hier …
Unauffällig musterte sie den Schauspieler. blonde, leicht wellige Haare, Dreitagebart, perfekt sitzende Jeans mit knackigem Hintern, lässiger Hoody, nettes Grinsen im Gesicht …
Moment mal. Grinsen im Gesicht? Marlene wurde rot. Der sah ja zu ihr rüber! Der hatte mitbekommen, dass sie ihn angestarrt hatte. Wie peinlich. Wie oberpeinlich. Sie drehte sich abrupt um und verschwand in der kleinen Kabine, die Sandra soeben verlassen hatte.
Durchatmen. War ja nichts passiert. Sie arrangierte Kekse auf kleinen Tellern, um ein Alibi für ihre Anwesenheit zu haben. Nicht, dass es irgendwen interessiert hätte.
Als sie nach wenigen Minuten wieder zum Vorschein kam, war niemand mehr zu sehen. Und dann ging der Rummel auch schon los. In der nächsten Stunde kam Marlene kaum zum Luftholen. Küsschen hier, Smalltalk da. Ein Prosecco mit dieser Autorin, eine Verabredung zur Durchsicht des neuen Manuskripts mit jenem Herausgeber. Business as usual.
Nach achtzehn Uhr leerte sich der Stand allmählich wieder. Die Leute wollten nach Hause. Sich umziehen, sich zum Abendessen einladen lassen, entspannen nach dem harten Tag. Marlene ging es nicht anders. Aber erst musste hier noch klar Schiff gemacht werden. Morgen früh würde dafür keine Zeit sein, da begann der Sturm pünktlich mit dem Öffnen der Tore.
Sie hatte gerade die letzten leeren Gläser aus den Regalen gefischt und die Prospekte aufgefüllt, als hinter ihr plötzlich eine dunkle Stimme ertönte: „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Cheflektorinnen sich auch aufs Putzmanagement verstehen.“
Marlene wirbelte herum. So ein Depp hatte ihr jetzt grade noch gefehlt. Aber die saftige Entgegnung blieb ihr förmlich im Hals stecken. Das war doch – schon wieder Stefan Sommer. Sie starrte ihn wortlos an.
„Guten Abend“, sagte er höflich. „Sie sind doch Marlene Winter, nicht wahr?“ Marlene nickte stumm. Der kannte sie??? Es verschlug ihr die Sprache.
„Ich hab Sie vorhin schon erkannt, nach der Beschreibung, die mein Freund Andreas mir gegeben hat. Aber ich wollte dann doch bei einem ersten Kennenlernen lieber keine Presse dabeihaben.“
„Kennenlernen? Sie mich?“ Marlene riss sich zusammen. „Andreas? Äh, welcher Andreas?“ Stefan Sommer nickte und reichte ihr freundlich die Hand. „Richtig. Andreas Martens. Den kennen Sie doch, oder?“ „Ja, das ist ein Autor, mit dem zusammen ich schon einige Bücher gemacht habe.“ Marlene nickte. „Also, geschrieben hat er sie natürlich. Das ist ein Freund von Ihnen?“
„Ja, wir kennen uns schon seit Kindertagen. Und Andreas hat zu mir gesagt: ‚Stefan, wenn du wirklich schreiben willst, brauchst du eine gute Lektorin. Und die beste, die ich kenne, arbeitet beim Gärtner-Verlag. Das ist zwar vielleicht nicht die erste Adresse für einen Roman. Und woanders könntest du mit deinem Promibonus vielleicht mehr Honorar rausschlagen. Aber wenn es dir ernst ist, wenn dein Erstling gut werden soll, dann bist du bei Marlene Winter genau richtig.“
Marlene stand da und reagierte nicht. Sie blieb einfach stumm. Das passierte ihr äußerst selten. Nein, eigentlich war ihr das noch nie passiert. Aber ein derartiges Angebot hatte sie ja auch noch nie erhalten. Geschweige denn, erwartet.
Stefan Sommer deutete ihr Schweigen offensichtlich falsch. „Äh, ich verstehe natürlich, dass Sie sich mit einem Anfänger wie mir gar nicht beschäftigen wollen. Und so ganz Ihr Metier ist ein Roman ja vermutlich auch nicht. Aber ich dachte, ich versuch‘s einfach mal. Na ja …“ Nun wusste offenbar auch er nicht mehr so richtig weiter.
„Nein, nein, das ist es nicht. Ich bin nur einfach vollkommen überrascht. Bitte entschuldigen Sie.“ Allmählich gewann die Professionalität bei Marlene wieder an Boden. „Natürlich ist ein Buch von Ihnen für jeden Verlag ein Knaller. Und für unseren ganz sicher. Da würde ich zumindest nicht ablehnen, ohne das Manuskript vorher gelesen zu haben. Und es müsste schon grottenschlecht sein …“ Sie lächelte entschuldigend.
„Oh, wunderbar“, Sommer atmete auf. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Abendessen im Bayerischen Hof einlade und wir alles Weitere dort besprechen? Ich bin da untergebracht, deswegen wäre es für mich recht bequem.“ Marlene überlegte einen Moment. „Eigentlich bin ich völlig erledigt, aber da kann ich natürlich schlecht Nein sagen, ohne meinen Job aufs Spiel zu setzen.“ Marlene lächelte – das sollte ironisch klingen, aber es war auch ziemlich nahe an der Wahrheit. „Nur: Bayerischer Hof? Dann stehen Sie morgen auf jeden Fall in der Zeitung. Und ich bzw. der Verlag gleich mit. Keine gute Idee.“
„Da haben Sie natürlich recht. Ich bin ein Trottel. Haben Sie einen Vorschlag?“ „Wenn Sie Thai-Essen mögen? Da gibt es in der Nähe meines Hotels ein kleines Lokal. Und das wäre dann für mich recht bequem.“ Marlene grinste. „Es hat den Vorteil, dass heute dort keine Kollegen auftauchen, weil die alle beim Empfang des Börsenvereins sind. Und bezahlbar ist es für unseren klammen Verlag auch. Denn natürlich zahle ich das Essen. Dafür gibt es schließlich Spesen.“
Marlene übersah geflissentlich Sandras weit aufgerissene Augen, schnappte sich ihren Mantel und verließ den Messestand. Zusammen mit einem sehr attraktiven international bekannten Schauspieler, der ausgerechnet sie als Lektorin für seinen Debütroman wollte.