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Das Tagebuch
ОглавлениеAm nächsten Morgen stand Marlene gegen zehn Uhr vor einem eindrucksvollen dreistöckigen Haus in der Brabanter Straße. Es war relativ schmal, hatte ab dem ersten Stock einen vorspringenden Erker und strahlte solide Gründerzeiteleganz aus. Die Straße war ruhig, aber ringsherum gab es jede Menge Cafés, kleine Boutiquen, Restaurants und Obst- und Gemüselädchen. So zu wohnen musste fantastisch sein. Marlene klingelte. Es summte und die Tür sprang auf. Ihr Blick fiel in ein marmornes Treppenhaus, das sich nach wenigen Stufen zu einem Raum weitete, für den ihr nur das Wort ‚Vestibül‘ einfiel. Sowas gab es eigentlich gar nicht mehr. Schon gar nicht in Privatwohnungen. Wow. Auf der obersten Stufe stand Stefan, in Sweatpants und verschwitztem T-Shirt, ein Handtuch um die Schultern und einen Latte-Macchiato-Becher in der Linken. Nochmal wow.
„Ich stör dich beim Training?“ Marlene hatte Fragezeichen in der Stimme. „Aber nein, bin schon beim Kaffee danach. Nur zum Duschen bin ich noch nicht gekommen, weil ich die Zeit mit dem Versuch vertrödelt habe, Mathildes Schrift zu entziffern. Da brauch ich echt Nachhilfe. Komm rein.“
Mathilde betrat die geräumige Empfangshalle, die mit alten Teppichen und zierlichen Biedermeiermöbeln eingerichtet war. „Die Küche ist gleich rechts – und da hat die moderne Zeit auch schon Einzug gehalten.“ Beim Rest vom Haus muss ich nach und nach umräumen.“ Stefan stöhnte leise. „Das ist ja alles relativ kostbar. Man kann es nicht einfach zum Sperrmüll bringen. Aber bis auf ein paar Erinnerungsstücke werde ich nicht viel behalten. Das ist irgendwie so gar nicht mein Stil.“ Er ging ihr voraus und betrat einen großen Raum, dessen gesamte Rückwand verglast war und einen Blick in den Garten gestattete. In der Mitte befand sich eine moderne Kochinsel, auf der rechten Seite waren Schränke mit Töpfen, Pfannen, Tellern und Tassen untergebracht. Und links stand eine gemütliche Eckbank mit einem Eichentisch. Hier konnte man es aushalten.
„Was wäre denn dein Stil, wenn Biedermeiersesselchen dir zu zierlich sind? Lass mich raten: schwarze Ledersofas.“ Das war ein bisschen gemein. Alle Kerle liebten ja offenbar schwarze Ledersofas. Es hatte Marlene viel Mühe gekostet, Lukas zumindest auf sandfarbene umzupolen, weil sie ihre Abende nicht in derart dunkler, kühler Umgebung verbringen wollte. Dunkle Kissen musste sie schließlich zugestehen, aber damit konnte sie leben.
Stefan schaute ein wenig ertappt drein. „Daran hatte ich gedacht, ja. Ist das nicht gut?“ – „Na ja, mein Geschmack wäre es nicht. Also für ein Büro oder einen Konferenzraum: Okay. Aber für den Feierabend? Das zieht einen doch runter. Es gibt ja Leder heute in allen Farben. Da würd ich eher nach meerblau oder sonnenuntergangsgelb schauen. Oder so. Aber ich bin ja nicht deine Innenarchitektin.“
„Oh, aber es wäre toll, wenn du es werden könntest. Meerblau. So karibiktürkis. Das gefällt mir ganz ausgezeichnet. Wäre ich nie drauf gekommen. Aber da würde sich dann jeder Feierabend ein bisschen wie Urlaub anfühlen. Das ist es. Danke.“
Stefan war ganz begeistert. „Komm, ich zeig dir das Haus. Vielleicht hast du noch mehr meerblaue Ideen.“ Marlene fühlte sich geschmeichelt, musste aber ablehnen. „Tut mir leid, aber in neunzig Minuten fährt mein Zug. Und wenn ich Lukas heute auch wieder versetze, dann verlässt er mich“, scherzte sie. „Also, ich könnte damit leben“, traute sich Stefan zu erwidern. Aber dann wurde er ernst. „Nein, das war natürlich ein schlechter Scherz. Hausbesichtigung machen wir beim nächsten Mal, wenn ich mit dem ersten Durchgang fertig bin und wir uns treffen, um deine Lektoratswünsche zu besprechen.“
Mit diesen Worten drückte er ihr ein in weinrotes Leder eingebundenes, nicht allzu dickes Buch in die Hand, das mit einer silbernen Schnalle verschlossen war. „Das ist es, Mathildes Tagebuch.“
„Guter Titel“, sagte Marlene spontan. „Den sollten wir uns gleich mal merken. Vorsichtig schlug sie das Buch auf. Die Tinte war sepiabraun und kaum verblasst, die Schrift steil und gleichmäßig. „Heute Abend ist Friedrich erst gegen Mitternacht gegangen“, fing sie an zu lesen. „Wie überaus unschicklich. Oh, ich liebe ihn so sehr.“
Stefan blieb der Mund offen stehen. „Du kannst das einfach so lesen? Wahnsinn. Einfach der Wahnsinn.“ „Für irgend etwas muss mein Germanistikstudium ja gut sein“, schmunzelte Marlene. „Nein, im Ernst. Ich hatte eine Patentante, die sich dieser Schrift hartnäckig bediente. Und die schrieb mir ziemlich oft. Da bleibt was hängen.“
„Aber dann“, Stefans graue Zellen kamen sichtlich in Bewegung, „dann könntest du die Sache ja enorm beschleunigen. Wenn du mir eine lesbare Version anfertigst und ich nicht Monate auf das Entziffern verwenden muss, dann bringt uns das mächtig voran. Einem Fremden hätte ich das Tagebuch nicht anvertrauen wollen. Aber meiner Lektorin – jederzeit.“
Und so vereinbarten sie es schließlich. Marlene nahm das Tagebuch an sich und versprach, gleich am nächsten Tag den Vertrag und in ca. zwei Wochen die Abschrift zu schicken. Und dann würde es losgehen.