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DREI

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Normalerweise freute sich Maximilian Gottlieb, wenn er Lea sah, denn er liebte alles an ihr: ihre immer noch jugendlich sportliche Figur, die halblangen braunen Haare, die in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerten, ihre klugen braunen Augen, ihren Humor, ihren beruflichen Eifer, ach ...

Meistens trafen sie sich in verschwiegenen Hotels oder abgelegenen Gasthäusern, bevorzugt im Elsass, oder sie besuchten sich heimlich, wenn es dunkel war, parkten ihre verräterischen Autos um mehrere Ecken entfernt, damit ihre von Natur aus neugierigen und findigen Kollegen ihnen nicht auf die Schliche kamen, und genossen dann die gemeinsame Zeit wie Kinder, die ihren strengen Eltern entwischt waren.

In letzter Zeit hatte sich allerdings auch ein Stück Bedauern eingeschlichen. Gottlieb sehnte sich immer öfter danach, bei Lea zu bleiben, Tag und Nacht, Woche für Woche, und endlich sein Glück mit ihr ganz offen kundzutun.

Jetzt jedoch empfand er den Anblick ihres rot-weißen Minis neben den Streifenwagen in dieser ruhigen Villengegend als absolut unpassend, denn er bedeutete nichts anderes, als dass sie mal wieder vor der Mordkommission, ja, womöglich vor den Kollegen der Schutzpolizei am Tatort gewesen war und Fotos gemacht hatte. Deren Veröffentlichung konnte er nicht mehr verhindern, genauso wenig wie den Ärger, den er sich damit bei seinen Vorgesetzten einhandelte. Bestimmt würde man ihn wieder einmal hochnotpeinlich nach seinem Verhältnis zu der Journalistin befragen und ihm nicht abnehmen, dass sie einfach gut in ihrem Job war und deshalb manchmal – ganz gegen seinen Willen und ohne sein Wissen oder Zutun – die Nase vorn hatte.

Diesmal jedoch war Lea entschieden zu weit gegangen, denn offenbar hatte sie auch noch ihre gelegentliche Hilfsdetektivin mitgeschleppt. Oder warum sonst stand die ihm nur allzu gut bekannte Marie-Luise Campenhausen hier mitten im mit Antiquitäten, alten Stichen und wertvollen Orientteppichen vollgestopften Wohnzimmer des Anwesens und gab – durch das vorgehaltene Taschentuch gedämpft – der Spurensicherung Anweisungen, während nahe dem Sofa, auf dem das aufgedunsene, gefesselte, von Maden nur so wimmelnde Opfer lag, ein Blitzlicht aufflammte?

Gottlieb bemühte sich, Lea zu ignorieren, die in ihren Jeans und dem engen weißen T-Shirt verdammt attraktiv aussah. Dankbar registrierte er, dass sie ihn betont unbeteiligt, wenn auch mit glühenden Wangen begrüßte und zur Leiche und zu möglichen Spuren gebührenden Abstand hielt. Sie war eben Profi. Trotzdem hatte sie hier nichts zu suchen, genauso wenig wie Frau Campenhausen, die mit einem der Uniformierten diskutierte, weil sie, wie aus ihren Gesten zu schließen war, offenbar die Treppe hinauf in den ersten Stock steigen wollte.

Er musste dem Treiben ein Ende machen.

»Alle Personen, die nicht zur Polizei gehören, verlassen auf der Stelle den Tatort«, rief er, während er gleichzeitig mit aufwallender Übelkeit kämpfen musste.

Stille kehrte ein, die nur durch ein bockiges »Aber ich muss da hinauf, das habe ich ihr versprochen« unterbrochen wurde, dann war auch Frau Campenhausen ruhig und zog sich mit Lea in die Eingangshalle zurück.

»Wieso sind die beiden Frauen hier?«, zischte er dem Streifenbeamten zu, der ihm am nächsten stand.

»Die alte Dame hat das Opfer aufgefunden und uns alarmiert, und die Presse war schon vor Ort, als wir ankamen. Wahrscheinlich ist sie ebenfalls von der Zeugin informiert worden.«

»Hm. Also, was haben wir?«

»Das Opfer ist eine gewisse Ingeborg Dahlmann, siebenundsiebzig, Witwe von Eugen Dahlmann ...« Der Beamte stockte vielsagend, was Gottlieb genauso wenig ausstehen konnte wie Hanno Appelts Eigenschaft, ständig rhetorische Fragen zu stellen.

»Und weiter?«

»Na, von dem Eugen Dahlmann ...«

»Jetzt bitte!«

»Hier liegen Sie immer richtig«, begann der Kollege unmotiviert und unmelodiös zu singen.

»Wie bitte?« Gottlieb sah ihn fassungslos an.

»Das Motto des Dahlmann’schen Hotelimperiums. Kam früher stündlich im Radio. Ich bin damit aufgewachsen wie Sie wahrscheinlich mit Clementines Wenn’s so sauber wie gekocht sein soll oder mit Damit Sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können«.

Gottlieb sah sich den Scherzkeks näher an. Ende zwanzig, zwei grüne Sterne auf der Schulter. Polizeimeister, kein Wunder: Wenn der so weitermachte, würde er in dreißig Jahren immer noch Polizeimeister sein. Im Innendienst.

»Könnten Sie bitte zur Sache kommen?«

Der Mann bekam rote Ohren und nahm Haltung an. »Der Anruf der Zeugin Campenhausen kam um fünfzehn Uhr null neun herein. Eintreffen am Tatort um fünfzehn Uhr fünfundzwanzig. Der Tunnel ist gesperrt, da war in dem Verkehrschaos kein Durchkommen. Die Zeugin hat uns ins Anwesen gelassen.«

Gottlieb entfuhr ein verärgerter Grunzlaut. Das würde also jede Menge verwischter Spuren bedeuten. Andererseits war Frau Campenhausen in Kriminalfällen bewandert und wusste aus ihrer Lieblingsliteratur, dass sie nichts anfassen durfte. Und diese grausigen altmodischen Häkeldinger, die sie an den Händen trug, hatten hoffentlich das Schlimmste verhindert.

Wie auf Bestellung mischte sich Kollege Endres von der Spurensicherung ein.

»Es gibt Spuren eines Aufbruchsversuchs, aber die Zeugin behauptet, die Terrassentür habe noch gehalten und erst durch ihr Zutun endgültig nachgegeben. Wenn dem so wäre, muss das Opfer den Mörder selbst hereingelassen haben. Oder wir haben es mit unserem alten Bekannten und seinem Phänomen des ungeklärten Zutritts zu tun.«

Gottlieb kam sich vor wie ein Analphabet, der auf einem Fass mit der Aufschrift Dynamit sitzt. Erst der pinkelnde Hund, dann der Scherzkeks mit den Werbesprüchen und nun noch diese Bemerkung, die andeutete, dass jeder im Raum wusste, wer der Täter war – nur er nicht. Noch so etwas, und er würde explodieren. Aber das passte nicht zum Leiter der Mordkommission. Also bemühte er sich um eine gelangweilte Miene.

»Schon gut. Ich würde das gern ausformuliert haben, fürs Protokoll des jungen Kollegen hier«, versuchte er, sein Gesicht zu wahren und grub in seinen Taschen nach einem scharfen Pfefferminzbonbon, um den Gestank aushalten zu können.

»Geht klar. Also: Alleinstehende, wohlhabende betagte Frau in freistehender Villa, bäuchlings und gefesselt auf der Couch, rotes Klebeband, kein Hinweis auf gewaltsames fremdes Eindringen, wenn die Zeugin tatsächlich für die Terrassentür verantwortlich ist. Es spricht also nicht alles, aber doch einiges für eine Tatbegehung durch unseren Gentleman-Räuber.«

»Ach du lieber Gott, der Gentleman-Räuber! Haben Sie das gehört, Frau Weidenbach?«, ertönte aus dem Flur die Stimme von Frau Campenhausen.

Was genug war, war genug.

»Würden Sie bitte die beiden Damen nach draußen begleiten? Haben Sie ihre Aussagen aufgenommen? Gut. Dann sollen sie sich morgen früh auf der Dienststelle einfinden, denn jetzt würden wir gern unsere Arbeit tun«, bollerte Gottlieb los.

Im Flur war ein kurzes Tuscheln und Zischeln zu hören, dann dauerte es nur noch einen kurzen Moment, bis draußen ein Wagen angelassen wurde und davonfuhr.

***

Seltsam nackt kommt er sich vor ohne seinen Glückbringer, nackt, verletzlich und nervös. Warum steht über den Überfall vor zwei Tagen nichts in der Zeitung? Ist das ein Trick? Ist man ihm wegen der verlorenen Kette bereits auf der Spur? Warum sieht ihn der Mann mit der gelben Krawatte am Ende des Tisches so merkwürdig an? Ist er ein verdeckter Ermittler? Wird er gleich aufstehen und ihn festnehmen?

Ruhig, ruhig. Keine Panik. Kein Aufsehen erregen. Die Croupiers arbeiten wie immer, niemand macht Zeichen, neigt den Kopf in seine Richtung. Auch die Saalchefs haben ihn zwar beim Eintreten flüchtig mit hochgezogener Augenbraue gemustert, sich dann aber nicht weiter um ihn geschert.

Konzentration.

Heute wird er nicht verlieren. Das ist doch schon Gesetz: Hat man genügend Geld in der Tasche, kommt noch mehr hinzu.

Also kann er etwas riskieren.

Fünf hellgelbe glatte Handschmeichler auf 30.

Das ist gerade mal ein Zehntel der Beute, die er vorhin in bunte Plastikstücke umgetauscht hat. Das Geld auf die Bank zu tragen hätte keinen Sinn ergeben. Was macht es denn für einen Unterschied, ob er achtundzwanzig- oder dreiundzwanzigtausend Euro Schulden hat? Hier hingegen hat er eine reelle Chance, das Geld sogar zu vermehren.

Marcels Anteil knistert noch in Scheinen in seiner Brusttasche. Die werden nicht angerührt. Diesmal bekommt sein Bruder das Geld, gleich heute Abend noch. Aber es wird das letzte Mal sein. Die Augen der alten Frau, die schier aus den Höhlen traten, haben ihn nun schon zwei Nächte verfolgt. Marcel hätte ihm sagen müssen, dass sie krank und gehbehindert war. Niemals hätte er sie genommen. Dann hätten sie eben noch ein oder zwei Wochen auf eine andere Gelegenheit gewartet. Es ist schon grauenhaft genug, gesunde Opfer fast zu Tode zu erschrecken. Sie können ja nicht wissen, dass die Pistole nicht geladen ist.

Die Kugel kreist. Er bleibt ruhig, zum ersten Mal seit langer Zeit. Geld zu Geld, sagt er sich noch einmal vor, es gibt nichts zu befürchten.

Und wenn er verliert, setzt er eben gleich wieder auf 30, was die Wahrscheinlichkeit, dass er gewinnt, erhöht. Das System ist kinderleicht. Man muss nur genügend Geld zur Verfügung haben.

»Faites vos jeux«, säuselt der Croupier und schiebt mit seinem Rechen Plastiktaler anderer Spieler auf die Felder.

»Orphelins à plein«, kräht eine blondierte Frau neben ihm und wirft dem Croupier einen Tausender hin, der in null Komma nichts in fünf große eckige Stücke umgesetzt und auf acht Zahlenkombinationen verteilt wird. Seine Zahl ist nicht dabei. Wenn seine 30 kommt, geht die Frau leer aus. So ist das eben im Spiel.

Der Kessel wird in Bewegung gesetzt.

»Rien ne va plus.«

Die Kugel scheuert am Kesselrand entlang, und es hört sich gut an. Siegesgewiss.

Wenn er gewinnt, hat er aus fünfhundert Euro achtzehntausend gemacht und wird sofort aufhören. Dann wird er im Internet versuchen, einen Anhänger zu ersteigern, der seinem verlorenen Glücksbringer ähnelt, ehe Sophie fragt, wo seine Kette abgeblieben sei. Er kann ihr ja schlecht erklären, dass und wo er sie verloren hat. Wenn die Polizei sie findet, wird man nach dem Besitzer fahnden, und zwar in jeder Zeitung, auch im Elsass. »Das Amulett des Gentleman-Räubers – wer erkennt es? Wo fehlt es?« Er kann die Überschrift schon vor sich sehen. Merde.

Die Kugel setzt zu ihrem Schlussgalopp über die Felder und Stege an, hopst, springt, klingt fröhlich, tanzt noch ein wenig hierhin, dahin, dann bleibt sie mit einem letzten Klacken liegen. Entspannt blickt er zum Kessel. Hinter ihm jauchzt jemand und verbreitet Knoblauchdunst.

Er aber starrt und starrt.

***

»Der Gentleman-Räuber«, sagte Marie-Luise Campenhausen immer noch erschüttert, als Lea am Abend nach ihr sah. Sie hatte sich ein Gläschen Portwein eingeschenkt, drehte es kurz zwischen den Fingern und kippte es dann auf ex hinunter. »Der Gentleman-Räuber.« Lea nickte. Viel Konkretes hatte sie über ihn nicht im Archiv gefunden, außer ein paar Polizeimeldungen der letzten zwei Jahre. Er wurde nicht etwa wegen seiner Umgangsformen oder Höflichkeit so genannt, sondern weil er seine Opfer stets mit der tröstenden Botschaft verließ, dass sie ja nur eine Nacht ausharren müssten, bis sie am nächsten Morgen von ihren Putzfrauen, Gärtnern, Krankengymnasten oder sonstigen Personen, die regelmäßig zu bestimmten Tagen und Zeiten ins Haus kamen, gefunden werden würden. Diese Vorstellung verursachte Lea Gänsehaut. Wie lange musste man jemanden beobachten, bis man solche Details kannte? Und dann die noch immer ungelöste Frage, wie der Kerl ins Haus gekommen war. Unheimlich war das. Zum Glück suchte sich der Täter nur freistehende Villen und Opfer im Rentenalter aus, da war sie wohl sicher vor ihm – ganz abgesehen davon, dass es bei ihr nichts zu holen gab außer ihrem Computer, ihrem Trainingssandsack oder dem Luxus-Mountainbike, das sie sich zu ihrem letzten Geburtstag gegönnt hatte.

Viermal hatte der Gentleman-Räuber bislang zugeschlagen, immer maskiert und mit vorgehaltener Waffe, immer hatte er Schmuck und Bargeld gestohlen, immer nach demselben Muster – aber noch nie hatte es einen Todesfall gegeben.

Lea hätte viel darum gegeben, wenn sie hätte schreiben können, welche Maske der Täter getragen hatte, aber davon war in den Presseberichten des Raubdezernats nie die Rede gewesen. Nun, auch ohne diese Zusatzinformation hatte sie das Titelblatt des Badischen Morgens gut füllen können. Vor allem auf die Fotos war sie stolz, und sie war schon gespannt, ob auch die Konkurrenz morgen bereits die mögliche Täterschaft des Gentleman-Räubers erwähnen würde.

Frau Campenhausen betrachtete ihr leeres Glas angewidert und stellte es energisch auf das Beistelltischchen neben der Couch. »Allerhand«, murmelte sie, »da werde ich auf meine alten Tage noch zur Trinkerin.«

»Aber nein, das ist nur der Schock«, beruhigte Lea sie und lachte in sich hinein, denn sie konnte sich ihre so auf Etikette bedachte Freundin partout nicht haltlos vorstellen, schon gar nicht betrunken.

Mienchen, Frau Campenhausens eigenwillige weiße Katze mit den schwarzen Pfoten, strich heran und machte einen Satz auf das Sofa, als wüsste sie, dass heute die Gelegenheit dazu war, ohne sofort wieder hinuntergescheucht zu werden. Im Gegenteil, ihr Frauchen griff sogar nach ihr wie vorhin nach dem Glas und hörte nicht mehr auf, sie an sich zu drücken und zu streicheln.

»Es ist alles meine Schuld«, jammerte sie dabei. »Wenn ich nicht diesen Tick mit den Gardinen gehabt hätte, wäre Natascha gestern Morgen zu ihr gegangen und sie würde noch leben.«

»Das wissen wir erst, wenn der Todeszeitpunkt feststeht.«

»Trotzdem. Ich hatte gleich so ein merkwürdiges Gefühl. Ach, wäre ich doch schon am Montag zu ihr gefahren! Vielleicht hätte ich den Halunken auf frischer Tat überrascht! Aber ich – ich bin ...«

Ein Träne rollte über ihre Wange, sie nestelte ein spitzenbesetztes Taschentuch heraus und betupfte damit ihre Augen.

»Erzählen Sie mir mehr über Ihre Freundin?«, bat Lea. »Polizei und Staatsanwaltschaft berufen sich auf laufende Ermittlungen und das Persönlichkeitsrecht des Opfers und geben nichts heraus.«

Frau Campenhausen holte zittrig Luft, nickte und setzte sich aufrecht hin, wobei Mienchen sich maunzend streckte und davonlief.

»Ingeborg ist ein Jahr jünger als ich«, begann sie, »wir sind zusammen in die Schule gegangen. Ihr und ihrem Mann haben in mehreren süddeutschen Badestädten kleine, exquisite Hotels gehört, die sie aber nach seinem Tod 1995 verkauft hat. So ist das, wenn der Nachwuchs sich nicht fürs elterliche Geschäft interessiert. Nur das hiesige Hotel ›Zum badischen Markgrafen‹ am Marktplatz oben, das hat sie behalten und verpachtet.«

»Wie viele Kinder hatten die beiden?«

Frau Campenhausen knetete ihr Taschentuch zwischen den Händen, als sei sie verlegen. »Ingeborg hatte einen Sohn, Alfons, der mit seinem Vater nie so richtig ausgekommen ist. Kein Wunder, Eugen war ziemlich – nun ja, sagen wir mal schrullig. Zum Schluss war er dement, und das war für Ingeborg bestimmt nicht leicht, auch wenn sie nie viele Worte darüber verloren hat. In den Jahren vor seinem Tod hat sie sich immer mehr abgekapselt. Es muss sehr schwer sein, jemanden, mit dem man früher auf Augenhöhe war, zu pflegen und Tag und Nacht für ihn da zu sein, wenn derjenige das gar nicht mehr richtig mitbekommt und weglaufen will oder das Badezimmer nicht mehr rechtzeitig findet oder nicht weiß, was er dort tun soll oder wenn er kindisch, aggressiv oder eifersüchtig oder unerträglich ungerecht wird.«

Frau Campenhausen schüttelte den Kopf, als wollte sie die traurige Geschichte schnell wieder loswerden. »Ingeborg hat auch später nie über diese Zeit gesprochen. Nun ja. 1995 war es dann ja vorbei, und seitdem hat sie diesen Heißhunger auf Süßes.«

Sie sah eine Weile auf ihre kleinen, leicht gebogenen Hände, ehe sie fortfuhr: »Das nur nebenbei. Wir waren bei Alfons, dem Sorgenkind. Er ist vor vier Jahren gestorben. Ingeborg sprach von einem Unfall, aber ich vermute, da waren Drogen im Spiel. Er lebte als eine Art Performance-Künstler in Berlin ohne großen Kontakt zu ihr und vor allem ohne beruflichen Ehrgeiz. Er hat mit der Hotelkette nie etwas zu tun haben wollen und sogar das Erbe seines Vaters ausgeschlagen und Ingeborg gleich mitgeteilt, dass er auch ihren Teil später nicht haben wolle. Ganz anders Thorben, sein Sohn, Ingeborgs Enkel.«

»Was ist er für ein Mensch?«

»Oh, er ist ein guter Junge. Er hängt sehr an seiner Großmutter, er war seit dem sechsten Lebensjahr regelmäßig in den Ferien hier in Baden-Baden und kümmert sich wirklich sehr nett um sie. Sie ist doch alles, was er hat. Seine Mutter hat er nie kennengelernt, die hat ihn und seinen Vater gleich nach der Geburt verlassen. Thorben ist ein Zahlenmensch, ein richtiges Finanzgenie. Er hat mir vor zwei Jahren die Verwaltung des Mietshauses und der anderen Immobilien abgenommen und mir sehr gute Anlagetipps gegeben. In der Wirtschaftskrise habe ich jedenfalls keinen Euro verloren, ganz im Gegenteil. Für sich selbst hat er allerdings kein so glückliches Händchen. Ich vermute stark, dass er heimlich spekuliert, und Ingeborg unterstützte das auch noch. ›Gib mit warmen Händen‹, hat sie immer gesagt, ach Gott, ach Gott ...«

Das Taschentuch wurde wieder an die Augen gedrückt, und für eine Weile musste Lea ihren Notizblock zur Seite legen und abwarten.

»Dieser Enkel«, begann sie nach einer Anstandsfrist. »Hat er einen Schlüssel zur Villa?«

»Natürlich hat er den, warum fragen Sie? – Ach, ich verstehe ... nein, nein, schlagen Sie sich das bitte aus dem Kopf, Kindchen. Für Thorben lege ich meine Hand ins Feuer. Er hat mit Ingeborgs Tod nichts zu tun. Er bekam doch sowieso alles, was er wollte: zum dreißigsten Geburtstag eine zweihundert Quadratmeter große Penthousewohnung an der Lichtentaler Allee, zum fünfunddreißigsten im letzten Herbst einen Porsche und erst jetzt wieder zehntausend Euro in b ...«

Frau Campenhausen stockte und schlug sich die Hand vor den Mund. »Das Geld! Der Umschlag! Haben Sie in der Villa einen Briefumschlag gesehen? Sie muss ihn beschriftet haben, mit Füller, das machte sie immer so.«

Lea überlegte. Nein, es war ihr nichts aufgefallen.

»Wann wollte der Enkel den Umschlag holen?«

»Am Montagnachmittag, aber er hat sie nicht angetroffen, das hat er mir gestern selbst gesagt, als ich ihn angerufen habe, um zu erfahren, warum Ingeborg nicht ans Telefon ging. Er hatte sich auch schon darüber gewundert und hätte gern selbst nachgesehen, aber sie hat ihm vor einem Jahr eine Szene gemacht, als er einfach ins Haus gekommen war, weil sie nicht aufgemacht hatte. Damals war er mal wieder unpünktlich gewesen, und sie hatte ihn deswegen als Bestrafung warten lassen wollen. Als er dann plötzlich vor ihr stand, ist sie so erschrocken, dass sie ihm strikt verboten hat, noch einmal ohne ihre ausdrückliche Einwilligung den Schlüssel zu benutzen. Oh Gott, er hält sich im Ausland auf und weiß noch gar nicht ... Jemand muss ihn informieren.«

Ihre Hand tastete zu ihrem Lieblingsspielzeug auf dem Beistelltisch, aber Lea bedeutete ihr, das Handy liegen zu lassen.

»Das wird schon die Polizei tun. Die hat sicherlich einige eindringliche Fragen an ihn.«

»Frau Weidenbach, Ihr Unterton gefällt mir nicht. Sie dürfen nicht schlecht von Thorben denken. Er hat seine Großmutter sehr geliebt. Er hat ihr ganz bestimmt nichts angetan. Glauben Sie mir das bitte.«

Das hätte Lea gern getan, doch sie konnte es nicht. Wozu brauchte der Mann bei all dem Luxus noch mehr Geld? Spielte er? War er verschwendungssüchtig? Was waren das für Anlagegeschäfte, von denen Frau Campenhausen gesprochen hatte? Eventuell ein betrügerisches Schneeballsystem, das immer größere Löcher riss, die er stopfen musste? Fest stand, dass er seine eigenen Finanzen nicht im Griff hatte. Und ausgerechnet jetzt, in einer offenkundigen Notlage, würde er ein riesiges Vermögen erben, weit mehr, als die warme Hand seiner Großmutter ihm je zu Lebzeiten hätte schenken können. Wenn das kein Mordmotiv war.

Baden-Badener Roulette

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