Читать книгу Mulaule - Rita Renate Schönig - Страница 17

Mittwoch / 17:05 Uhr

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Mit federnden Schritten rannte Kriminalkommissar Harald Weinert die Treppen hinunter in die Katakomben, wie die Asservatenkammer des Offenbacher Polizeipräsidiums scherzhaft genannt wurde, aber so rein gar nichts mit einer Gruft, im herkömmlichen Sinn, zu tun hatte.

Im Büro von Andreas Dillinger spendeten zwei große, bodentiefe Fenster reichlich Tageslicht und gaben den Blick auf einen gepflegten Rasen und Begrünung auf Büsche und Sträucher frei. In den hinteren Räumlichkeiten, die nur durch Neonlampen beleuchtet wurden und keine Fensterscheiben hatten, war es zweifellos weniger heimelig.

„Hallo Andy. Ich brauche deine Hilfe“, rief Harald Weinert, kaum, dass der Summer ertönte und er die Tür geöffnet hatte.

Der saß an seinem Schreibtisch, blickte auf und zwang sich ein Lächeln ab. „Womit kann ich den Bekämpfern der Kriminalität dienen?“

„Es geht um diesen Vermisstenfall.“ Harald legte ihm die Akte von Daniel Hagemann vor. „Woher wusstest du, dass der Vermisste der Sohn von unserem neuesten Opfer ist? Und warum so geheimnisvoll?“

„Wie ... eh, wie kommst du an die Akte?“

Harald runzelte die Stirn. „Na, die hast du uns doch untergejubelt.“

Andreas Dillinger schüttelte den Kopf.

„Nicht? Verstehe ich nicht.“

„Ich verstehe es noch weniger“, entgegnete Andy. „Ich habe nur festgestellt, dass die Akte verschwunden ist. Das war vor etwas mehr als einer Stunde. Seitdem durchsuche ich sämtliche Regale.“

„Verschwunden?“, wiederholte Harald. „Wie kann so etwas passieren und weshalb gerade diese Akte?“

„Das könnte tatsächlich mit eurem aktuellen Mordfall zu tun haben. Als ich vorhin kurz in der Cafeteria war, habe ich den Artikel über die bevorstehende Auszeichnung von Staatsanwalt Heinz Hagemann gelesen. Ich dachte noch so – guck an, auch nach seiner Pensionierung macht er Schlagzeilen. Dann ... ich weiß nicht wieso, kam mir blitzartig der Vermisstenfall Daniel Hagemann in Erinnerung. Du weißt, ich habe eine Art Elefantengedächtnis.“

Das konnte Harald nur bestätigen. Wann immer alte Unterlagen für einen aktuellen Fall benötigt wurden, brauchte Andy nur ein paar Anhaltspunkte, um die entsprechenden Beweisstücke in den Unmengen im Archiv zu finden.

„Wegen der Namensgleichung und aus lauter Neugier wollte ich einfach mal in die Akten sehen“, fuhr Andy fort. „Aber, als ich sie aus dem Regal holen wollte, wo sie ordnungsgemäß hätte sein sollen, war sie verschwunden; einfach weg.

Zuerst konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Dann erinnerte ich mich an einen seltsamen Vorfall, letzte Woche und hatte so eine Vermutung, der ich auf den Grund gehen wollte. Schließlich kann es mich den Job kosten, wenn Beweisstücke aus meinem Archiv abhandenkommen.“

„Du sprichst in Rätseln, mein Freund“, erwiderte Harald.

„Ich glaube, es war letzten Dienstag, da kam eine uniformierte Kollegin – ich hatte sie zuvor noch nie gesehen – mit einem Beschluss der Staatsanwaltschaft zur Akteneinsicht in einem Vergewaltigungsfall. Ich konnte aber die Akte nicht finden und dachte an einen Zahlendreher bei der Angabe des Aktenzeichens; kann ja mal vorkommen. Allerdings hatte ich eine ganze Weile in den hinteren Regalreihen gesucht und die Kollegin war in dieser Zeit alleine hier vorne. Verstehst du jetzt?“

Harald schüttelte den Kopf. „Nicht so richtig.“

„Harald! Es kann nur die Polizistin gewesen sein. Sie hat die Akte entwendet.“

„Wieso sollte sie das tun? Kann es nicht doch sein, dass du vielleicht, versehentlich, die ...?“

„Ich sagte dir doch, dass ich alles sehr gründlich abgesucht habe. Und, wenn ich gründlich sage, meine ich auch gründlich. Aber nichts.“ Andy streifte mit der Hand durch seine dichten dunkelbraunen Haare.

„Du führst doch aber Buch darüber, an wen du Unterlagen herausgibst. Dann müsste doch eine Unterschrift ...“

„Nur, wenn ich tatsächlich Akten aushändige. So aber ... habe ich keine Akte herausgegeben. Ich kann mich nur daran erinnern, dass die junge Frau sehr attraktiv war, etwa 25 Jahre, 1 Meter 70 groß und sie hatte lange braune Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden.“

„Zumindest hast du sie dir genau angesehen, wie mir scheint“, neckte Harald und entlockte Andy damit ein kleines Lächeln.

„Lara, nein Laura. Ja, Laura Simon. Ich bin mir sicher, das ist ihr Name; zumindest gab sie den mir gegenüber an.“

„Dann lass uns doch gleich mal in den Personalakten nachschauen.“

Andy schüttelte den Kopf. „Habe ich bereits versucht … keine Befugnis.“

„Ich aber“, entgegnete Harald und klopfte auf die Tastatur von Andys Computer ein.

„Eine Laura Simon ist in den Personalakten nicht geführt“, lautete Sekunden später seine ernüchternde Auskunft.

„Das gibt es doch nicht. Ich bin mir ganz sicher, dass Laura Simon auf dem Schreiben stand“, beharrte Andy.

„Dann ist der Name vermutlich ebenso falsch, wie das Formular zur Aushändigung der Akte“, stellte Harald sachlich fest.

„Wie konnte mir das nur passieren? Ich werde den Vorfall sofort melden.“

„Warum? Die Akte ist doch wieder da und keiner, außer uns beiden, weiß etwas davon. Oder hast du mit noch jemandem darüber gesprochen?“

Andy verneinte.

„Dann schlage ich vor, wir behalten das erst einmal für uns. Nur Nicole sollten wir, bei Gelegenheit, einweihen. Schon deshalb, weil sich jemand ja wohl auch unbefugt in unseren Büros rumgetrieben hat. Aber das hat noch Zeit.

Momentan ist sie mit Lars unterwegs zur Ehefrau unseres Opfers. Ach ja, das sollte ich dir mitteilen: Sie bleibt dann auch gleich in Seligenstadt und erwartet dich zum Abendessen.“

Harald Weinert schaute auf die große Bahnhofsuhr an der seitlichen Wand. „Bis dahin haben wir noch genügend Zeit zum eigentlichen Grund meines Hierseins zu kommen. Ich muss mich durch Hagemanns Arbeitsleben, als auch durch sein Privatleben wühlen und könnte dabei deine Hilfe gebrauchen, falls du etwas Zeit hast.“

„Ja, schon. Aber ist das Nicole recht?“

„Unser Boss hat sogar vorgeschlagen, dich einzubeziehen.“ Haralds Grinsen war das eines kleinen Jungen, der einem Erwachsenen etwas abgeluchst hatte, das er eigentlich nicht bekommen sollte.

„Aber lass uns dazu nach oben gehen. In unserem Büro stehen uns mehr als ein Computer zur Verfügung; ist effektiver und das Büro sieht nicht so verwaist aus und …“

„Ist ja gut“, beendete Andy Haralds schon beinahe verzweifelten Versuch, der Unterwelt zu entkommen.

„In erster Linie interessiert uns, welche schweren Jungs Hagemann während seiner Karriere hinter Gitter gebracht hat und die nun wieder auf freiem Fuße wandeln und sich womöglich rächen wollen. Sein privates Umfeld sollten wir auch nicht außer Acht lassen. Ebenso die früheren Kollegen; sei es in seiner Zeit in Seligenstadt, als auch am Landgericht Darmstadt.“

Harald wies Andy den Arbeitsplatz von Lars zu.

„Unser Kleiner konnte schon Einiges über Hagemann recherchieren. Die Ausdrücke liegen hier.“

Andy überflog den Text, während Harald sich erneut der Vermisstenakte von Daniel Hagemann widmete.

„Karate! Kaum zu glauben, wenn man das zarte Gesicht sieht. Er hat so etwas feminines an sich.“

Harald hielt Andy die Seite mit dem Foto des damals 17-Jährigen entgegen. „Kann es nicht doch eine Entführung mit anschließendem Mord gewesen sein?“

„Auch wenn der Junge nicht so aussieht. Karate ist ein Kampfsport, den er, schau, hier steht es“, Andys Zeigefinger ging zu der Zeile in dem Protokoll, „schon mehr als drei Jahre ausführte. Glaube mir, der hätte sich bestimmt gewehrt.

Mich macht aber etwas ganz anderes stutzig. Laut Daniels Lehrern und auch nach Aussage seiner Mutter, Maria Hagemann, waren Daniel und sein Freund, ein gewisser Oliver Krug, die besten Freunde. Würdest du“, wandte Andy sich an Harald, „nicht deinem besten Freund erzählen, wenn du von zuhause weglaufen willst und vor allem warum?“

„Glaube schon“, stimmte er ihm zu.

„Seine Mutter sagte aus, dass keinerlei Kleidungsstücke in Daniels Schrank fehlten. Auch hätte er, in der Schule, nie Geld bei sich gehabt und an sein Sparbuch wäre er nicht herangekommen. Das, so stellte die Polizei damals auch fest, gut verwahrt im Tresor seines Vaters lag. Ich meine … die Jungs waren in einem Alter, in dem man doch schon darüber nachdenkt, wie man ohne Geld auskommen soll.“

„Sollte man annehmen“, pflichtete Harald ebenfalls bei. „Wenn ich dich richtig verstehe, willst du damit andeuten, dass die beiden diesen Schritt zusammen geplant haben?“

Statt einer Antwort senkte Andy erneut seinen Kopf in die Unterlagen. „Laut seinen Lehrern ist Daniel pünktlich in der Schule angekommen und verließ diese auch wieder mit seinem Freund, Oliver Krug. Anschließend, so Oliver Aussage, wollte Daniel zur Karatestunde.“

„Er hätte also mehr als eine oder eineinhalb Stunden Zeit gehabt zu verschwinden ohne, dass jemand etwas bemerkt hätte“, spann Harald den Faden weiter.

„Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann ist, dass Heinz Hagemann nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um seinen Sohn zu finden. Ich meine …“

„Mit dieser Eingebung bist du nicht alleine“, unterbrach ihn Harald. „Lars warf den Gedanken auch schon in den Raum.“

„Ich meine“, fuhr Andy fort, „wenn ich mir vorstelle, dass mein Sohn, wenn ich einen hätte ...“

„Was nicht ist, kann ja noch werden“, wurde er von Harald erneut unterbrochen.

„Glaube ich kaum. Also, wenn mein Kind von einem auf den anderen Tag verschwinden würde, dann würde ich doch alle mir zur Verfügung stehenden Mitteln nutzen um die Suche voranzutreiben. Als Staatsanwalt hatte Hagemann doch mehr Möglichkeiten als ein Normalbürger. Aber die Suche wurde, nach nur wenigen Wochen eingestellt und wie es aussieht, ohne Widerspruch von Seiten der Hagemanns. Ich sage dir, in dieser Familie lief etwas absolut nicht rund.“

Der schiefe Blick von Andy, erinnerte ihn stark an Nicoles Miene, wenn sie so ein Bauchgefühl hatte.

„Wenn du so guckst, erinnerst du mich an Nicole“, sagte Harald dann auch prompt. „Ihr werdet euch immer ähnlicher.“

„Schön“, erwiderte Andy. „Dann stimmt es was der Volksmund sagt; dass bei einer guten Partnerschaft manche Eigenheiten auf den jeweils anderen abfärben.“

„So, sagt das der Volksmund?“ Haralds Mundwinkel zuckten. „Aber, ich denke du hast recht. Es könnte sein, dass Oliver seinem Freund geholfen hat und vielleicht Kleidung, Geld, et cetera irgendwo deponiert hatte.“

Mulaule

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