Читать книгу Mulaule - Rita Renate Schönig - Страница 9

Mittwoch / 10:35 Uhr

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Zu Mittag sollte es Schnüsch geben, nach dem Rezept von Helenes Großmutter. Ein Stück geräucherter Speck köchelte bereits in verlässlicher Harmonie mit Lauch und Möhren, in einem Gemisch von Milch und Wasser, in einem Topf. Jetzt schälte sie die Kartoffeln.

Eigentlich galt Schnüsch in Norddeutschland als ein sommerlicher Gemüseeintopf. Aber bei ihr kam das Gericht auch schon mal im Herbst oder sogar im Winter auf den Tisch, dann natürlich mit Gemüse aus dem Tiefkühlfach.

Nicole und Andy waren ebenfalls nie abgeneigt, einen ordentlichen Rest des Eintopfs abends auf der Terrasse vorzufinden; wussten sie doch, dass das Gemüse, jedenfalls im Sommer, aus Herberts Garten kam und deshalb aus rein biologischem Anbau.

Seit er letztes Jahr den beiden, für eine geringe Miete, sein Haus überlassen hatte, kümmerte sich Andy auch um den Gemüsegarten. Somit war für Herbert, gerade in den warmen Monaten, nicht gezwungen täglich mit der Gießkanne bewaffnet nach dem Rechten zu sehen.

Nicole hatte eher weniger mit der Gartenarbeit am Hut. Sie genoss lieber bei einem Glas Rotwein die Sonne auf der Terrasse oder lag im angrenzenden Zengarten.

Sie nannte es: Mit Genuss die innere Mitte finden und war damit ganz bei Herbert, der den Garten vor einigen Jahren, nachdem er von seiner Weltreise zurückgekehrt war, angelegt hatte. Die kleine Oase der Ruhe diente außerdem zu Übungsstunden in Thai Chi oder Yoga, unter seiner fachkundigen Leitung.

Auch Elfi, die Tochter von Josef Richter, nahm oft daran teil. Nicht zuletzt deshalb, weil sie Kraft tanken musste und eine Auszeit brauchte von ihrem betagten, zwar noch rüstigen, aber manchmal anstrengendem Vater, den alle nur Sepp nannten.

Während Helene die Kartoffeln in den Topf legte, gingen ihre Gedanken auf Reisen.

Vor zwei Jahren hätte sie nicht geahnt, dass ihr Leben noch einmal derart ereignisreich und glücklich werden könnte.

Nach dem Tod ihres Ehemanns, eines Polizeibeamten, vor jetzt mehr als 10 Jahren, fühlte sie sich in ihrem Haus ein wenig einsam und beschloss, die oberen Räume zu vermieten. Allerdings wollte sie eine Mieterin, mit der sie sich auch privat verstehen würde, und dachte dabei eher an eine Dame in ihrer Altersgruppe. Doch kaum, dass sie eine Anzeige in die Zeitung gesetzt hatte, meldete sich eine junge Frau, etwa um die 30 Jahre, die ihr sofort sympathisch gewesen war. Als sich dann noch herausstellte, dass es sich um eine Kriminalbeamtin handelte, gab es für Helene keine Zweifel mehr. Sie erfasste es als einen Wink des Schicksals oder sogar wie ein Zeichen von Friedel selbst, der, davon war sie felsenfest überzeugt, wo immer er auch war, auf sie aufpasste.

In den folgenden Jahren entwickelte sich zwischen den beiden Frauen eine innige Verbundenheit – ähnlich einer Mutter-Tochter-Beziehung. Hinzu kam, dass Helene leidenschaftlich gerne Krimis las, und schaute und für sich selbst versuchte, den Täter zu ermitteln.

Freilich sollte Nicole Wegener, von Amts wegen, nicht über ihre Arbeit in einem Mordfall reden. Dennoch fiel die eine oder andere Bemerkung, bei einem köstlichen Abendessen, mit dem Helene fast immer auf sie wartete, oder bei einem Glas Rotwein oder auch einem Whisky. In den meisten Fällen erwies sich ein solcher Gedankenaustausch als fruchtbar und förderte bei Nicole die entsprechende Intuition zur Lösung ihrer aktuellen Ermittlungen.

Und dann trat Herbert Walter in Helenes Leben. Zwar kannten sie sich seit Jahrzehnten, doch wäre keiner von ihnen auf den Gedanken gekommen, dass sie in ihrer zweiten Lebensphase ein Paar würden. Es stellte sich heraus, dass er die gleiche Neugier an den Tag legte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und ebenso gehörte Nervenkitzel zu seinem zweiten Vornamen. Zudem besaß er enorme Kenntnisse im Computer-Bereich und war immer auf dem neuesten Stand, wenn es um Technik und Elektronik ging.

Als die seit Jahrzehnten vergrabenen Leichen auf dem Grundstück gegenüber seinem Haus der Polizei Rätsel aufgaben, konnten sie beide mithelfen, die Tötungsumstände zu klären.

Das Klingeln des Telefons riss Helene aus ihren Träumereien.

Hoffentlich keine schlimmen Nachrichten, bahnte sich der Gedanke seinen Weg durch ihren Kopf, wie stets, wenn Herbert mit dem Auto alleine unterwegs war. Ihrer Meinung nach fuhr er zu schnell; nach seinem Empfinden – die anderen zu langsam. Noch mehr Sorgen machte sie sich, wenn Sepp auf dem Beifahrersitz saß.

Der mittlerweile 92-jährige Josef Richter – von jedem nur Sepp genannt – hatte sich bei einem Sturz auf der Terrasse eine starke Verstauchung im Ellenbogen zugezogen und ein Haarriss im unteren Rückenbereich. Nun musste er regelmäßig zur Bewegungstherapie. Bedeutete: Wassergymnastik im Krankenhaus. Natürlich passte ihm das überhaupt nicht in den Kram. Schon deshalb nicht, weil seine Tochter Elfi unnötigerweise eine neue Badehose gekauft hatte, obwohl es die alte, die in der hintersten Ecke im Schrank vergraben lag, auch noch getan hätte. Er hatte sie doch nur einen Sommer lang getragen, als das Freischwimmbad 1965 eröffnet worden war. Danach hatte er die Badeanstalt nie wieder betreten. Es war ihm dort zu laut, die Sonne zu heiß und das Wasser zu nass.

Während der 10-minütigen Fahrt zu seinem ersten Termin war er deshalb ständig nur am Meckern und Elfi am Ende ihre Kräfte. Also sprang Herbert ein und kutschierte seinen nervtötenden Nachbarn zur Therapie.

Helene trocknete ihre Hände an einem Stück Küchenpapier ab und eilte in den Flur zum Telefon. Entgegen der Annahme, es wäre ihr Herbert, zeigte das Display die Festnetznummer von Bettina und Ferdinand Roth.

Seit dem Mord an der Klostermühle im letzten Jahr und den damit zusammenhängenden unschönen Verwicklungen, waren sich die beiden Paare nähergekommen. Sie gingen öfter zusammen essen oder unternahmen Tagestouren in die nähere Umgebung. Auch hatten sie im Herbst zu viert einen angenehmen Kurzurlaub an der Mosel verbracht.

Bei dem Aufenthalt in einem 4-Sterne-Hotel handelte es sich eigentlich um ein Geburtstagsgeschenk von Herbert an Helene. Schon lange lag sie ihm damit in den Ohren, stieß aber stets auf Taubheit derselben.

Mit fremden, schwitzenden Menschen Backe an Backe auf engstem Raum zu sitzen, ist einfach nur widerlich, betonte er seine Abscheu zum Thema Wellnesshotel.

Umso erstaunter war sie, als am Morgen ihres 73-zigsten Geburtstags ein Gutschein für einen 3-tägigen Aufenthalt in einem Wellness-Hotel auf dem liebevoll gedeckten Frühstückstisch lag und freute sich sehr. Noch mehr, als Bettina und Ferdinand sich spontan anschlossen. Erst später erfuhr sie, dass Herbert zuvor mit den beiden ein Abkommen getroffen hatte.

Die Damen sollten saunieren, während die Herren es sich bei einem Bierchen im angrenzenden Bistrobereich gut gehen ließen. Damit hatte er elegant die Kurve gekriegt, was die Saunagänge betraf.

„Hallo, Bettina?“, rief Helene fröhlich in den Hörer.

„Helene! Hier ist der Ferdi. Kann ich mal mit Herbert sprechen?“

„Herbert ist nicht da. Er fährt den Sepp zur Krankengymnastik.“ Sofort alarmiert, aufgrund von Ferdinands Tonlage, fragte sie: „Ist irgendetwas mit Bettina?“

„Nein, nein. Bettina geht es gut. Mach dir keine Sorgen.“ Einen Augenblick später: „Ich habe eine Leiche gefunden.“

„Eine Leiche?“ Helene setzte sich auf die Garderobenbank. Nach einem tiefen Atemzug fragte sie: „Wo?“

„Unten an der Mulaule.“

In diesem Moment hörte sie den Schlüssel in der Haustür. „Ich glaube, er kommt gerade zurück.

Ferdi ist dran“, wandte sie sich Herbert zu. „Er hat eine Leiche gefunden, unter an der Mulaule.“

„Was? Net dein Ernst?“

Sie reichte den Hörer weiter.

„Ferdi, was ist los?“

In den nächsten Minuten hörte Helene ein: Aha! ... Wirklich? ... Bist du dir sicher? Ach, die Polizei weiß auch schon Bescheid? ... Na klar, wir komme nach em Mittagesse.“

Nachdenklich legte Herbert das Telefon zurück auf die Station und sagte: „Der Ferdi hat an der Mulaule e Leiche gefunde. Wir solle nach em Mittagesse mal zu dene komme.“

In diesem Moment klingelte es erneut.

Mit Blick auf das Display stöhnte er. „Die kann ich jetzt net auch noch ertrage.“

Er drückte Helene den Hörer in die Hand.

„Habt ihr schon gehört“, zwitscherte Gundel durch die Leitung. „Der Ferdinand hat eine Leiche bei der Mulaule gefunden. Ich habe ihm gleich geraten, euch davon zu unterrichten.“

„Ich kann mir vorstellen, dass die Polizei bestimmt mehr daran interessiert ist“, entgegnete Helene.

„Dort war er doch schon. Ich kam gerade aus der Bäckerei gegenüber, weil ich heute Morgen mal Appetit auf frische Brötchen hatte. Ansonsten esse ich morgens ja nur Vollkornbrot; ist ja viel gesünder.“

Nur einen Sekundenbruchteil wartete Gundel auf Zustimmung, dann plapperte sie weiter: „Auf jeden Fall habe ihn aus der Polizeistation kommen gesehen, mit seiner Lizzy auf dem Arm. Die hat er sogar die Treppe runtergetragen. Die Ärmste hat es bestimmt im Kreuz.“

Als auch hierzu keine Reaktion von Helene erfolgte, fuhr sie fort: „Der Ferdinand kam dann auch zur Bäckerei rüber. Ich habe ihn natürlich gleich gefragt, was er so früh bei der Polizei zu suchen hatte.“

„Natürlich“, unterbrach Helene Gundels Redefluss und brachte sie damit kurzfristig aus dem Konzept.

„Eh, ja. Hätte ja sein können, dass bei denen wieder mal eingebrochen wurde oder die Bettina überfallen worden ist.“

„Kommt bei dene auch ständig vor“, murmelte Herbert. Trotzdem er nicht mit Gundel reden wollte, war er doch neugierig und hing dicht am Hörer.

„Was?“

„Nichts“, erwiderte Helene.

„Eh, ja. Was ich eigentlich fragen wollte. Was unternehmen wir jetzt? Ich meine, der Ferdinand wurde doch schon einmal von der Polizei verdächtigt …“

Helene und Herbert hörten Gundel heftig atmen.

„Es ist aber auch schon merkwürdig, dass der ständig Tote findet, meint ihr nicht auch?“

„Von ständig kann ja wohl net die Rede sein“, sprach jetzt Herbert direkt in den Hörer. „Außerdem, wenn einer eine Leiche findet heißt des noch lang net, dass es um ein Verbrechen geht. Kann ja auch en ganz simple Herzinfarkt sein.“

Gundel nickte. „Ja, möglich. Auf jeden Fall werde ich Sepp und Schorsch berichten.“

„Beeil dich aber“, erwiderte Herbert, „bevor die es aus der Zeitung erfahrn.“

„Der Ferdi sagte nicht, dass schon ein Reporter dort gewesen ist“, antwortete Gundel nachdenklich. „Aber ja, du hast recht. Ich muss mich beeilen.“

Gundula Krämer legte auf.

„Wette, dass des heut nix wird, mit de Frühstücksbrötchen bei der Gundel?“ Herbert grinste.

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