Читать книгу Mulaule - Rita Renate Schönig - Страница 8
Mittwoch / 10:20 Uhr
ОглавлениеDas große Haus hatte es möglich gemacht, dass sie zwischen zwei Räumen wählen konnte. Sie entschied sich für das Zimmer, von dem aus sie den Blick in den Garten hatte.
Nun schaute sie aus dem Fenster auf den von der Hitze des Sommers gezeichneten, nicht mehr ganz grünen Rasen und auf das schon herbstlich gefärbte Laub der Bäume.
Auf den Tag genau, vor einem Jahr, war die 63-Jährige aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgezogen, was bei ihrem Ehemann auf Unverständnis stieß und letztlich in einem groben Wortgefecht, vonseiten ihres Gatten, endete.
Sie hätte wohl nicht mehr alle Sinne beisammen, schnaubte er wutentbrannt und drohte, sie aus dem Haus zu werfen, und zwar mittellos, sollte sie nicht zur Vernunft kommen.
Maria Hagemann verstand nicht wieso er, sogar in den eigenen vier Wänden, darauf bestand diese Farce aufrechtzuerhalten. Ebenso wenig konnte sie ergründen, woher sie plötzlich den Mut genommen hatte, ihm ins Gesicht zu schleudern, wenn er sie rauswerfen würde, sie allen erzählen würde, weshalb Daniel wirklich von zu Hause weggelaufen war.
Im ersten Moment war der Staatsanwalt a.D. sichtlich erschrocken. Noch niemals zuvor hatte es irgendwer gewagt, ihm zu drohen. Am wenigsten hätte er dies von seiner, bis dato gehorsamen, Ehefrau erwartet.
Mit einem hässlichen, aber unsicherem Lachen verließ er danach das Haus. Natürlich in dem unerschütterlichen Glauben, dass Maria bei seiner Rückkehr zur Besinnung gekommen sein würde.
Nur blieb sie diesmal stur, wie ihr Ehemann erkennen sollte. Genauso wie er sich, seit diesem Tag, mit der Tatsache abfinden musste, dass seine Ehefrau sich weigerte, weiterhin an Veranstaltungen teilzunehmen, an deren Organisation er maßgeblich beteiligt war, oder dessen Vorsitz er ehrenamtlich innehatte. Wodurch sich Heinz Hagemann gezwungen sah, die Abwesenheit seiner Frau immer wieder durch neue Ausreden entschuldigen zu müssen.
Nach 40 Jahren Ehe, in denen Maria sich stets seinen Wünschen untergeordnet hatte, ohne zu widersprechen, brach für ihn eine Welt zusammen.
Eine Ehefrau hatte ihrem Ehemann Folge zu leisten! So war es schon bei seinen Eltern, bei ihren ebenso und den Generationen davor. Die zwangsläufig enge Verbindung zur Kirche, mit ihren christlichen Dogmen, denen sie beide ebenfalls von Haus aus anhingen, tat das Restliche dazu.
Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass Maria Hagemann, nachdem ihr einziger Sohn, von zu Hause weggelaufen war, ihr Heil und ihre Kraft in Gebeten und dem fast täglichen Kirchgang suchte.
Anfangs hatte sie die Hoffnung, wenn sie nur intensiv genug zu Gott dem Herrn betete, würde ihr Sohn bestimmt wieder heimkehren. Aber ihre Gebete wurden nicht erhört und ihr Ehemann tat sein Möglichstes, Salz in ihre Wunden zu streuen.
Du hast ihn verweichlicht, zu einer Memme verzogen, sonst hätte er das niemals getan, so seine, sich beinahe täglich wiederholende Anklage, die nur darauf zielte, seine eigene Fehlerhaftigkeit zu verbergen. Dabei wusste Maria seit Jahrzehnten von seinem Geheimnis. Sie sprach nur nie darüber – verdrängte es und ertrug ihr Schicksal. Was blieb ihr anderes übrig.
Nach wie vor kochte sie, hielt das große Haus sauber, in dem sie sich nie richtig wohl gefühlt hatte und versorgte den Garten – ihre einzige Freude.
Maria Hagemanns Umdenken und somit auch ihr Widerstand gegen ihren Ehemann begann an dem Morgen, an dem sie, nach mehr als 19 Jahren, einen Brief von ihrem Sohn in den Händen hielt. Sie konnte es kaum glauben und dennoch hatte sie es in ihrem Inneren immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.
Entgegen allen Äußerungen aus ihrem Umfeld – ihr Sohn wäre vermutlich nicht mehr am Leben, womöglich sogar Opfer eines Triebtäters geworden – hatte sie nie wirklich daran gezweifelt, dass Daniel sich eines Tages wieder bei ihr melden würde.
In krakeligen Buchstaben entschuldigte er sich dafür, sich in all den Jahren nicht gemeldet zu haben. Oft hätte er Anlauf genommen, aber in letzter Minute der Mut verlassen. Jetzt hätte eine Entscheidung getroffen, die sein kommendes Leben beeinflussen würde. Eine nähere Erklärung würde er ihr gerne persönlich mitteilen, wozu er noch etwas Zeit benötigte.
Nachfolgend schilderte Daniel sein Lebensweg, seit dem Zeitpunkt, als er mit 17 Jahren von zu Hause weggegangen war.
Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen – ein kleines Zimmer, bei einem netten Ehepaar in Frankfurt. Später – eine Lehre als Schreiner, dann Prüfung zum Meister – Umzug nach Mainz, wo er seit mehr als 10 Jahren in einer glücklichen Beziehung sei und in einem Architektenbüro arbeite.
Maria fühlte Erleichterung und Stolz, dass Daniel es trotz der widrigen Umstände geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Gleichzeitig beschlich sie Furcht. Was war in den letzten Monaten passiert? Welche Entscheidung meinte ihr Sohn und weshalb suchte er gerade jetzt den Kontakt zu ihr? Sollte er vielleicht schwer krank sein, möglicherweise Krebs haben, eine Knochenmarkspende benötigen oder brauchte er eine Organspende?
Sie malte sich die schlimmsten Dinge aus. Ihr Herz schien zerspringen zu wollen und ihre Augen brannten. Aber, da kamen keine Tränen, die ihre jahrelangen Qualen hätten mildern können. Dagegen verspürte sie eine niemals gekannte und nicht für möglich gehaltene Wut auf ihren Ehemann, der nie würde erfahren dürfen, dass Daniel Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und ab jetzt, wie er ihr mitteilte, regelmäßig schreiben wollte.
Noch in der gleichen Stunde eröffnete Maria Hagemann ein Postschließfach auf ihren Namen und teilte Daniel die Daten mit. Seit jenem Tag fuhr sie jeden Dienstagmorgen mit ihrem Fahrrad zum Postamt, und nie wurde sie enttäuscht.
In freudiger Erwartung auf Neuigkeiten öffnete sie auch an diesem Morgen die Nachricht von ihrem Sohn. Dabei fiel ein weiterer Brief heraus, adressiert an ihren Ehemann. Verwundert legte Maria diesen zuerst einmal auf den Beistelltisch und widmete sich, denen für sie bestimmte Zeilen.
Sie erschrak.
Daniel schrieb, dass ihm der Bericht über die bevorstehende Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an seinen Vater in die Hände gespielt worden war; von wem wüsste er nicht.
Wie kann so etwas möglich sein??
Die doppelten Fragezeichen und der zusätzlich unterstrichene Satz führten Maria klar vor Augen, wie entsetzt ihr Sohn war.
Sollte sein Vater nicht selbst die Initiative ergreifen und dieser schändlichen Farce ein Ende bereiten, so teilte Daniel mit, würde er nicht mehr länger schweigen. Alle Welt würde erfahren, welch ein Mensch Heinz Hagemann wirklich ist.
Maria ließ die Blätter in ihren Schoß sinken.
Hatte sie schon wieder einen Fehler gemacht, indem sie Daniel verschwieg, dass diese Verleihung bevorstand? Sie wollte ihn doch nur schützen. Im gleichen Moment fragte sie sich, wer ihrem Sohn diesen Zeitungsartikel zugespielt haben könnte.
Alle seine Schulfreunde – insbesondere Oliver Krug – sein damals bester Freund, hatten den Kontakt schnell abgebrochen, ebenso dessen Eltern, nachdem Daniel verschwunden war,
Maria bemerkte diese misstrauische Distanz jeden Samstag, wenn sie zum Markt unterwegs war und die Krugs sowie auch andere Eltern ehemaliger Klassenkameraden ihr über den Weg liefen, oder eher aus dem Weg gingen.
Anfangs schmerzte es sehr, dass sie nicht ein tröstliches Wort von den Leuten, gerade von den Krugs, zu hören bekam. Andererseits konnte sie es ihnen nicht verübeln. Olivers Eltern machten Heinz Hagemann für den Absturz ihres Sohnes in die Kriminalität verantwortlich; was vielleicht auch teilweise stimmte.
Im Alter von 16 Jahren wurde Oliver in einem Musikgeschäft ertappt, als er einige Tonbandkassetten stehlen wollte. Richter Friedhelm Hanke, ein ehemaliger Unteroffizier, folgte wie fast immer, dem Antrag seines Staatsanwalts, Heinz Hagemann und verurteilte den Jungen zu einer 3-monatigen Jugendstrafe, aus der er traumatisiert zurückkam.
Über das, was damals in diesem Jugendgefängnis passiert war, schwieg Oliver eisern, wurde aber immer wieder straffällig und wegen Einbruch und Diebstahl festgenommen. Vor einigen Jahren sogar aufgrund der Vergewaltigung an einer jungen Frau.
Wohl wissend, dass es Ärger bedeutete, öffnete Maria nun auch den Brief, der an ihren Mann adressiert war.
Schon die Anrede: – An Herr Hagemann – nicht Heinz Hagemann oder gar Vater, verriet Daniels ungeheuren Groll.
Wenn du dachtest, ich wäre gänzlich aus deinem Leben verschwunden an jenem Tag vor genau 20 Jahren, muss ich dich enttäuschen, erneut! Ich lebe und es geht mir gut. Allerdings vermute ich, es interessiert dich nicht und es ist auch nicht der Grund weshalb ich dir, nach all der Zeit, schreibe.
Aber, stopp! Bevor du jetzt das Blatt aus lauter Wut zerreißt, solltest du doch lesen, was ich dir zu sagen habe, denn dein weiteres, so „hochanständiges“ Leben könnte davon abhängen.
Ich wurde davon unterrichtet, dass dir das Bundesverdienstkreuz verliehen werden soll, für besondere aufopferungsvolle ehrenamtliche Tätigkeit zum Wohle deiner Mitmenschen.
Ich dachte, es verschlägt mir die Sprache!
Wer kommt denn auf eine solche Idee, fragte ich mich. Doch dann erinnerte ich mich wieder daran, wie sehr du schon immer Leute beeinflussen konntest. Wie man sieht, hast du nichts verlernt, aber auch nichts dazugelernt.
Ich gebe dir einen guten Rat: Nimm diese Auszeichnung nicht an, oder du wirst es bereuen!
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
PS. Du hast Nietzsche oft zitiert, dich aber nie an seinen Weisheiten orientiert.
Daniel.
Es ist leichter, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr maßzuhalten.
Nachdem Maria Hagemann die Zeilen erneut gelesen hatte, ging sie nach unten in die Küche und legte den Brief auf den Tisch, neben den Frühstücksteller ihres Ehemanns.
Kurzfristig wunderte sie sich, dass er noch immer nicht aufgestanden war, verschwendete aber keinen weiteren Gedanken darüber und öffnete die Terrassentür zum Garten.
Das Laub auf dem Rasen musste weg.