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Erstes Kapitel.

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Es ist das eigene, wunderbare Heraustreten aus sich selbst, das die Anschauung des eigenen Ich vom andern Standpunkt gestattet, welches dann als ein sich dem höheren Willen genügendes Mittel erscheint, dem Zweck zu dienen, den er sich als den höchsten, im Leben zu erringenden gesetzt hat. Gibt es etwas Höheres, als das Leben im Leben zu beherrschen, als seine Erscheinungen, seine reichen Genüsse wie einen mächtigen Zauber zu bannen, nach der Willkür, die dem Herrscher verstattet?

E. T. A. Hoffmann

Elixiere des Teufels.

Er kam — wer konnte sagen woher?

Von Sibirien, heisst es. Aber das erscheint nebensächlich.

Er hatte einen breiten Bauernkopf mit den typischen Backenknochen der Slaven. Sein dichtes Haar war beinahe blauschwarz und in der Mitte gescheitelt. So fiel es in zwei Flügeln über die Stirne, die merkwürdig hoch und gewölbt war.

Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Ein asketischer Glanz war ihnen eigen. Vielleicht war es das Licht, das in dieser merkwürdigen Seele brannte und ursprünglich heiligen Gedanken geleuchtet hatte. Diese Augen waren überschattet von starken, vorspringenden Brauen. Die Knochen des Schädels verrieten auch unter diesen Wulsten ihre Eckigkeit und Derbheit. Die Nase war nicht unedel, endete aber in leidenschaftliche Nüstern, von denen breite Rinnsale herabkrochen, die überstandene Leidenschaften bezeugten.

Der Mund war sinnlich, von einem mongolischen Barte überdeckt, der das trotzige Kinn frei liess und in dicken Spitzen in den Backenbart floss, der die Brust verbarg, eine hochgewölbte Brust, die machtvolle Schultern trug.

Er hatte einen zögernden Gang, in dem sich das Lauern der nie ruhenden Gedanken und Erwägungen kundtat.

So trat er an jenem Sommerabend bei dem Schuster Nikolai Issup ein, der am kleinen Prospekt ein Lädchen hatte. Im Vorderraum verkaufte er Schuhe und im Hinterraum betrieb er sein Handwerk.

Eben läuteten die Glocken der Kathedrale Maria Verkündigung.

Nikolai Issup erhob sich, als er die Türe des Ladens gehen hörte. Doch schon trat der Fremde in das Hinterzimmer. Der Schuster starrte ihn verwirrt an. Gewiss war der Fremde keine ungewöhnliche Erscheinung in diesem Lande und in diesem Viertel der seltsamen Physiognomien, wo der revolutionäre Geist kosmopolitische Gestalten zusammenpeitscht. Aber das Auge dieses Mannes ruhte mit einem gebietenden Ausdruck auf dem Schuster.

„Sie haben ein Zimmer frei“, sagte der Fremde.

„Ganz recht“.

„Hat es Aussicht auf die kleine Newa?“

„Ja, aber . . .“

Der Fremde setzte sich und musterte den Schuster. Dieser gab sich einen Ruck und reichte ihm die schwielige Hand.

Auch er war ein starknackiger Bauernsohn mit angegrautem Haar.

„Sie wollen hier wohnen?“

„Ja. Wollen Sie mir sagen, welche Einwendung Sie eben unterdrückten?“

„Sei nicht ungehalten, Bruder! Man muss so vorsichtig sein. Es gibt so viele Leute, die allerhand verfängliche Fragen stellen, sich einnisten, spionieren, die Harmlosesten in ihr Spinngewebe von politischen Erwägungen verstricken und verwickeln, bis der dumme Teufel von Muschik sich dem Judas an den Hals wirft und ihm seine Kümmernisse aus plaudert. Daraus wird ein Komplott, und der arme Kerl wird eines Tages nach dem Polizeibüro und nach der Festung geholt und wegen revolutionärer Propaganda angeklagt. Was das heisst, Bruder — —“ der Sprecher seufzte tief auf und warf einen Blick nach dem Laden, als wollte er sich vergewissern, dass kein unberufener Zeuge lauschte — „was das heisst, wissen wir: Kerker, Sibirien — oh, oh, Sibirien!“

Der Fremde lächelte, sein Gesicht bekam einen gutmütigen Ausdruck.

„Sibirien ist schön; Sibirien ist ein fruchtbares Land, dessen Brüste schwellen und das in melodischem Rhythmus stille, süsse Lieder der Freude atmet.“

„Du kommst aus Sibirien?“

Der Fremde schien die Frage zu überhören. Er fuhr fort:

„Wie gesagt, ich möchte von meinem Zimmer gerne auf die kleine Newa blicken. Ich möchte nachts die Lichter von Petersburg leuchten sehen. Ich habe Sehnsucht nach Petersburg. Und ich hoffe, ja ich bin sicher . . .“

Er vollendete den Satz nicht. Ein junges Mädchen trat leichtfüssig in die Werkstatt. Sie hatte — o Wunder — goldenes Haar. Das warf seine hellen Lichter noch in die dunklen Augen, die scheu den Fremden streiften.

Der Schuster nahm sie bei der Hand, küsste sie und sagte:

„Akulina, meine Nichte.“

Der Fremde erhob sich. In dem Augenblick schien er zu wachsen, eine geheimnisvolle Kraft schien ihm Fähigkeiten und Schwingen zu verleihen, die durch eine verwandte Seele ausgelöst wurden.

Akulina betrachtete den Mann mit einem forschenden Blick. Er löste die Augen nicht von den ihren. Eine geheimnisvolle Gewalt ging von ihnen aus, die der merkwürdige Mensch zu erproben schien. Akulina riss sich los, wandte sich um und sagte vernehmlich:

„Maxim kommt heute Abend!“

„Ah, ah, Maxim!“ Der Schuster war erfreut und verlegen zugleich, und um das Gespräch zu Ende zu bringen, wandte er sich wieder an seine Gast:

„Also das gewünschte Zimmer ist frei.“

„Dann werde ich es beziehen. Wegen des Mietspreises sei ohne Sorge, Väterchen!“

„Nun denn — geh voran, Bruder — es ist das letzte, das ich zu vergeben habe. Eigentlich waren es ja nur zwei. In dem andern wohnt eine junge Journalistin. Sie schreibt für den Rjetsch . . . und andere Zeitungen. Doch komm!“

Er öffnete die Türe. Der Fremde hatte sich nach Akulina umgewandt. Seine unheimlichen Augen umfassten das junge Mädchen. Sie fühlte sich hilflos und beleidigt.

Die beiden Männer schritten nun durch einen dunklen Korridor, den ein schwankendes Öllämpchen notdürftig erhellte. Dann öffnete der Schuster eine Türe und der Fremde tat einen Blick in seine künftige Wohnung. Es war ein sauberes Zimmer mit einem Fenster, durch das sich jetzt schon die Dämmerung stahl. Weisse Vorhänge verbreiteten den Duft von Reinlichkeit und Behaglichkeit. An den Wänden hingen die Bilder der Heiligen mit schönen Sprüchen.

Der Fremde las einige.

„Du bist fromm, Väterchen!“

„Wir sind alle fromm. Von wem sollte uns Heil werden, wenn nicht von den Heiligen?“

„Du hast recht:“ erwiderte der andere nachdenklich und Fetzte sich. Er hielt den Blick nach dem Fenster gewandt. „Du hast recht. Von wem sollte uns Heil werden, wenn nicht von den Heiligen? Und Mütterchen Ruskaja braucht Heil und Erlösung. Mütterchen Ruskaja ist wie eine geschändete Frau. Männer mit reinen Seelen und dem Atem Gottes in sich müssen kommen, es zu erlösen.“

Der Schuster wusste nichts darauf zu antworten.

Er ist ein Begnadeter oder ein Spion, dachte er und schloss rasch die Türe, öffnete sie aber nochmals und lud in echt russischer Gastfreundschaft den Fremdling zum Abendtisch.

„Tee und Fisch gibt es. Viel ist es nicht. Aber wer Hunger hat, ist an dem Tische dessen, der bewirten kann, willkommen. Gott schütze dich unter meinem Dache!“

Der Angesprochene nickte nur. Jetzt, in der Dämmerung, hatten seine Augen einen gewaltigen Glanz. Die wundersamen Märchen Russlands schienen aus ihnen zu strahlen.

Rasputin

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