Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Robert Thomas - Страница 185
cc) Verfahrensherrschaft und Beweislast
Оглавление161
Im deutschen Verwaltungsprozess gilt der Grundsatz der Dispositionsbefugnis. Den Beteiligten im Verwaltungsprozess kommt danach die Verfahrensherrschaft zu. Allein Kläger bzw. Antragsteller bestimmen, ob und in welchem Umfang ein Verfahren eingeleitet werden soll. Die Beteiligten können ihrerseits ein Verfahren auf verschiedene Arten beenden, so durch übereinstimmende Erledigungserklärung, Vergleich oder Klagerücknahme. Das Gericht darf nach § 88 VwGO über Anträge nicht hinausgehen. Der Staat unterbreitet also den Verwaltungsrechtsschutz gleichsam als Angebot, wenn die Beteiligten daran kein Interesse (mehr) haben, findet eine gerichtliche Prüfung von Verwaltungshandeln nicht statt. Der Dispositionsgrundsatz prägt auch den Zivilprozess. Grundlegend anders gründet der Strafprozess in Deutschland – von Ausnahmen abgesehen – auf die Offizialmaxime. Beim Strafprozess hat es der Einzelne grundsätzlich nicht in der Hand, ob und wie lange die Gerichte tätig werden.
162
Die Frage, wer die tatsächliche Tatsachenlage aufklären und belegen muss, betrifft eine zentrale Weichenstellung. Hier unterscheidet sich der deutsche Verwaltungsprozess grundlegend vom Zivilprozess und gleicht dem Strafprozess. Es gilt nämlich nach § 86 Abs. 1 VwGO der Untersuchungs- bzw. Amtsermittlungsgrundsatz und das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen.[236] Das Gericht ist daher an Vorbringen und Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Der Untersuchungsgrundsatz hat Folgen für die Frage der Beweislast: Im Verwaltungsprozess gibt es grundsätzlich keine Behauptungs- bzw. Darlegungslast und prinzipiell keine Beweislast.[237] Der Untersuchungsgrundsatz liegt in der Logik der Rechtsschutzeffektivierung, wie sie aus Art. 19 Abs. 4 GG von der Verfassung gefordert wird. Weil sich im Verwaltungsprozess typischerweise der Bürger gegen den Staat wendet, kommt der Untersuchungsgrundsatz vor allem dem Einzelnen zugute.
163
Gleichwohl stellt sich die Frage, zu wessen Lasten Ungewissheiten im Sachverhalt sich auswirken („objektive oder materielle Beweislast“[238]). Hier wird in der Regel der allgemeine Grundsatz greifen, dass die Nichterweisbarkeit einer Tatsache (non liquet) sich zulasten desjenigen auswirkt, der aus dieser Tatsache eine für sich günstige Rechtfolge ableitet.[239] Für rechtsbegründende Tatsachen trägt der mögliche Anspruchsinhaber diese faktische Beweislast, für Tatsachen, die den Anspruch zunichte machen können, kommt diese dem Anspruchsgegner zu.[240] Der Gesetzgeber kann freilich zu diesen Tatsachen materiell-rechtliche Festlegungen treffen, er muss dabei das Machtgefälle zwischen Staat und Bürger berücksichtigen.[241] Prozessual spiegelt sich die Existenz einer objektiven Beweislast im Verwaltungsprozess in § 87b VwGO, wonach das Gericht im Einzelnen auffordern kann, bestimmte Dinge darzulegen und Beweismittel zu bezeichnen.