Читать книгу Medizingeschichte - Robert Jutte - Страница 10
1.1.1 Klassische Themenfelder
ОглавлениеBezogen auf die europäische (einschließlich der vorderasiatischen und nordafrikanischen) Medizingeschichte, richtet sich die epochenorientierte Medizinhistoriographie (Periodisierung, S. 391) nach den traditionellen Großepochen der frühen Hochkulturen (Babylon, Ägypten), der griechischen und römischen Antike, der byzantinischen und frühen persisch-arabischen Kultur, des westlichen und arabischen Mittelalters, der Renaissance und des Humanismus, der Vor- und Hochaufklärung sowie der Neuzeit. Die Behandlung vollständiger Epochen der Medizingeschichte bleibt in der Regel der Hand- und Lehrbuchliteratur (Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen, S. 15; Bibliographien, S. 96) vorbehalten. Ausnahmen bilden epochenbezogene Fragestellungen (z. B. babylonische Pharmakotherapie, Abtreibung in der Antike, Sport und Medizin in der griechisch-römischen Antike, Anatomie im Mittelalter, Körperhygiene in der Aufklärung). Für Magisterarbeiten und Dissertationen sind solche Großthemen in der Regel ungeeignet.
Bei der klassischen medizinischen Ereignisgeschichte geht es meist um bedeutende Entdeckungen, Erstbeschreibungen oder Erst(be)handlungen (z. B. die Beschreibung des großen Blutkreislaufs, die Entdeckung der Digitaliswirkung, die erste Magenoperation oder die erste Herzkatheterisierung). Ereignisgeschichte ist ein Begriff, der in der Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte heute gelegentlich abwertend in Abgrenzung von der eben auf Ereignisse fixierten „klassischen“ Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts benutzt wird. Diese Ablehnung weist auf die oftmals verkürzt rezipierten Strukturgeschichte der französischen Schule der Annales (der Name leitet sich ab von der 1929 durch Marc Bloch (1886–1944) und Lucien Febvre (1878–1956) gegründeten geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift Annales d’histoire économique et sociale) besonders um Fernand Braudel (1902–1985). Tatsächlich untersucht die Strukturgeschichtsschreibung keine singulären Ereignisse, sondern größere historische Prozesse, Konjunkturen und Strukturen von längerer Dauer (la longue durée), in denen individuellen Handlungen und Einzelereignissen wenig Spielraum und nur geringe [<<13] Geschichtsmächtigkeit zugewiesen wird. Ereignisse wären vielmehr stets Folgen derartiger Prozesse und von „kurzer Dauer“ (la brève durée) (Braudel, 1969, S. 45). So wäre beispielsweise in der Medizingeschichte die Entdeckung des großen Blutkreislaufs (1628) Folge (und nicht unmittelbarer Auslöser) eines komplexen wissenschaftshistorischen Prozesses, der letztlich zum Fall humoralpathologischer Vorstellungen führte. Die physiologische Neuorientierung auf das Experiment und die Bedeutung des Buchs der Natur (liber naturae), in deren Folge der große Blutkreislauf entschlüsselt wurde, wäre nur ein Element dieses Prozesses. In der modernen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte wird indes die Notwendigkeit der Ereignisgeschichte nicht mehr bestritten; vielmehr scheint ihr – wenn sie, durchaus im Sinne der Strukturgeschichte, gut betrieben wird – wieder eine gewisse Attraktivität zuzuwachsen (Frevert/Haupt, 2005, S. 7).
Ähnlich bestellt ist es um die Institutionengeschichte und Biographik innerhalb der Medizinhistoriographie. So ist etwa die Hospital- und Krankenhausgeschichte als größter Komplex innerhalb der medizinischen Institutionengeschichte längst nicht mehr auf eine Bau- und Architekturgeschichte zu reduzieren (Artefakte und andere „Überreste“, S. 46). Auch Hospital- und Krankenhausgeschichte kann heute nur als ein komplexes Gefüge aus ideengeschichtlichen, sozial- und medizinhistorischen oder demographischen ebenso wie aus wirtschafts- und verwaltungshistorischen Voraussetzungen, Strukturen und Prozessen verstanden werden, oder sie bleibt Fragment (Ammerer et al., 2010). Es wird dies besonders deutlich, wenn der früher stark auf Hospital- und Krankenhausgeschichte verengte Arbeitsbereich der Institutionengeschichte auf andere erweitert wird, etwa auf kommunale oder private, karitative und gesundheitsfürsorgende Einrichtungen, auf Schulen, Universitäten, Akademien, Institute und Forschungszentren, auf Ministerien und Ämter der Gesundheitsverwaltung oder auf militärische Einrichtungen und Einheiten, um hier nur wenige Beispiele zu nennen.
Gleiches gilt für die medizinhistorische Biographie und Pathographie, die inzwischen den früher nahezu ausschließlich und äußerst eng gesehenen und behandelten Zusammenhang von Person-Werk-Leistung (Bioergographie) oder Person-Krankheit-Leiden (Pathographie) zugunsten einer struktur- und mentalitätsgeschichtlich geleiteten Bio- und Pathographik überwunden hat. Unter Biographie (gr. βιογραφία, von βίος– das Leben und γραφή– die Schrift) wird zunächst die Lebensbeschreibung einer Person selbst verstanden. Hierbei handelt es sich um die mündliche oder schriftliche Präsentation des Lebenslaufes. In der Historiographie geht es um die Lebens-, Beziehungs- und Leistungsrekonstruktion einer fremden, meist unter bestimmten Fragestellungen bedeutenden Person. Quellen hierfür können Autobiographien, Testamente, Briefe, Urkunden und andere persönliche oder amtliche Quellen sein. Biographik ist [<<14] weit mehr als die Rekonstruktion wichtiger Lebensschritte, Lebensabschnitte oder Leistungen, sie ist zugleich der Versuch einer subjektiven Sinn- und intersubjektiven Bedeutungsrekonstruktion einer Person in ihrem historischen Kontext. Biographien, insbesondere Autobiographien, sind bedeutende Gegenstände der Literaturwissenschaft, der Soziologie, der Germanistik, der Pädagogik, der Psychologie, der Theologie sowie der Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte und haben dort je eigene Forschungstraditionen entwickelt (Scheuer, 1979; Klein, 2002). In der Medizinhistoriographie belegt die Beliebtheit und schiere Menge biographischer Arbeiten, dass – zumindest in der Vergangenheit – das Geschichtsbild von Medizinern und Medizinhistorikern in der Annahme einer weitgehenden Identität des Faches mit seinen ‚hervorragenden Protagonisten‘ ruhte. Die methodische Entwicklung der Geschichtswissenschaft hat auch für die Geschichte der Medizin zu einem anderen Verständnis der wissenschaftlichen Biographik und ihrer Bedeutung geführt. Trotz allem leistet die medizinhistorische Biographik auch heute noch einen – ebenso begrenzten wie unverzichtbaren – Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Sie bearbeitet deren personale Dimension – im Rahmen einer methodisch differenzierten Geschichtsschreibung. Herausragende neuere medizinhistorische Biographien etwa über Rudolf Virchow (Goschler, 2002), Robert Koch (Gradmann, 2005) oder Karl Brandt (Schmidt, 2009) belegen dies.
Neue Wege werden auch in der modernen Pathographie beschritten. Ursprünglich ein methodischer Teil- und Arbeitsbereich der Psychiatrie und Psychotherapie, hat sich die Pathographik (Nosologie, Pathographie, retrospektive Diagnose, S. 370, Patientengeschichte, S. 201) als krankheitsbezogener Teil der Biographik im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einer bemerkenswert populären medizinhistorischen Literaturgruppe entwickelt. Häufig der psychoanalytischen Methode verpflichtet, blieb die Pathographik in der neueren Medizinhistoriographie nicht unkritisiert. Es gibt jedoch Bemühungen um ihre sinnvolle Einordnung und Neuorientierung als Rekonstruktion von Krankheit im Rahmen einer methodisch entwickelten struktur-, körper- und mentalitätsgeleiteten Geschichtsschreibung (Hawkins, 1999; Hilken, 1993; Engelhardt, 2003).
Hinzuweisen bleibt noch auf die medizinische Lokal-, Regional- und Ländergeschichte. Während die krankheitsbeschreibende medizinische Geographie heute, abgesehen von kolonialhistorischen Studien (Eckart, 1997), in der medizinischen Historiographie im Grunde kaum noch eine Rolle spielt, wohl aber in den geographischen Wissenschaften wiederentdeckt wird, gehörte sie doch zu den herausragenden medizinischen und auch medizinhistorischen Literaturgruppen vor allem des 19. Jahrhunderts. Inhaltlich und methodisch begründet wurde sie von dem Medizinhistoriker August Hirsch (1817–1894), vor allem in dessen Hauptwerk Handbuch der historisch-geographischen Pathologie (Stuttgart 1881–1886). Moderne medizinische [<<15] Geographie ist ein Teilgebiet der Anthropogeographie, die sich mit dem lokalen, regionalen oder nationalen Gesundheitsstatus und der Gesundheitsversorgung beschäftigt. Zusammen mit der medizinischen Anthropologie, der Medizinischen Soziologie und den ökonomischen Gesundheitswissenschaften ist die Medizinische Geographie darum bemüht, geographische Faktoren zu finden und zu verstehen, die die Gesundheit von Individuen, Populationen und Gesellschaften (Jones/Moon, 1987, Dyck, 2011) beeinflussen. Daran gemessen sind die Ansprüche der traditionellen medizinischen Lokal-, Regional- und Ländergeschichte – obwohl häufiger Gegenstand medizinhistorischer Dissertationen – bislang weniger ambitioniert. Man begnügt sich meist mit einer diachronen Darstellung der medizinischen Institutionengeschichte, Umrissen einer lokalen historischen Epidemiologie und einer Geschichte der örtlich, regional oder überregional wirkenden Medizinalpersonen und -systeme im Sinne einer Mikro- und Makrogeschichte des Öffentlichen Gesundheitswesens (Fischer, 1933). Hier könnte eine intensive Kooperation mit den geographischen Disziplinen (Meade/Earickson, 2000) zu wesentlichen methodischen Verbesserungen dieses an sich spannenden Arbeitsgebietes der Medizingeschichte beitragen, etwa zur Rekonstruktion historischer Modelle lokaler Krankheitsentstehung und Gesundheitsfürsorge. Die Medizinhistoriographie entdeckt in jüngster Zeit diese klassische Disziplin neu (Rupke, 2000).