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1.1.2 Neuere Arbeitsfelder

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Zu den neueren Arbeitsfeldern der Medizingeschichte gehören besonders die Ideengeschichte (S. 165), die Sozialgeschichte (S. 173), die Professionalisierung (S. 364) und Medikalisierung (S. 357), die Patientengeschichte (S. 201) und Körpergeschichte (S. 229) sowie nicht zuletzt die Historische Demographie (S. 261).

Der Konzeptgeschichte im Sinne einer erweiterten Ideengeschichte (S. 165) hat sich besonders Karl Eduard Rothschuh (1908–1984) in seinem richtungweisenden Werk Konzepte der Medizin (1978) zugewandt. Unter einem medizinischen Konzept (nach lat. conceptus, im Sinne einer zusammenfassenden Idee) verstand der Münsteraner Medizinhistoriker den Versuch, alle „Denkbemühungen, das Erfahrungsgut im Umgang mit dem Kranken in eine Struktur allgemeiner Grundsätze und daraus ableitbarer Folgerungen einzubetten“ (Rothschuh, 1978, S. XIII). Im Einzelnen habe eine Konzeptgeschichte der Medizin im weitesten Sinn die Lehre vom Menschen (Anthropologie, Naturlehre, Physiologie), sodann die Lehre von der Krankheit (Ursachen, Ausbildung, Erscheinungen, Symptome, Verlauf und Krankheitsformenlehre) und schließlich die Lehre von der Heilung (heilende Kräfte, Heilungshilfen, Heilungswege, Indikationen und Voraussagen) zu behandeln. Rothschuh war sich bereits 1978 darüber im Klaren, [<<16] dass die Erfahrungsbildung und das Denken in solchen Konzepten nur im Kontext der jeweiligen historischen Situation sowie unter Berücksichtigung des „soziokulturellen Geistesklimas“ der jeweiligen Zeit möglich sein können. Unzulässig seien Rückschlüsse und Bewertungen solcher Konzepte ex post, entscheidend aber sei deren Schlüssigkeit in ihrem historischen Kontext, an der man ihre „Wissenschaftlichkeit, Folgerichtigkeit und Glaubwürdigkeit“ zu bemessen habe. Unter Wissenschaftlichkeit in der Perspektive einer unvoreingenommenen Konzeptgeschichte verstand Rothschuh den „Grad von Bestätigungsfähigkeit“, unter deren „Folgerichtigkeit“ könne man ihre „Bestätigungsfähigkeit“ und „Widerspruchsfreiheit“ in den Denk- und Handlungsgrenzen eines Konzeptes verstehen, und „Glaubwürdigkeit“ meine vor allem den Grad des „Vertrauens“, das von den Handlungsträgern eines medizinischen Konzepts, also von Heilkundigen im weitesten Sinne und von seinen Nutznießern, also den an Krankheit leidenden Heilsuchenden (Patienten), einem solchen Konzept entgegengebracht werde (Rothschuh, 1978, S. XIII).

Im Rahmen der ideengeleiteten Konzeptgeschichte blieb freilich der methodische Ansatz einer an den gesellschaftlichen Bedingungen von Krankheit und Heilung orientierten Darstellung noch weitgehend unberücksichtigt (Labisch, 1992). Diesen Fragen wendet sich die Sozialgeschichte (S. 173) zu. Ist unter Sozialgeschichte im weitesten Sinne die Erforschung und Beschreibung sozialer Strukturen nach Gruppen, Ständen, Schichten oder Klassen in vergangenen Gesellschaften zu verstehen, die sich mit der Größe, Lage und Bedeutung dieser Gruppen sowie mit der Geschichte sozialer Prozesse beschäftigt, so bedeutet dies für die Medizingeschichte die Einbeziehung solcher erkenntnisleitender Prinzipien in die Erforschung ihrer Gegenstände. Damit wird Medizingeschichte durchaus zu einer Teildisziplin der Politik- und Gesellschaftsgeschichte. Die Sozialgeschichte der Medizin stellt sich die Aufgabe, Medizin als gesellschaftlich bedingtes Phänomen zu erfassen. Sie nähert sich ihren Gegenständen unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und bezieht die Gruppe der am heilkundlichen Geschehen Beteiligten (Patienten, Heilkundige, Ärzte, Familien, soziale Gruppen, Obrigkeiten etc.) möglichst umfassend ein. Im weiteren Sinne hat sich Sozialgeschichte der Medizin mit den elementaren biologischen Ereignissen im Leben eines Menschen (Vorgeburtlichkeit, Geburt, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Sterben und Tod) und deren Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Sie erforscht weiterhin Erwartungen einer Gesellschaft an das Verhalten von gesunden und kranken Menschen, Strukturen, in denen sich ‚Heilkunde‘ vollzieht (Gesundheitswesen, Rolle von Kranken in der Gesellschaft, Gesundheitserziehung/-vorsorge etc.), sowie den individuellen Umgang mit dem menschlichen Körper. Erforscht und beschrieben werden auch Erfahrungen [<<17] von Heilkundigen mit dem Körper des gesunden, kranken und toten Menschen. Die Heilkunde wird in der Sozialgeschichte der Medizin als Gesamtheit aller ‚heilkundlichen Handlungen‘ aufgefasst, wobei Theoriebildung und Praxis ebenso einbezogen werden wie die Frage nach den kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründen für Therapieansätze und Praktiken.

Ein besonderes Themenfeld der sozial- und politikhistorisch orientierten Medizinhistoriographie in Deutschland stellt die Medizin im Nationalsozialismus mit ihren Voraussetzungen, ihren Folgen und ihrer historischen Aufarbeitung nach 1945 dar. Der historische Umgang mit den medizinischen Verbrechen unter der nationalsozialistischen Diktatur begann bald nach 1945 mit dem amerikanischen Militärgerichtsprozess (US Military Tribunal I) gegen Wehrmachts- und SS-Ärzte 1946/47 (sog. „Nürnberger Ärzteprozess“), über den die Heidelberger Alexander Mitscherlich (1908–1982) und Fred Mielke (1922–1959) für die westdeutschen Ärztekammern berichteten (Peter, 1994), dieser Umgang jedoch kam in den Jahren bis zur Studentenbewegung der späten 1960er Jahre in der Bundesrepublik (anders als in der DDR) weitgehend zum Stillstand und wurde erst in den 1970er Jahren wieder aufgegriffen. Versuche wissenschaftlicher Gesamtannäherungen an die Medizin im Nationalsozialismus erfolgten in der Bundesrepublik erst 1985 (Kudlien, 1985), in der DDR 1989 (Thom/Caregorodcev, 1989). Ihnen schlossen sich differenzierte wissenschaftliche Detailuntersuchungen zu den zentralen Aspekten der NS-Medizin (z. B. Rassenhygiene, Sterilisation, Krankenmord, „Euthanasie“, Leistungs- und Arbeitsmedizin, verbrecherische Experimentalforschung, Vertreibung rassisch und politisch diffamierter Ärztinnen und Ärzte, Militärmedizin und Militärforschung) in schneller Folge an. Eine zusammenfassende Darstellung der Medizin unter der NS-Diktatur wurde jüngst vorgelegt (Eckart, 2012). Zur NS-Medizin vor Gericht und ihrer Bedeutung für die medizinische Ethik der Nachkriegszeit ist inzwischen das Standardwerk von Paul Weindling über den Nürnberger Ärzteprozeß (Weindling, 2004) verfügbar. Die Medizin im Nationalsozialismus stellt bis heute einen der am besten erforschten Gegenstände der sozial- und politikhistorisch verpflichteten medizinischen Zeitgeschichte dar. Ihre Erforschung steht zugleich exemplarisch für die jüngere kritische Medizinhistoriographie (Baader, 1999). Eine umfassende Bibliographie steht allerdings bis auf wichtige Vorarbeiten (Beck, 1995; Jütte et al. 22012) noch aus.

Ein neues Arbeitsfeld der sozial- und ereignisgeschichtlich orientierten Medizingeschichtsschreibung stellt auch das Thema ‚Medizin und Krieg‘ dar. Eine systematische medizinhistorische Aufarbeitung der größeren kriegerischen Auseinandersetzungen der Neuzeit setzt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, wenngleich die Medizingeschichte sich schon früh für diese Thematik interessierte (Garrison, 1922). Für die deutschsprachige Medizingeschichtsschreibung ist hier vor allem auf den 1987 [<<18] von Johanna Bleker und Heinz-Peter Schmiedebach vorgelegten Band Medizin und Krieg: Vom Dilemma der Heilberufe 1865–1985 zu verweisen. Interessiert an Zusammenhängen zwischen Krieg und medizinischem Fortschritt zeigt sich die österreichische Medizinhistorikerin Daniela Angetter (Krieg als Vater der Medizin, 2004). Neben einem Sammelband zur Medizingeschichte des Ersten Weltkrieges von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann (Eckart/Gradmann,, 1996, 22003) liegt inzwischen auch eine Gesamtdarstellung vor (Eckart, 2014). Diese und andere Studien machen deutlich, wie schwierig es ist, das äußerst komplexe Geschehen der modernen Kriege in historisch-kritischer Perspektive auch nur annähernd zu umreißen. Wie leicht ein solches Unternehmen an der Materialfülle und aufgrund des Fehlens spezifischer Fragestellungen scheitern kann, belegt Hubert Fischers auf fünf Bände mit weit über 1000 Seiten angewachsener Versuch, die Geschichte des deutschen Sanitätsdienstes zwischen 1921 und 1945 (Der deutsche Sanitätsdienst 1921–1945. Organisation, Dokumente und persönliche Erfahrungen, 1982–1988) umfassend zu rekonstruieren. Jüngere Darstellungen versuchen, die komplexe deutsche Sanitätsgeschichte des Zweiten Weltkrieges unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen Krieg, medizinischer Wissenschaft und NS-Politik zu beleuchten (Neumann, 2005; Eckart/Neumann, 2006).

Unter Medikalisierung (S. 357) im Sinne der Sozialgeschichte versteht man einen Prozess, in dem „die akademische Heilkunde aus einer ehemals marginalen Stellung zur beherrschenden Schulmedizin aufstieg“ (Seidel, 1998, S. 13). In enger Kooperation mit dem absolutistischen frühmodernen Staat, aber auch im Sinne einer Indienstnahme der ärztlichen Profession, die sich durch wachsende Zuverlässigkeit ihrer Heilhandlungen auszeichnet, sei die Heilkunde zu einer umfassenden öffentlichen Kontroll- und Regulierungsinstanz aufgestiegen. Ihre Ausübenden, die Ärzte, werden daher auch als „Wächter der Moral in der öffentlichen Gesundheit“ bezeichnet (Foucault, 1988, S. 54). So wird die Medikalisierung oft als ein Prozess gesehen, in dessen Verlauf die modernen Gesellschaften mit ihren Einzelindividuen zunehmend unter die Aufsicht der Ärzte als Diener des Staates gestellt wurden (Huerkamp, 1985; Frevert, 1985). Francisca Loetz hingegen betont in ihrer Definition von Medikalisierung am Beispiel des Großherzogtums Baden eher den Prozess einer Wechselwirkung zwischen Staat, Heilkunde und der Bevölkerung, in dem „nicht nur repressive politische und kulturelle Gewalt auf Untertanen, Kranke und Laientherapeuten ausgeübt wird, sondern auch medizinische Ansprüche an Staat und Ärzteschaft formuliert werden“ (Loetz, 1993, S. 50).

Neben der klassischen Krankheitsgeschichte, die sich – in der Vergangenheit häufig genug in fortschrittshistorischer Perspektive oder unter fragwürdigem Rückgriff auf retrospektive Versuche einer Diagnostik – wesentlich um die Beschreibung, Erklärung und Behandlung bestimmter Krankheiten bemüht hat, ist in den letzten Jahrzehnten [<<19] die Patientengeschichte (S. 201) und Körpergeschichte (S. 229) bedeutend geworden. Die Patientengeschichte entwirft neue Deutungsrichtlinien der Krankheitsgeschichte, die sehr viel stärker als zuvor den Patienten mit seiner individuellen Persönlichkeit, seinen eigenen Deutungen von Gesundheit und Krankheit und seinen Reaktionsweisen auf den Prozess von Krankheit und Heilung im Kontext seiner kulturellen und sozialen Lebenswelt einbezieht (Wolff, 1998; Ernst, 1999). Die Wahrnehmung des Patientenkörpers und des Patientengeschlechts berücksichtigen in diesem Zusammenhang die neuen Arbeitsbereiche der Körpergeschichte (S. 229) und Frauen- und Geschlechtergeschichte (S. 214). In engem Zusammenhang mit einer geschlechtsspezifischen Wahrnehmung kann in der Körpergeschichte der Leib als ‚sozialer Bedeutungsträger‘, der in einem Prozess gesellschaftlicher Zuschreibung seine spezifische Bedeutung erhält, interpretiert werden. Andererseits kann der Körper in einem zweiten körperhistorischen Ansatz auch als ‚soziales Konstrukt‘ aufgefasst werden, da er im jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext in der Selbst- und Fremdwahrnehmung sehr differenzierten Deutungen unterliegt. In einem dritten Ansatz schließlich kann der Körper auf einer abstrakteren Wahrnehmungsebene als ‚Produkt‘ gedeutet werden. In einer solchen Interpretation löst sich der Körper ganz aus seinen jeweiligen Konstitutionsprozessen. Seine Bedeutungen, Benennung, Differenzen und Ordnungen erweisen sich als Konstrukte und unterliegen permanent historischen und kulturellen Wandlungsprozessen (Stolberg, 1999; Lorenz, 2000).

Als bedeutende neue Teildisziplin und Instrument der Medizinhistoriographie ist hier noch die Historische Demographie (S. 261) zu nennen. Diese historische Hilfswissenschaft wendet sich elementaren Ereignissen im Lebenslauf (Geburt, Migration, Heirat, Tod), aggregativen Kennzahlen für ganze Bevölkerungen, z. B. Lebenserwartungen, eheliche Fruchtbarkeitsraten (= wie viele Geburten pro verheirateter Frau?), Bruttoreproduktionsraten (= wie viele Töchter pro Frau?), Heiratsalter, Ledigenquoten (= wie viel Prozent einer Altersgruppe sind noch unverheiratet?), sowie rechnerischen und kausalen Beziehungen zwischen den Elementen des Bevölkerungsprozesses und der Wirtschaft zu. Es liegt auf der Hand, dass einerseits die Medizinhistoriographie von Fragestellungen und Methoden der Historischen Demographie profitiert, andererseits aber auch die Historische Demographie medizinhistorischer Methoden und Ergebnisse bedarf, um ihre Fragestellungen zu schärfen und ihre Ergebnisse zu deuten (Imhof, 1977; Vögele, 1998, Ehmer, 2004, Szreter, 2004).

In enger Beziehung zur Historischen Demographie ist schließlich die Historische Epidemiologie zu sehen. Sie beschäftigt sich mit der Häufigkeit und Verteilung von Krankheiten in ihren historischen Dimensionen. Anders als die moderne Epidemiologie, die sich auf fundierte, nach eigenen Kriterien ausgewählte Datenaggregate wie [<<20] die Vitalstatistik stützen kann, ist historischen Befunden im Rahmen der Überlieferung ein Zufallscharakter zu eigen, der direkte und indirekte Quellen gleichermaßen betrifft. Als direkte Quelle kann aus Sicht der Anthropologie und Paläopathologie das biologische Substrat (Skelette, Skelettpopulationen) aufgefasst werden, das einer anthropologisch-medizinischen Befunderhebung dient. Andererseits sind auch indirekte Quellen einzubeziehen, die ihren Informationsgehalt aus schriftlichen oder bildlichen Überlieferungen beziehen und somit eng an entsprechende Nachbardisziplinen gebunden sind. In aktueller Perspektive beschäftigt sich die Epidemiologie vor allem mit Untersuchungen zur Verteilung von Krankheiten, zu physiologischen Variablen und sozialen Krankheitsfolgen in menschlichen Bevölkerungsgruppen sowie mit den Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen. Sie erfasst in diesem Aufgabenspektrum Informationen über die Häufigkeit von Krankheiten und Hinweise auf bisher unbekannte Gesundheitsstörungen. Auf diese Weise leistet sie einen Beitrag zur Aufklärung von Risikofaktoren und Erkrankungsursachen, zur Bestimmung der Verteilung von Erkrankungsursachen in der Bevölkerung oder in der Umwelt sowie zur Kontrolle der Wirksamkeit von Maßnahmen des Gesundheitswesens und damit auch zur Präventionsforschung. Epidemiologie ist in diesem Sinne immer auch Historische Epidemiologie, indem sie einerseits auf Daten kürzer oder länger zurückliegender Gesundheits- und Krankheitsphänomene zurückgreift und andererseits zukünftiger historischer Forschung bedeutendes Quellen- und Datenmaterial zur Verfügung stellt. Während zur Geschichte der Epidemien inzwischen zahlreiche Publikationen vorliegen (Kiple, 1994), steht ein umfassendes Handbuch zur Historischen Epidemiologie noch aus (Cliff/Haggett/Smallman-Raynor, 1998). Eher kritisch sind im Kontext der neueren historischen Epidemiologie Versuche einer retrospektiven Seuchenkartographie zu bewerten (Hoff/Smith, 2000).

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