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1 Einführung 1.1 Medizingeschichte: Aspekte, Aufgaben, Arbeitsweisen
ОглавлениеEine Einführung in die Medizingeschichte muss sich zwangsläufig damit beschäftigen, was Medizingeschichte eigentlich ist. Dies wiederum setzt voraus, dass auch der Gegenstand des medizinhistorischen Interesses, die Medizin also in unserem Fall, in seinen Grundzügen definiert oder doch zumindest seinen Grundphänomenen entsprechend in einer Weise beschreib- und begrenzbar ist, die ihn für eine historische Betrachtung handhabbar macht. Alle Fragen von Gesundheit und Krankheit sind ebenso bedeutende wie bedrängende Grundprobleme der Menschheit wie die von Leib und Seele, Gott und Welt, Natur und Mensch. Medizingeschichte beschäftigt sich prinzipiell mit den historischen Lösungsversuchen solcher Fragen und bemüht sich um die Einordnung in ihren historischen Kontext. Dass ein solches Bemühen einen umfangreichen Katalog philosophischer, anthropologischer, ethnologischer, religiöser, kultureller, wissenschaftlicher, rechtlicher oder politischer Fragen – um hier nur einige der tangierten Themenfelder zu nennen – eröffnet, liegt auf der Hand. Selbst wenn wir uns auf einen möglichst weit gefassten Begriff von Medizin einigen würden, der – curativ – das professionelle oder vorprofessionell-private Mühen um Wiederherstellung eines subjektiv oder intersubjektiv feststellbar verlorenen Körperzustandes beschreibt, der früher als Gesundheit, körperliche oder geistige Integrität oder auch nur als Störungsfreiheit hätte beschrieben werden können, einen Begriff von Medizin, der zugleich – präventiv – alle Formen der Meidung und alle Maßnahmen zur Verhütung eines subjektiv oder intersubjektiv als nicht gesund empfundenen Körperzustandes meint – selbst dann hätten wir zwar eine grobe Umschreibung dessen, was Medizin als Heilkunde und Heilpraxis curativ und präventiv ganz wesentlich tut. Wir hätten uns aber zugleich um erwartete Definitionsversuche von Krankheit und Gesundheit gedrückt, hätten noch keine Aussage über die kulturelle und soziale Funktion von Heilen (im Sinne der Reintegration) und von vorausgehendem Verhüten (im Sinne der Prävention) getroffen, und schon gar nicht über die Rolle der Medizin überall dort, wo sie im Falle des unwiederbringlichen Verlustes definierter körperlicher oder geistiger Funktionen sich darum müht, einen Menschen wieder in seinen vormals [<<11] existierenden körperlichen Zustand beziehungsweise – wo dies unmöglich ist – in seine soziale oder juristische Position zurückzuversetzen, um auf diese Weise über Rehabilitation eine Reintegration zu erreichen.
Nun kann es nicht Aufgabe einer Einführung in die Medizingeschichte sein, umfassende Begriffsdefinitionen von Krankheit, Gesundheit, Heilung, Prävention, Rehabilitation oder Reintegration zu liefern. Immerhin ist mit diesen Begriffen aber bereits zumindest das theoretische und praktische Aufgabenfeld dessen umschrieben, dem sich Medizingeschichte als Geschichte der Heilkunde und Heilpraxis in ihrem jeweils gültigen historisch-sozialen, kulturell-mentalen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext zuzuwenden hat. Es liegt auf der Hand, dass Medizingeschichte in dieser Perspektive nicht ohne das methodische Instrumentarium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte sowie der Anthropologie und der Ethnologie betrieben werden kann, wenngleich sich ihre primären Erkenntnisinteressen von denen der genannten Disziplinen durchaus unterscheiden können, aber keinesfalls immer müssen (Brieger, 1993; Cooter, 2007).
Die Erkenntnisinteressen der Medizingeschichte sind traditionell vielfältig, und entsprechend wählt sie ihre Gegenstände und Methoden (Paul/Schlich, 1998; Bröer, 1999). Das Forschungsfeld umfasst ein weites Spektrum von Themen, methodischen Zugängen und Perspektiven (Bynum/Porter, 1993). Die Medizingeschichte – sei sie, wie in Deutschland, als eigenständige Disziplin überwiegend an Medizinischen Fakultäten beheimatet oder, wie in vielen anderen Ländern, den Allgemeinen Geschichts- oder Kulturwissenschaften angelagert – kann auf eigenständig gewachsene Traditionen, eigene Fragestellungen und hochdifferenzierte Forschungsinteressen und Schwerpunkte verweisen. Einer jüngeren Tendenz folgend öffnet sie sich jedoch zunehmend Anliegen, Methoden und Fragestellungen, die für ein ganzes Spektrum sehr verschiedener Wissenschaftsbereiche bedeutend sind. Mit dieser Grenzüberschreitung verbunden ist zugleich eine Abkehr von eher traditionell gebundenen Sehweisen, romantisch verklärten oder fortschrittsorientierten Geschichtsbildern und engen Funktionszuweisungen, etwa in der Beschränkung auf die Rolle der Medizingeschichte als Sozialisationsinstrument in der ärztlichen Ausbildung. Medizingeschichte erschließt sich damit zugleich selbst als durchaus heterogenes Feld einer geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen, aber auch politischen Auseinandersetzung mit der Medizin, ihren Grundlagen und ihren konkreten Rahmenbedingungen im jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Diese perspektivische Neuorientierung hat auch dazu geführt, dass Medizingeschichte nicht mehr eine traditionell ärztliche oder philologische Domäne ist, sondern dass in ihr als Themenbereich wie auch als akademische Disziplin Sozial- und Wissenschaftshistoriker, Kulturwissenschaftler, Kunst- und Literaturhistoriker, [<<12] Ethnologen, Philosophen oder auch Publizisten kooperieren. Die Themenfelder haben sich gleichfalls differenziert. Neben die klassische epochen-, ereignis-, institutionen- und personenorientierte Medizinhistoriographie sind nun Ideen- und Konzeptgeschichte der Medizin (S. 167), Sozialgeschichte (S. 173), Professionalisierung (S. 364) und Medikalisierung (S. 357), Patientengeschichte (S. 201) und Körpergeschichte (S. 229) sowie Historische Demographie (S. 261) getreten, um nur die wichtigsten neuen Subdisziplinen zu nennen.