Читать книгу Medizingeschichte - Robert Jutte - Страница 15

1.2.2 Jenseits des Fortschritts

Оглавление

Der erste deutsche Medizinhistoriker, der nach dem Zweiten Weltkrieg den bis dahin kaum hinterfragten Fortschrittsbegriff problematisierte, ist der Hamburger Medizinhistoriker Charles Lichtenthaeler (1915–1993). Er plädierte in seinen Vorlesungen aus den späten 1960er Jahren dafür, den Fortschrittsbegriff aus der Medizingeschichte nicht grundsätzlich auszuklammern, sondern zwischen einem „allgemeinen ,Lauf der Geschichte‘ und einem ,geschichtlichen Fortschritt‘“ (Lichtenthaeler, 1977, S. 91) zu unterscheiden, wobei im letzteren Falle seiner Meinung nach „zwischen den großen und entscheidenden, epochalen Aufwärtsbewegungen und den zahllosen Einzelfortschritten auf allen Gebieten menschlicher Betätigung“ streng zu trennen sei. Als Beispiel für die berechtigte Verwendung des Kollektivsingulars nennt er die Überwindung der Magie durch die Ratio in der Antike. Gleichwohl lehnt er es ausdrücklich ab, den „progressistischen und scientistischen“ Medizinhistoriker einfach nachzuahmen und bei der Periodisierung der Medizingeschichte das angebliche „Auf und Ab des pragmatischen medizinischen Fortschritts“ und die damit verbundene Unterscheidung zwischen „guten“ Epochen mit vielen wissenschaftlichen Errungenschaften und weniger ertragreichen Perioden als Richtschnur zu nehmen.

1976 erschien ein Buch des englischen Historikers Thomas McKeown (1912–1988), das eine bis heute nicht enden wollende Grundsatzdebatte unter Medizin- und Sozialhistorikern ausgelöst hat (McKeown, 1976). McKeown stellte zwar den Fortschrittsbegriff nicht grundsätzlich in Frage, doch kratzte er mit seinen aufsehenerregenden Thesen erheblich am Mythos, dass es die Fortschritte in der Medizin waren, die zu einem dramatischen Rückgang der Sterblichkeit (vor allem an Infektionskrankheiten) und einer erheblichen Verlängerung der Lebenszeit führten. Die Kernsätze dessen, was inzwischen als McKeown-Hypothese bekannt ist, lauten in seinen eigenen Worten: „Die Sterblichkeit durch verbreitete Infektionen (Tuberkulose, Lungenentzündung, Scharlach, Masern, Keuchhusten usw.) war bereits ziemlich gesunken, sieht man vielleicht von der Diphtherie ab, bevor wirksame Schutzimpfungen und die Chemotherapie zur Verfügung standen. Die bedeutendste Leistung der biomedizinischen Wissenschaft bestand in der Verbreitung der Hygiene-Maßnahmen, die durch das Krankheitsverständnis und die Identifikation der Mikroorganismen möglich wurde. Die Kontrolle der Infektionen ließ sich zumindest auf die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie auftraten, zurückführen“ (McKeown, 1982, S. 240). Neben der Hygiene, die noch als eine Domäne der Medizin betrachtet werden kann, waren es nach McKeown andere, primär nicht-medizinische Faktoren, deren Wandel die [<<31] genannten historisch-demographischen Folgen gezeitigt hat, nämlich die Anhebung des Lebensstandards und die verbesserte Ernährung.

Die These, dass der Beitrag, den die auf ihre ‚Fortschritte‘ bislang so stolze biomedizinische Forschung zur Verhinderung von Todesfällen in den letzten drei Jahrhunderten leistete, kleiner war als der anderer Einflussfaktoren, blieb nicht unwidersprochen. Gleichwohl war McKeowns medizinhistorische Beweisführung zunächst Wasser auf den Mühlen einiger Sozialhistoriker, die unter dem Einfluss der populären Medizinkritik von Autoren wie Thomas Szaz (1961), Ivan Illich (1976) oder Ian Kennedy (1981) sich herausgefordert fühlten, den Fortschrittsmythos, der die Medizingeschichte lange Zeit dominierte, Stück für Stück zu demontieren. Wie immer man auch zu McKeowns umstrittener Gesamtschau der Medizin- und Bevölkerungsgeschichte (Historische Demographie, S. 261) der letzten 300 Jahre stehen mag, eines kann, wie selbst seine Kritiker zugeben, im Rückblick auf die professionell betriebene Medizinhistoriographie der letzten 30 Jahre nicht bestritten werden: Der Fortschrittsgedanke hat dort seitdem – epistemologisch betrachtet – entscheidend an Boden verloren.

Nicht nur die Kontroverse um die Thesen McKeowns erschütterte in den 1980er Jahren die Medizingeschichte, die bis dahin weitgehend whiggish ausgerichtet war, um einen aus der Politikgeschichte entlehnten Ausdruck eines englischen Historikers (Butterfield, 1931) zu gebrauchen. Auch von einer ganz anderen Seite geriet die Geschichte der Ärzte und ihrer Leistungen unter Beschuss. Bereits einige Jahrzehnte vor der Welle der Kritik an dem „inhumanen“, weitgehend naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin-Betrieb unserer modernen Industriegesellschaft, die in den späten 1970er Jahren einsetzte, hatte der englische Medizinhistoriker Douglas Guthrie (Guthrie, 1945) gefordert, den Patienten mehr als bisher in den historiographischen Blick zu nehmen (Patientengeschichte, S. 201).

Mit der Öffnung der Geschichtswissenschaften zu den Sozialwissenschaften, die sich in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren vollzog, haben sich nicht nur die Methoden der Geschichtswissenschaft geändert, auch ihr Objektbereich hat sich vergrößert. In der „Sozialgeschichte in Erweiterung“, wie sie dem Heidelberger Historiker Werner Conze (1910–1986) vorschwebte, sollte nach den Vorstellungen einer jüngeren Historikergeneration auch der Bereich Krankheit und Gesellschaft einen Platz finden. Doch das inhaltliche und methodische Innovationspotential, das die historischen Sozialwissenschaften an anderen Objekten wie Kindheit, Sexualität, Alter und Tod bereits erprobt hatten, blieb in der Medizingeschichte lange Zeit ungenutzt. Erst relativ spät entdeckte die Sozialgeschichte (S. 173) der Medizin auch die Welt des kranken und sterbenden Menschen als lohnendes Objekt ihrer Forschungen (Jütte, 1991; Lachmund/Stollberg, 1995; Stolberg, 2003, 2011; Anderheiden/Eckart, 2012). Nur allmählich setzte [<<32] sich die Auffassung durch, dass das erlebte Leiden genauso wichtig ist, wenn nicht sogar wichtiger als die objektivierte Krankheit und deren Behandlung. Nicht die Leiden eines mehr oder weniger bekannten Individuums standen fortan im Brennpunkt des Interesses, sondern die gesellschaftlich und kulturell geprägte Einstellung zum Leiden, der Umgang mit Krankheit und nicht zuletzt die Bewältigung von Kranksein in einem sozialen System (Schnalke/Wiesemann, 1998). Diese veränderte Blickrichtung einer Medizingeschichte „von unten“ (Roy Porter) betonte eher die Kontinuitäten im medikalen Verhalten der Menschen früherer Zeiten im Vergleich zu heute, wenngleich historische Brüche und Verwerfungen durchaus gesehen und zeitlich verankert wurden. Kategorien wie ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ galten als eher nebensächlich. Wenn sie überhaupt auftauchten, dann im negativen Zusammenhang, ganz im Sinne der von Jürgen Habermas postulierten „Kolonialisierung der Lebenswelt“ und der damit verbundenen Frage nach den ökonomischen und sozialen Kosten der in der Medizingeschichte nachweisbaren Modernisierungsschübe. Auf diese Weise ließ sich der ideologisch vorbelastete Begriff des ‚medizinischen Fortschritts‘ geschickt vermeiden.

Medizingeschichte

Подняться наверх