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China

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Nur drei Jahre bevor sein Co-Autor Alfred North Whitehead erklärte, dass das Christentum die Basis für das wissenschaftliche Streben gelegt habe, wunderte sich Bertrand Russell über das Ausbleiben der Wissenschaft in China. Von seiner militant atheistischen Warte aus betrachtet, hätte es die Wissenschaft in China lange vor Europa geben müssen. Er schrieb: »Obwohl die chinesische Zivilisation bis dato in Dingen der Wissenschaft unzulänglich geblieben ist, steht sie dieser doch nicht feindselig gegenüber, so dass der Ausbreitung ihres Wissens keine Hürden in den Weg gelegt sind wie seitens der Kirche in Europa.«43

Trotz seiner Überzeugung, dass China bald darauf den Westen bei weitem überrunden werde,44 konnte Russell nicht erkennen, dass es sehr wohl religiöse Hindernisse waren, die die chinesische Wissenschaft beeinträchtigten. Obwohl die einfachen Leute in China über Jahrhunderte sehr viele und verschiedenartige Gottheiten verehrten, allesamt von kleinem Rang und oft mit nur wenigen Charaktermerkmalen versehen, rühmten sich die chinesischen Intellektuellen, dass sie »gottlosen« Religionen folgten. In diesen stellt das Übernatürliche eine Essenz dar, vielleicht auch ein das Leben bestimmendes Prinzip – wie etwa das Tao –, das unpersönlich ist, unnahbar, aber ganz bestimmt kein Wesen. Wie kleine Gottheiten kein Universum erschaffen, bewerkstelligen unpersönliche Essenzen oder Prinzipien dies ebenso wenig – das Tun schlechthin scheint ihnen fernzuliegen.

Das Universum, so wie die chinesischen Philosophen es auffassen, ist und war einfach schon immer da. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es rationalen Gesetzen entsprechend funktioniere oder man es eher unter physikalischen, denn mystischen Gesichtspunkten betrachten sollte. Demzufolge haben chinesische Intellektuelle über Jahrtausende hinweg »Erleuchtung« gesucht und keine Erklärungen. Zu diesem Schluss kam die große Autorität auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte, Joseph Needham, der fast seine ganze Laufbahn und viele Bücher der chinesischen Technologie-Entwicklung widmete. Nachdem er jahrzehntelang eine materialistische Erklärung gesucht hatte, kam er schließlich zu der Einsicht, dass die Chinesen bei der Entwicklung ihrer Wissenschaft aus religiösen Gründen gescheitert sind und die chinesischen Intellektuellen deshalb nicht an Naturgesetze glauben konnten, weil »die Vorstellung eines himmlischen Gesetzgebers, der einer nicht-menschlichen Natur Befehle erteilt, sich nie entwickelt hat«. Und Needham fuhr fort: »Es war nicht so, dass es für die Chinesen keine Ordnung in der Natur gegeben hätte. Doch war das keine Ordnung, die ein rationales, persönliches Wesen festgelegt hatte, weshalb es auch keinen Glauben daran gab, dass andere rationale und persönliche Wesen in ihren unbedeutenderen weltlichen Sprachen den göttlichen Gesetzestext ausbuchstabieren könnten, den Er einstmals festgelegt hatte. Die Taoisten hätten eine solche Idee schon deshalb abgelehnt, weil sie gegenüber der Feinsinnigkeit und Komplexität des Universums, so wie sie es sich vorstellten, zu naiv sei.«45 Ganz genau.

Graeme Lang, respektierter Anthropologe der städtischen Universität Hongkong, verwarf vor einigen Jahren die Ansicht, dass der Einfluss von Konfuzianismus und Taoismus auf die chinesischen Intellektuellen für die Fehlentwicklung der dortigen Wissenschaft verantwortlich gewesen seien. Kultur sei stets flexibel, so Lang, und »wenn chinesische Gelehrte wissenschaftlich hätten arbeiten wollen, hätte die Philosophie allein nie ein ernsthaftes Hindernis sein können«.46 Das mag sein. Doch stellte Lang die Grundfrage nicht: Warum wollten die Gelehrten denn keine Wissenschaft betreiben? Weil, wie Whitehead, Needham und viele andere festgestellt haben, den Chinesen die Möglichkeit der Wissenschaft gar nicht bewusst wurde. Grundlegende theologische und philosophische Annahmen entscheiden sehr wohl darüber, ob jemand die Wissenschaft in Angriff nehmen will. Die westliche Wissenschaft entstand aus der enthusiastischen Überzeugung heraus, dass der menschliche Intellekt die Geheimnisse der Natur entschlüsseln könne.

Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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