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Moralische Neuordnungen

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Die Segnungen, die die Theologie der Vernunft mit sich brachte, waren nicht nur auf die Wissenschaften beschränkt. Von Beginn an zeigte sich das Christentum ebenso erfinderisch in seinen Entwürfen der menschlichen Natur und in Fragen der Moral. An erster Stelle standen Entwürfe grundlegender Menschenrechte, etwa der Freiheit. Im Hintergrund solcher Ideen und Vorschläge gab es aber etwas noch Fundamentaleres: die »Entdeckung« des Individualismus, letztlich des menschlichen Selbst.

Die Aussage, dass der Individualismus überhaupt erst entdeckt werden musste, erscheint dem modernen Geist absurd, und in gewissem Maß ist sie das auch. Alle normalen Menschen sehen sich als Einzelwesen mit einem je singulären Blick auf die Welt und einem völlig singulären Nervensystem. Dennoch betonen manche Kulturen die persönliche Eigenständigkeit, während andere die Kollektivität hervorheben und das Gespür für das Ich unterdrücken. Im zweiten Fall, der sich weltgeschichtlich weitaus häufiger findet, ist die Wahrnehmung des eigenen »Seins« vielmehr ins Kollektive verlagert: jedes individuelle Recht, das jemand besitzt, wird nicht ihm selbst gewährt, sondern seiner Gruppe. Gleichzeitig ist sie es, die ihm Rechte überträgt und gewährt. Unter diesen Bedingungen glaubt niemand daran, dass er allein »der Meister seines Schicksals« sei. Vielmehr drängt sich ihm der Fatalismus-Gedanke auf: denn das eigene Schicksal scheint nicht der eigenen Kontrolle zu unterliegen, sondern voll und ganz von äußeren Kräften bestimmt zu sein.

Selbst die griechischen Philosophen besaßen noch kein Konzept, das unserer Vorstellung einer »Person« entsprochen hätte.61 So lag Platons Augenmerk, als er den Staat schrieb, auf der Polis, der Stadt, und nicht auf ihren Bürgern – er stellte sogar den Privatbesitz in Abrede. Im Gegensatz dazu legte das christliche politische Denken stets den Schwerpunkt auf den individuellen Bürger, und dieser Umstand prägte ganz entschieden die Ansichten späterer europäischer politischer Philosophen wie Hobbes und Locke. Hieran lag etwas ganz entschieden Revolutionäres, da die christliche Betonung des Individualismus letztlich eine »kulturelle Exzentrizität« darstellte.62 Auch das Konzept der Freiheit gibt es in vielen, vielleicht sogar den meisten Kulturen überhaupt nicht. Sehr viele nicht-europäische Sprachen besitzen für Freiheit nicht einmal ein Wort.63

Es ist daher kein Wunder, dass die avancierteren dieser Kulturen allesamt die Sklaverei begrüßten und despotische Staaten hervorbrachten, in denen ein Begriff wie »individuelle Menschenrechte« gar nicht hätte verstanden werden können. So lange das der Fall war, fehlte auch die für den Aufstieg des Kapitalismus notwendige Freiheit. Um diese Heraufkunft überhaupt nachvollziehen zu können, muss man zunächst verstehen, wie und wann die Europäer Begriffe wie Individualismus, Freiheit und Menschenrechte entwickelt haben.

Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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