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EINFÜHRUNG:
VERNUNFT UND FORTSCHRITT

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Als die Europäer den Erdball zu erkunden begannen, überraschte sie weniger die Existenz der westlichen Hemisphäre, als vielmehr das Ausmaß ihrer eigenen technologischen Überlegenheit über den Rest der Welt. Nicht nur die stolzen Völker der Maya, Azteken und Inka waren den europäischen Invasoren gegenüber vollkommen hilflos, sondern ebenso die legendären Zivilisationen des Ostens: China, Indien und sogar die islamische Welt waren unterentwickelt gegenüber dem Europa des 17. Jahrhunderts. Wie war das möglich? Wie kam es, dass zwar viele Völker die Alchemie betrieben, sie aber nur in Europa die Chemie zur Folge hatte? Warum besaßen über Jahrhunderte nur die Europäer solche Dinge wie Brillen, Kamine, präzise Uhrwerke, schwere Kavallerien oder ein System der musikalischen Notation? Wie konnten Völker, die aus der Barbarei und dem Schutt des untergegangenen römischen Reiches erwachsen waren, den Rest der Welt derart überflügeln?

Verschiedene Autoren haben den westlichen Erfolg in jüngster Zeit an örtlichen Gegebenheiten festgemacht. Doch hatte der gleiche Kontinent schon lange Zeit europäische Kulturen beherbergt, die wiederum den asiatischen weit unterlegen waren. Andere Autoren verbinden den Aufstieg des Westens mit Stahl, Waffen oder Segelschiffen; noch andere führen ihn auf einen besonders ertragreichen Ackerbau zurück. Doch ist das Problem dabei, dass all diese Begründungen auf etwas aufbauen, was zuvor einmal geklärt werden müsste: Warum waren und sind die Europäer solche Meister der Metallurgie, des Schiffbaus oder der Landwirtschaft? Um hierauf die richtige Antwort zu finden, muss die Dominanz des Westens zusammen mit dem Aufstieg des Kapitalismus gesehen werden, schon weil letzterer ausschließlich in Europa entstand. Selbst die ärgsten Feinde des Kapitalismus gestehen ihm eine vormals ungeahnte Produktivität und eine nie gekannte Fortschrittsfähigkeit zu. In ihrem »Kommunistischen Manifest« schreiben Karl Marx und Friedrich Engels, dass die Menschen vor dem Kapitalismus »in der trägsten Bärenhäuterei« verharrten und dass das kapitalistische System »massenhaftere und kolossalere Produktivkräfte geschaffen hat, als alle vergangenen Generationen zusammen«. Der Kapitalismus macht dieses »Wunder« möglich, indem er erzielte Erträge immer wieder neu investiert, um damit die Produktivität zu erhöhen – sei es durch größere Leistung oder verbesserte Technologie – und gleichermaßen Führungs- wie Arbeitskräfte mittels steigender Löhne anzuspornen.

Doch auch wenn man annimmt, dass der Kapitalismus für Europa den einen großen Schritt nach vorn bedeutete, bleibt immer noch zu klären, warum er gerade dort gemacht wurde. Manche erkennen die Wurzeln des Kapitalismus in der Reformation, andere in diversen politischen Umständen. Gräbt man jedoch etwas tiefer, wird deutlich, dass das eigentliche Fundament des Kapitalismus sowie des westlichen Erfolges überhaupt in einem besonders starken Glauben an die Vernunft bestand.

Dieses Buch erkundet eine Reihe von Entwicklungen, in denen die Vernunft jeweils den Sieg davontrug und der abendländischen Kultur ihr spezifisches Gepräge gab. Der wichtigste dieser Siege fand innerhalb des Christentums statt. Während die anderen Weltreligionen besonderen Wert auf das Mysterium und die Intuition legten, machte allein das Christentum die Logik und Vernunft zu Orientierungshilfen für seine religiöse Wahrheit. Das christliche Vertrauen in die Vernunft war zwar von der griechischen Philosophie beeinflusst. Wichtiger jedoch ist, dass diese Philosophie sich nicht auch auf die griechischen Religionen auswirkte. Diese verharrten in der altbekannten Sphäre des Mysterien-Kults, in der man sich mit Doppeldeutigkeiten und logischen Widersprüchen zufriedengab, da man in ihnen Grundbausteine der heiligen Ursprünge erkannte. Ähnliche Annahmen, die die grundsätzliche Unerklärlichkeit der Götter betrafen, ebenso die intellektuelle Überlegenheit der Introspektion, dominierten auch alle anderen Weltreligionen. Demgegenüber lehrten die Kirchenväter von Anfang an, dass das größte Geschenk Gottes die Vernunft ist, welche es gerade ermöglicht, das Verständnis der Bibel und der Offenbarungen progressiv zu vergrößern. Folglich war das Christentum immer auch der Zukunft zugewandt, wohingegen die anderen Religionen der Vergangenheit den Vorzug gaben. Im Grundsatz, wenn auch nicht immer in der Praxis, konnte die christliche Glaubenslehre stets im Namen des Fortschritts, so er nur vernünftig erschien, modifiziert werden. Ermutigt durch die Scholastiker und verkörpert durch die großen, von der Kirche gegründeten Universitäten, durchdrang der Glaube an die Kräfte der Vernunft die gesamte westliche Kultur und befeuerte die Wissenschaft wie die Entwicklung der Demokratie in Theorie und Praxis. Der Aufstieg des Kapitalismus war nicht zuletzt ein Sieg jener durch die Kirche inspirierten Vernunft. Denn in seiner Essenz ist der Kapitalismus nichts anderes als eine systematische und fortwährende Anwendung der Vernunft auf dem Gebiet des Handels – etwas, das zunächst in den großen Klöstern betrieben wurde.

Im vergangenen Jahrhundert haben westliche Intellektuelle häufig den europäischen Kolonialismus auf seine christlichen Ursprünge zurückgeführt. Dagegen sahen sie nur sehr ungern ein, dass das Christentum in keiner Weise (es sei denn durch Intoleranz) den westlichen Dominanz-Ansprüchen zugearbeitet hat. Stattdessen wird behauptet, der Erfolg des Westens habe sich erst dann wirklich eingestellt, als er die religiösen Fortschritts-Schranken hinter sich ließ, besonders solche, die die Wissenschaft behinderten. Das ist jedoch Unsinn. Der Erfolg des Westens einschließlich des Emporkommens der Wissenschaft hatte zur Gänze eine religiöse Grundlage; ebenso waren die Menschen, die ihn herbeiführten, fromme Christen. Leider sehen selbst solche Historiker, die dem Christentum eine formende Kraft im westlichen Fortschritt zugestehen, günstige Faktoren allein auf Seiten der protestantischen Reformation, wobei selbst diese bloß religiöser Natur gewesen sein sollen. Es klingt dann so, als wären die vorangegangenen fünfzehnhundert Jahre der Christenheit entweder unwichtig oder gar schädlich gewesen. Akademischer Anti-Katholizismus dieser Prägung war verantwortlich für das berühmteste Buch, das je über den Kapitalismus geschrieben wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Soziologe Max Weber eine Studie1, die schon bald große Wirkung haben sollte: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus.1 Darin vertritt er die Ansicht, dass der Kapitalismus deshalb seinen Ursprung in Europa hatte, weil von allen Weltreligionen allein der Protestantismus den Menschen eine moralische Vision darbot, in der sie einerseits ihren materiellen Konsum beschränkten und andererseits entschieden Glück und Reichtum suchten. Vor der Reformation, so Weber, sei die Konsumbeschränkung notwendig mit Askese und folglich mit einer Verurteilung des Handels einhergegangen. Im Umkehrschluss habe man das Streben nach Reichtum stets mit verschwenderischem, liederlichem Konsum gleichgesetzt. Weder das eine noch das andere Muster hätte sich mit dem Kapitalismus vertragen. Laut Weber wurden diese althergebrachten Verknüpfungen erst durch die protestantische Ethik über den Haufen geworfen, indem diese nämlich eine ganze Kultur sparsamer Unternehmer hervorbrachte, die es zufrieden waren, ihre Profite systematisch zu reinvestieren, um so noch größere Gewinne zu erzielen. Und genau darin liege der Schlüssel zum Kapitalismus und zum Aufstieg des Abendlandes.

Es mag an der Eleganz dieser These gelegen haben, dass sie im großen Stil übernommen wurde, selbst wenn sie offensichtlich falsch ist. Noch heute wird der Protestantischen Ethik unter Soziologen2 ein fast heiliger Status zuerkannt, auch wenn Wirtschaftshistoriker Webers erstaunlich schlecht dokumentiertes3 Werk schon seinerzeit auf der unbestreitbaren Grundlage abqualifizierten, dass der europäische Aufstieg des Kapitalismus bereits Jahrhunderte vor der Reformation stattgefunden hatte. Hugh Trevor-Roper sagt es so: »Die Vorstellung, dass der großangelegte Kapitalismus vor der Reformation ideologisch unmöglich gewesen sei, wird schon dadurch ausgehebelt, dass es ihn ja gegeben hat.«4 Nur eine Dekade nach Webers Buch trug der berühmte Henri Pirenne5 eine Vielzahl von Literaturnachweisen zusammen, die allesamt »den Umstand belegen, dass das gesamte Grundinventar des Kapitalismus – Alleinunternehmertum, Kreditvorschüsse, kommerzieller Profit, Spekulationen usw. – bereits vom 12. Jahrhundert an in den Stadtrepubliken Italiens, Venedig, Genua oder Florenz, zu finden war«. Eine Generation später beklagte der ebenfalls vielgefeierte Fernand Braudel, dass »zwar alle Historiker dieser dürftigen Theorie (der protestantischen Ethik) entgegengetreten sind, es aber keiner geschafft hat, sie ein für allemal zu widerlegen. Und das obwohl sie eindeutig falsch ist. Die Länder des Nordens übernahmen einfach eine Position, die zuvor lange und wirkungsvoll von den alten kapitalistischen Zentren des Mittelmeerraumes besetzt worden waren. Sie selbst haben keinerlei Erfindungen gemacht, weder in technologischer noch betriebswirtschaftlicher Hinsicht.«6 Darüber hinaus waren diese kapitalistischen Zentren des Nordens in der kritischen Phase ihrer Wirtschaftsentwicklung allesamt katholisch, nicht protestantisch – die Reformation lag noch in ferner Zukunft.

John Gilchrist, ein führender Historiker des Wirtschaftslebens in den mittelalterlichen Kirchen, hat von einem anderen Punkt aus dargelegt, dass die ersten Beispiele für den Kapitalismus in den großen christlichen Klöstern zu finden waren.7 Ebenso ist es bewiesen, dass noch im 19. Jahrhundert die protestantischen Regionen und Länder des Kontinents8 den katholischen Gegenden keineswegs voraus waren, vom »rückständigen« Spanien abgesehen.9

Aber auch wenn Weber falsch lag, ging er völlig zu Recht davon aus, dass religiöse Vorstellungen beim Aufstieg des Kapitalismus in Europa eine höchst vitale Rolle gespielt haben. Die materiellen Vorbedingungen für den Kapitalismus waren auch in anderen Zivilisationen gegeben, etwa in China, der islamischen Welt, Indien, Byzanz und vermutlich auch im alten Rom und in Griechenland. Doch ging keine dieser Gesellschaften voran und entwickelte den Kapitalismus, da keine von ihnen eine ethische Vision besaß, die mit einem dynamischen Wirtschaftssystem kompatibel gewesen wäre. Stattdessen huldigten die führenden Religionen fernab des Westens der Askese und prangerten das Profitstreben an, während gleichzeitig habgierige Eliten die von Kleinbauern und Handeltreibenden erwirtschafteten Gewinne zu einem Gutteil wieder einstrichen.10 Warum haben sich die Dinge in Europa anders entwickelt? Weil sich die Christen dort einer rationalen Theologie anheimgaben – ein Umstand, der später zwar auch die Reformation hervorgebracht haben mag, der dieser jedoch um mehr als ein Jahrtausend vorausging.

Gleichwohl hat sich der Kapitalismus nur an manchen Orten entwickelt. Warum nicht überall? Weil es in manchen europäischen Gesellschaften wie auch im großen Rest der Welt viele gierige Despoten gab, die ihn verhindern wollten. Was dort fehlte, war ein Grundbestandteil der kapitalistischen Entwicklung, nämlich die Freiheit. Hier schließt sich eine weitere Frage an: Warum war die Freiheit fast überall auf der Welt ein so seltenes Gut und wie kam es, dass einige Staaten des europäischen Mittelalters sie gehegt und gepflegt haben? Auch hierfür war ein Sieg der Vernunft verantwortlich. Noch lange bevor einer dieser europäischen Staaten seine Regierung in die Hände einer gewählten Versammlung legte, hatten christliche Theologen bereits Theorien über Fragen der Gleichheit und der individuellen Rechte aufgestellt. So beruhen etwa die späteren Arbeiten eines solch »säkularen« politischen Theoretikers des 18. Jahrhunderts wie John Locke auf egalitären Axiomen, die bereits vorher von Kirchengelehrten erarbeitet worden waren.11

Um es zusammenzufassen: der Aufstieg des Westens beruhte auf vier grundlegenden Siegen der Vernunft. Der erste war die Genese des Fortschrittsglaubens in der christlichen Theologie. Der zweite war die Übertragung und Einspeisung dieses Glaubens in technologische und organisatorische Innovationen, von denen viele aus dem Klosterleben stammten. Der dritte Sieg beruhte darauf, dass die Vernunft dank der christlichen Theologie ebenso die politische wie die praktische Philosophie durchdrang, und zwar bis zu dem Punkt, an dem hierfür empfängliche Staaten im mittelalterlichen Europa den Weg für ein großes Ausmaß an persönlicher Freiheit ebneten. Der letzte Sieg beinhaltete die Anwendung der Vernunft auf den Handelsverkehr, was schließlich zur Entwicklung des Kapitalismus in den sicheren Häfen jener willigen Staaten führte. Durch genau diese Siege wurde das Abendland groß.

Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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