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Der Aufschwung des Individualismus
ОглавлениеMan vergleiche die Dramen Shakespeares mit denen der alten Griechen. Colin Morris wies darauf hin, dass Ödipus sein trauriges Ende gar nicht kraft seiner Taten verdient hatte. Sein »persönlicher Charakter … spielt in seinem Unglück überhaupt keine Rolle, dieses wird ihm von einem Schicksal verordnet, das von seinen Begierden ganz unabhängig ist«.64 Nicht, dass Ödipus keine Fehler gehabt hätte, doch ging mit seinem Vergehen keinerlei Schuldbewusstsein einher; er fiel einfach seiner Bestimmung zum Opfer. Im Gegensatz dazu waren Othello, Brutus oder das Ehepaar Macbeth alles andere als Gefangene eines blinden Schicksals. Wie Cassius es gegenüber Brutus ausdrückt: »Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in den Sternen, sondern in uns selbst.«65
Es ist viel geschrieben worden über die Ursprünge des Individualismus.66 All diese Bücher und Artikel sind sicher sehr gelehrt und mitunter sogar übertrieben fachkundig. Doch haftet ihnen auch etwas seltsam Vages und Ausweichendes an, womöglich, weil sie sich scheuen ihre eigene Grundthese offen auszusprechen: dass nämlich die westliche Vorliebe für den Individualismus durch das Christentum herbeigeführt wurde.
Seit Anbeginn lehrt das Christentum, dass die Sünde eine persönliche Angelegenheit sei, dass sie also nicht vorrangig in einer Gruppe zu finden sein könne, sondern jedes Individuum sich um sein persönliches Seelenheil selbst zu kümmern habe. Vielleicht ist für die christliche Hervorhebung des Individualismus nichts so wichtig wie die Doktrin des freien Willens. Wenn der Fehler, wie Shakespeare schrieb, »in uns selbst liegt«, dann nur deshalb, weil wir überhaupt eine Wahl haben und es uns obliegt, sie richtig zu treffen. Anders als bei den Griechen und Römern, deren Götter bemerkenswert wenige Werte kannten und die sich kaum um menschliches Fehlverhalten scherten (es sei denn, man hatte die Götter nicht gebührend gnädig gestimmt), ist der christliche Gott ein Richter, der die »Tugend« belohnt und die »Sünde« bestraft. Dieses Konzept ist mit dem Fatalismus nicht vereinbar. Etwas anderes zu behaupten, liefe darauf hinaus, für die eigenen Sünden Gott verantwortlich zu machen. Es hieße, dass Gott die Sünden nicht nur bestraft, sondern sie auch selbst ins Werk setzt. Eine solche Idee liefe der gesamten christlichen Vorstellungswelt zuwider. Die Ermahnung »Geh hin und sündige nicht mehr« würde ins Leere laufen, wären wir bloße Gefangene unseres Schicksals. Ganz im Gegenteil beruht das Christentum auf der grundlegenden Doktrin, dass den Menschen die Möglichkeit und damit auch die Verantwortung mitgegeben ist, über ihre Handlungen selbst zu entscheiden. Wieder und wieder hat Augustinus betont, dass wir »einen Willen besitzen« und dass »daraus folgt, dass, wer immer auch rechtschaffen zu leben wünscht, dies auch erreichen kann«.67 Dies widerspricht auch gar nicht der Lehre, dass Gott bereits im Voraus weiß, welche Wahl wir treffen werden. In Widerrede zu den griechischen Philosophen beteuerte Augustinus, »dass einerseits Gott alles weiß, bevor es geschieht, und dass andrerseits wir all das mit freiem Willen tun, was immer wir nach dem Zeugnis unserer Empfindung und unseres Bewusstseins nur mit freiem Willen tun. Dagegen behaupten wir nicht, dass alles auf Grund eines Fatums geschehe«.68 Während Gott zwar weiß, für welche Handlungen wir uns frei entscheiden werden, greift er doch nicht ein! Es bleibt daher uns überlassen, die Tugend oder die Sünde zu wählen.
Augustinus’ Ansichten fanden in Generationen christlicher Denker ihren Nachhall. Thomas von Aquin etwa griff sie auf, als er schrieb, dass die Lehre, der zufolge die Menschen eine moralische Wahlfreiheit hätten und Gott dennoch omnipotent sei, keineswegs einen Widerspruch in sich berge: »Ein Mensch kann seine Handlungen seinerseits bestimmen und leiten. Die Kreatur nimmt daher teil an der göttlichen Vorsehung nicht nur, indem sie beherrscht wird, sondern auch indem sie selbst herrscht.«69 Augustinus nahm sogar bereits Descartes’ berühmtes »Ich denke, also bin ich« vorweg,70 etwa in Aussagen wie diesen: »Ohne daß sich irgendwie eine trügerische Vorspiegelung der Phantasie und ihrer Gebilde geltend machen könnte, steht mir durchaus fest, daß ich bin, daß ich das weiß und es liebe. In diesen Stücken fürchte ich durchaus nicht die Einwendungen der Akademiker, die da entgegenhalten: Wie aber, wenn du dich täuschest? Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich natürlich auch nicht täuschen; und demnach bin ich, wenn ich mich täusche … Folglich täusche ich mich auch darin nicht, daß ich um dieses mein Bewußtsein weiß. Denn so gut ich weiß, daß ich bin, weiß ich eben auch, daß ich weiß.«71
Der Gedanke des freien Willens kam zwar ursprünglich nicht von den Christen (Cicero hatte bereits Ähnliches wie Augustinus gesagt72), doch war er für sie viel mehr als eine obskure Angelegenheit der Philosophie. Der freie Wille war vielmehr das Grundprinzip ihres Glaubens. Während die gewöhnlichen Griechen und Römer dem Fatalismus zusprachen, ungeachtet der Vorbehalte mancher ihrer alten Philosophen, lehrte Jesus dagegen, dass jedes Individuum für seine moralischen Fehltritte einstehen und büßen müsse, weil diese eben falsche Entscheidungen darstellten. Es hätte keine zwingendere intellektuelle Gewichtung des Selbst und der Individualität geben können als diese.