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Der christliche Glauben in seinem Fortschritt

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Auch das Judentum und der Islam haben sich das Bild eines Gottes zu eigen gemacht, dem eine Theologie hätte zur Seite gestellt werden können, doch ließen ihre Gelehrten dieses Feld unbestellt. Stattdessen sehen sowohl das traditionelle Judentum14 wie die Muslime in der Heiligen Schrift vor allem einen Gesetzestext, der verstanden und angewandt werden muss und nicht eine Grundlage für Untersuchungen in der Frage nach dem letzten Sinn. Daher fassen Gelehrte das Judentum und den Islam oft als »orthopraktische« Religionen auf, denen es vor allem um die korrekte (ortho) Anwendung (praxis) von Glaubenssätzen geht und die »ganz fundamental die Einhaltung von Gesetzen und Regeln im Gemeinschaftsleben betonen«. Dagegen bezeichnen die Gelehrten das Christentum als »orthodoxe« Religion, weil es das korrekte (ortho) Fürwahrhalten (doxa) hervorhebt und »das Hauptaugenmerk auf den Glauben und seine intellektuelle Strukturierung durch das Credo, den Katechismus und die Theologien« legt.15 Bei einer typischen Kontroverse zwischen jüdischen und muslimischen Denkern geht es darum, ob eine bestimmte Handlung oder Erfindung (etwa die Reproduktion der Heiligen Schrift durch die Druckerpresse) im Einklang mit dem bestehenden Gesetz ist. Eine typische christliche Kontroverse ist dagegen doktrinär und befasst sich etwa mit Themen wie der Heiligen Dreifaltigkeit oder der Immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens.

Natürlich haben auch führende christliche Denker sich mit dem Gesetz beschäftigt und manch jüdischer wie muslimischer Gelehrter sich mit theologischen Fragen auseinandergesetzt. Und doch haben die drei Glaubensrichtungen an dieser Stelle sehr verschiedene Stoßkräfte und besondere Konsequenzen.

Rechtsauslegungen beziehen sich auf Präzedenzfälle und werfen daher sozusagen ihre Anker in die Vergangenheit, während das Bemühen um ein besseres Verständnis der göttlichen Natur dagegen von einer Möglichkeit des Fortschritts ausgeht. Und genau diese Annahme des Fortschritts ist es, die den entscheidendsten Unterschied zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen ausmachen dürfte. Sieht man vom Judentum ab, begreifen die anderen großen Glaubensrichtungen die Geschichte entweder als endlos wiederholten Kreislauf oder als unabwendbaren Niedergang – so soll Mohammed gesagt haben: »Die beste aller Generationen ist meine eigene, gefolgt von der nächsten und dann wiederum der nächsten.«16 Im Gegensatz dazu haben Judentum und Christentum eine richtungsweisende Konzeption der Geschichte, die in die Wiederkehr Christi und das Millennium mündet. Allerdings betont die jüdische Vorstellung der Geschichte nicht so sehr den Fortschritt, als vielmehr das Moment der Sequenz, des Nacheinanders, wohingegen das Christentum die Idee des Fortschritts verinnerlicht hat. John Macmurray schrieb dazu: »Daß wir überhaupt an so etwas wie Fortschritt denken, zeigt das ganze Ausmaß des christlichen Einflusses.«17

Die Dinge lägen vielleicht anders, hätte Jesus eine schriftliche Mitteilung hinterlassen. Doch anders als Mohammed und Moses, deren Schriften als göttliche Übermittlungen aufgefasst wurden, hat Jesus nie etwas verfasst, so dass die Kirchenväter von Anfang an aus den Implikationen seiner Worte – einer Sammlung von Aussagen, die nur der Erinnerung der Evangelisten entstammten – ihre Schlüsse ziehen mussten. Das Neue Testament ist kein vereinheitlichtes Dokument, sondern eine Sammelschrift.18 Demzufolge steht im Hintergrund aller theologischen Deduktion stets das Wort des Paulus: »Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk ist unser prophetisches Reden.«19 Man vergleiche dies mit der zweiten Sure des Korans: »Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist.«20

Von Anfang an gingen christliche Theologen davon aus, dass der Gebrauch der Vernunft zu einem umso genaueren Verständnis des Willen Gottes führe. Augustinus bemerkte, dass, obwohl »es in der Heilslehre gewisse Dinge gibt, die wir uns noch nicht erschließen können […], wir eines Tages dazu fähig sein werden«.21 Doch Augustinus rühmte nicht nur den theologischen, sondern auch den weltlichen, materiellen Fortschritt. Bereits im 5. Jahrhundert schrieb er: »Sind nicht durch den Menschengeist so viele und großartige Künste erfunden und betätigt worden, teils unentbehrliche, teils dem Vergnügen dienende, dass die überragende Kraft des Geistes und der Vernunft selbst auch in ihren überflüssigen oder sogar gefährlichen und verderblichen Strebungen davon zeugt, welch herrliches Gut sie ihrem Wesen nach ist, welches es ihr ermöglichte, derlei Dinge zu erfinden, sich anzueignen und zu betätigen. Zu welch wunderbaren, staunenswerten Erzeugnissen ist menschliche Betriebsamkeit im Bekleidungs- und Baugewerbe gelangt; wie weit hat sie es in der Bodenbebauung, in der Schifffahrt gebracht …« Und weiter hob er hervor, »welch große Kenntnis hat diese Kraft des Geistes und der Vernunft in Maß und Zahl erlangt, mit welchem Scharfsinn die Bahnen und Stellungen der Gestirne erfasst; welche Unsumme von Wissen über die Dinge der Welt hat sie gespeichert!« All das gehe zurück auf das »höchste und unwandelbare Gute«, das Gott seinem Geschöpf mitgegeben habe, nämlich eine »vernunftbegabte Natur«.22

Augustinus’ Zuversicht war typisch; der Fortschritt lockte die gesamte Christenheit. Gilbert de Tournai schrieb im 13. Jahrhundert: »Niemals werden wir die Wahrheit finden, wenn wir uns mit dem begnügen, was wir bereits wissen … Was vor unserer Zeit geschrieben wurde, sind keine Gesetze, sondern Wegweiser. Die Wahrheit steht uns allen offen, da wir sie noch nicht zur Gänze besitzen.«23 Daran schließt sich an, was Fra Giordano 1306 in Florenz gepredigt hat: »Weder sind alle Künste bereits ausgeschöpft worden, noch werden wir mit ihnen je an ein Ende kommen. Man sollte jeden Tag eine neue Kunst freilegen.«24 Vergleichen wir dies mit der zur gleichen Zeit vorherrschenden Überzeugung in China, wie Li Yen-Chang sie charakterisierte: »So die Gelehrten dahin gebracht werden, ihre Aufmerksamkeit einzig auf die Klassiker zu richten und man sie davon abhält, sich mit dem vulgären Tun späterer Generationen zu befassen, wird es dem Kaiserreich fürwahr wohlergehen!«25

Das christliche Bekenntnis zum Fortschritt mittels der Rationalität erreichte seinen Höhepunkt in der Summa theologica des heiligen Thomas von Aquin, die im späten 13. Jahrhundert in Paris veröffentlicht wurde. Dieses Monument der rationalen Theologie besteht aus logischen »Beweisen« christlicher Doktrinen und diente allen späteren christlichen Theologen als Maßstab. Da Thomas zufolge allen menschlichen Wesen der hinreichende Intellekt fehle, um direkt in das Wesen der Dinge zu blicken, sei es nötig, dass sie sich ihren Weg in die Erkenntnis Schritt für Schritt mit Hilfe der Vernunft bahnen. Aus diesem Grund sprach sich Thomas, selbst wenn er die Theologie als die höchste der Wissenschaften betrachtete, da sie sich unmittelbar mit göttlichen Offenbarungen befasse, für den Gebrauch der Werkzeuge der Philosophie aus, besonders für logische Prinzipien, mit denen erst eine Theologie begründet werden sollte.26 Folgerichtig gelang es ihm, mit der Kraft der Vernunft in Gottes Schöpfung den profundesten Humanismus auszumachen.27

Doch hätten sich Thomas von Aquin und seine vielen begabten Kollegen niemals in der rationalen Theologie hervortun können, wenn sie Jehova als ein unerklärliches Wesen betrachtet hätten. Sie konnten ihre Bemühungen nur rechtfertigen, indem sie in Gott die Verkörperung der Vernunft schlechthin sahen.28 Überdies mussten sie, da sie Gottes Willen auf fortschrittliche Weise zu erschließen suchten, akzeptieren, dass die Bibel nicht stets und nicht wörtlich zu verstehen sei. Auch dies entsprach der konventionellen christlichen Sichtweise, da, wie Augustinus anmerkte, »unterschiedliche Dinge unter diesen Worten zu verstehen seien, die wiederum alle wahr sind«. Augustinus gestand sogar offen ein, dass späteren Lesern mit Gottes Hilfe einmal ein Verständnis gewisser Bibelstellen möglich sein werde, obwohl derjenige, der sie niederschrieb, »sie gar nicht verstanden hat«. Und er fährt fort: »Wenn also jeder sich bestrebt, in der heiligen Schrift das zu erkennen, was der Verfasser dachte, wie kann es dann böse sein, wenn er darin findet, was du, Licht aller derer, welche die Wahrheit aufrichtig suchen, ihm als wahr zeigst, wenn auch der, dessen Worte er liest, dies nicht dachte, so dachte er doch Wahres, wenn auch nicht gerade dieses.«29 Da Gott darüber hinaus unfähig sei, Fehler zu machen, könne der Grund, warum die Bibel der Erkenntnis zu widersprechen scheine, nur an einem Verständnisproblem des »Verfassers« liegen, welcher Gottes Worte fixierte.

Diese Ansichten standen in völligem Einklang mit dem christlichen Grundsatz, dass Gottes Offenbarungen sich stets am jeweils aktuellen menschlichen Verständnisvermögen orientierten. Im 4. Jahrhundert schrieb der heilige Johannes Chrysostomos, dass selbst die Seraphe Gott nicht als das erkennen könnten, was er ist. Stattdessen sähen sie »etwas, das an ihre Natur angepasst ist und sich zu dieser herablässt. Zu dieser Herablassung kommt es, wenn Gott erscheint, allerdings nicht als der, der er ist. Stattdessen zeigt er sich dem, der ihn doch nicht ganz zu erschauen vermag, gerade soweit, dass dieser ihn ein stückweit erblickt. Auf diese Weise lässt Gott sich proportional zu der Schwäche derer erkennen, die seiner gewahr werden.«30 Angesichts dieser langen Tradition gab es auch nichts ansatzweise Ketzerisches an der These Johannes Calvins, dass Gott seine Offenbarungen den Grenzen des menschlichen Verständnisses anpasse und etwa der Autor der Genesis »ordiniert war, ein Lehrer der Ungelernten und Primitiven zu sein, nicht anders als der bereits Wissende; ohne auch krude Mittel der Instruktion zu verwenden, hätte er sein Ziel nicht erreichen können«. Das heißt, Gott »offenbart sich uns entsprechend unserer Grobheit und Schwäche«.31

Das christliche Gottesbild ist das eines Wesens, das an den menschlichen Fortschritt glaubt und sich umso vollständiger offenbart, desto mehr die Menschen ein Vermögen zu besserem Verständnis gewinnen. Da Gott zudem als vernunftbegabtes Wesen das Universum geschaffen hat, hat auch dieses notwendigerweise eine rationale, gesetzmäßige, stabile Struktur, die nur darauf wartet, von den Menschen besser verstanden zu werden. Hierin lag der Schlüssel zu manchen intellektuellen Vorhaben, von denen die Wissenschaft ein wesentlicher Teil war.

Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit

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