Читать книгу Der komplette Projektmanager - Roel Wessels - Страница 12
1.3 Sowohl Unsicherheiten erkennen als auch Commitment zeigen
ОглавлениеWer hat jemals einen Auftrag abgelehnt, weil dieser nicht hinreichend deutlich dargestellt werden konnte? Wenn ich Projektmanagern diese Frage stelle, erhalte ich die unterschiedlichsten Reaktionen. Einige sind sehr entschlossen und geben an, dass ein undeutlicher Auftrag keine Grundlage für ein erfolgreiches Projekt sei. Andere zucken mit den Schultern und antworten, dass ein vages Beschreiben des Umfangs zu Beginn eines Projekts das Standardrezept in ihrem Unternehmen ist. Sie haben es akzeptiert und sich daran gewöhnt. Das dritte &-&-& -Paradoxon “Sowohl Unsicherheiten erkennen als auch Commitment zeigen” betrifft viele Projektmanager. Commitment bedeutet, sich trotz aller Unsicherheiten (und dem Riskieren Ihrer persönlichen Integrität) vorwärts zu bewegen und hierdurch die richtigen Erwartungen bei allen Stakeholdern zu wecken.
Abbildung 1.2 Die fünf unterscheidenden Disziplinen von Multiplier- und Diminisher-Verhalten
Haben Sie jemals ein Projekt an einen Auftraggeber zurückgegeben?
Die Kultur der jeweiligen Organisation scheint bei der Beantwortung dieser Frage eine wichtige Rolle zu spielen. Die Aussage “Den Auftrag zurückzuweisen wird bei uns nicht gerne gesehen!” kommt regelmäßig vor. In vielen Unternehmen wird das Zurückweisen des Projekt-Auftrages als Versagen angesehen. Dennoch frage ich mich manchmal, ob diese Sicht der Dinge wirklich zutreffend ist oder ob es sich hierbei häufig nicht nur um eine persönliche Wahrnehmung der Projektmanager handelt, die diese daran hindert es dann überhaupt erst zu versuchen. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Buch sehen, dass nichts nur schwarz oder weiß ist und dass es immer Möglichkeiten gibt, diese Situationen trotz erwarteter Widerstände in Ordnung zu bringen und dabei beeinflussend aufzutreten. Dabei geht es also insbesondere um das Wie des Zurückgebens eines Auftrags. Und das führt oft zu interessanten Wendungen! Aber auch ganz unabhängig von Ihrem eigenen Engagement spielt es eine große Rolle, ob Ihr Auftraggeber eher ein Diminisher oder ein Multiplier ist. Ein Diminisher wird das Zurückweisen des Auftrages als Arbeitsverweigerung sehen. Der Multiplier wird es andererseits zu schätzen wissen, dass Sie mit offenen Karten spielen. Kennen Sie Ihre Pappenheimer.
Ich erinnere mich, dass ich die Möglichkeit des Zurückweisens eines Auftrages als wahren Eye-Opener erfahren habe, als ich bei einem meiner ersten Arbeitgeber begeistert mit meinem Projekt beginnen wollte. Es handelte sich um einen Arbeitgeber, mit einer ausgewiesenen Expertise im Bereich des Projekt- und Qualitätsmanagements. Ein Quality Assurance Officer, der mit der Unterstützung des Projektleiters im Bereich Qualität beauftragt war, sagte damals zu mir: “Wenn Sie keine User-Requirements-Specification vom Auftraggeber erhalten haben, dann ist es logisch, dass Sie diesen Auftrag zurückweisen, denn Sie wissen ja gar nicht, was Sie machen sollen!”. Ich habe diesen Auftrag zwar nicht zurückgewiesen, habe aber den Projektumfang mit dem Auftraggeber dann sehr scharf umrissen und definiert. Glücklicherweise empfand dieser dies als positiv und unterstützte bei der Konkretisierung des Auftrags. Kritisch bleiben, Rückgrat beweisen und mit einer vagen Fragestellung nicht direkt beginnen - so geht das! Ich bin dem damaligen Quality Assurance Officer noch immer für diese Lektion dankbar.
Zu einem späteren Zeitpunkt habe ich beim selben Arbeitgeber übrigens doch noch einen Auftrag zurückgewiesen. Aber damals wurde das Projekt unverändert einem anderen Mitarbeiter übertragen, der dies ohne zu zögern annahm. Der Projektmanager zeigte zwar Mut, aber kam später richtig ins Schwitzen, um die richtungslose Ausführung wieder in die richtigen Bahnen zu lenken und dort zu halten. Wieder eine Lektion gelernt: Das Bewerkstelligen des Paradoxons “Sowohl Unsicherheiten erkennen als auch Commitment zeigen”, kennt keinen per se richtigen Einflugwinkel.
Erwartungen erwecken Sie sofort
Ich bin der Meinung, dass sich die meisten Projektmanagementmethoden eher entsprechen, als dass sie voneinander abweichen. In Abhängigkeit von der Arbeitsdomäne und Vision haben sie einen anderen Schwerpunkt, aber hinsichtlich des Engagements können sie wunderbar aufeinander projiziert werden. Und das ist auch gut so, denn miteinander zusammenarbeitende Organisationen verwenden oft unterschiedliche Projektmanagementmethoden, was nicht zu einem Hindernis bei der Zusammenarbeit und Bewältigung des Gesamtprojekts führen sollte.
Die meisten Projektmanagementrichtlinien sind sich auch über den Zeitpunkt einig, an dem der Projektmanager offiziell Commitment hinsichtlich benötigter Zeit, Budget, Mittel, etc. zeigt. Obwohl die internationale Kompetenzrichtlinie der IPMA in diesem Punkt nicht explizit ist, kann uns der globale ICB4 Standard als Vorlage dienen. Dieser definiert, innerhalb der Kompetenz Plan and control, dass sich dieser Zeitpunkt nach Abschluss der Projekteinrichtungssphase befindet, als Teil des Meilensteins Decision to fund. Bei PRINCE2 zeigen Sie formell Ihr Commitment während der Ablieferung der Projektinitiierungsdokumente nach Abschluss der Initiierungsphase. Zu diesem Zeitpunkt wird der Projektmanagementplan nämlich als eine Art Vertrag fertiggestellt und genehmigt, so dass die Definitionsphase des Projektes abgeschlossen ist und die Ausführungsphase beginnen kann. Gegenseitige Verpflichtungen werden vom Auftraggeber und Auftragnehmer formell aufgezeichnet.
Die traditionellen Projektmanagementmethoden gehen also davon aus, dass die Aktivitäten der Definitionsphase dazu geführt haben, dass der Faktor Unsicherheit so weit minimiert wurde, dass Klarheit hinsichtlich des Projektbudgets, der Dauer, etc. besteht. Der Projektmanagementplan ist fertig und stabil, die “Denkphase” ist abgeschlossen und es kann losgehen. Wir wissen jedoch, dass die Praxis hartnäckiger ist und dass nach Abschluss der Definitionsphase oft noch erhebliche Unsicherheiten überbleiben. Gründe hierfür sind beispielsweise:
◾ Das Projektziel ist undeutlich oder ändert sich während des Projekts.
◾ Es ist zu wenig Wissen über Lösungsrichtungen bekannt, um vorab einen Plan erstellen zu können: Learning by doing während der Ausführungsphase.
◾ Die Organisation nimmt sich nicht die Zeit, alle Schritte der Definitionsphase zu durchlaufen und beginnt sofort mit der Ausführungsphase.
◾ Es ist nicht genügend Entschlussfähigkeit vorhanden, um Entscheidungen in Bezug auf Projektumfang, Lösungsrichtungen oder den Einsatz von Ressourcen zu fällen.
Ein Projektmanager muss also oft Commitment zeigen, obwohl es dafür eigentlich noch “zu früh” ist. Die Definitionsphase zu verlängern kann sicherlich unterstützen, aber auch dann bleiben oftmals noch Unsicherheiten bestehen. Und es ist immer die Frage, ob Ihnen der Auftraggeber diese zusätzliche Zeit gibt. Dafür kann es praktische Gründe geben: Z.B. das Enddatum des Projektes ist festgelegt, wodurch eine längere Bearbeitungszeit durch die Definitionsphase automatisch bedeutet, dass weniger Zeit für die eigentliche Ausführungsphase besteht. Wenn dann nicht sofort Commitment seitens des Projektleiters gezeigt wird, wird die Geduld des Auftraggebers enorm strapaziert. Oder es kann sich um einen politischen Grund handeln: Der Auftraggeber weiß eigentlich selbst, dass es so wie verlangt nicht geht, aber dennoch will er es nicht akzeptieren. Das führt Sie in ein umso größeres Dilemma: Steigen Sie in das Spiel ein oder nicht?
Vielleicht ist die Wichtigkeit des Augenblicks, an dem Sie Commitment zeigen, sowieso relativ. Denn Commitment zu zeigen können Sie zwar timen, das Wecken von Erwartungen jedoch nicht. Ich spreche regelmäßig mit Projektmanagern, die über die Tatsache empört sind, dass der Auftraggeber schon während der Definitionsphase Rückschlüsse über die Dauer und das Budget zieht, ohne dass dies formell kommuniziert worden ist. Ein logischer Gedankengang und formell haben sie Recht. Jedoch, auch wenn es kein offizielles Commitment gibt, werden Erwartungen vom ersten Moment an, ob bewusst oder unbewusst, geweckt. Und mögen diese Erwartungen auch rein informell sein, so ist sich der Auftraggeber dieses Stautuses meist nicht bewusst oder ist sich zumindest keiner Schuld bewusst. Wird den Erwartungen nicht entsprochen, so folgt die Enttäuschung auf dem Fuße. Enttäuschte Auftraggeber sind weniger flexibel und kooperativ, was von Anfang an die Gefahr einer Abwärtsspirale verursacht, noch bevor mit dem eigentlichen Projekt begonnen wurde. Und genau das wollen Sie als Projektmanager doch sicherlich nicht!
Für den Projektmanager beginnt also das Erwartungsmanagement schon von erster Sekunde des Projektes an. Und dies ist der Augenblick, an dem sehr viel noch undeutlich ist. Die Fähigkeit, während der Phase der Unsicherheit dennoch Deutlichkeit über den Projektumfang und die Ablieferungsdaten zu schaffen, ist also für einen Projektmanager von entscheidender Bedeutung. Egal, ob es sich um das formelle Zeigen von Commitment handelt oder um das informelle Verarbeiten von Erwartungen.
Abbildung 1.3 Das Wecken von Erwartungen beginnt bereits weit vor dem Moment des Zeigens von Commitment
Cynefin
Unsicherheiten bezüglich Ihres Projekts machen es schwierig Commitment zu zeigen. Das sehen Sie sicherlich ein, auch wenn es sehr subjektiv erscheint. Denn wie komplex ist Ihr Projekt eigentlich? Ist der Grad der Unsicherheit tatsächlich so hoch, dass kein stabiler Plan kreiert werden kann, oder liegt es an Ihrem eigenen Unvermögen? Wie halten Sie den Auftraggeber in dieser Phase bei der Stange? Welcher Ansatz passt zur Komplexität Ihres Projekts?
Eine Antwort auf die Frage nach der Komplexität Ihres Projektes kann das Cynefin-Modell (sprich [kih-neh-vin]) bieten (Snowden, 2007). Dieses Modell wurde von Professor Dave Snowden entwickelt und ist benannt nach einem walisischen Wort mit der Bedeutung: “Mehrere Faktoren aus unserer Umwelt und in unseren Erfahrungen beeinflussen uns in einer Weise, die wir nie ganz verstehen können.” Das Cynefin-Modell hilft festzustellen, unter welchen Typ von Komplexität und Unsicherheit das Projekt fällt. Darüber hinaus gibt es eine gute Indikation, welche Aktionen und Lösungsformen hierzu passen können und welche nicht. Dadurch wird es auch zu einem Decision-Making-Instrument, das bei der Auswahl des am besten geeignenten Projektansatzes unterstützt.
Snowden teilt Situationen und Probleme in vier Quadranten ein (Abbildung 1.4), mit einem passenden Stufendiagramm für jeden Quadranten:
1. Einfach (Erkennen Kategorisieren Reagieren): Die Lösung ist im Voraus bekannt und einfach zu planen.
2. Kompliziert (Erkennen Analysieren Reagieren): Es wird ein Experte benötigt, um die Lösungsrichtung zu bestimmen.
3. Komplex (Probieren Erkennen Reagieren): Frühere Lösungswege können nicht angewendet werden. Lösungsrichtung und Plan folgen nach dem Ausführen von Experimenten.
4. Chaotisch (Handeln Erkennen Reagieren): Die Erstellung eines Plans hat keine höchste Priorität. Erst eingreifen und die Krise abwenden, danach möglicherweise die Lösungsrichtung und den Plan bestimmen.
Interessant ist, dass Dave Snowden zwischen einfachen und komplizierten Situationen auf der einen Seite und komplexen und chaotischen Situationen auf der anderen Seite unterscheidet. Bei den einfachen bzw. komplizierten Situationen ist die Lösung nämlich vorab bekannt: einfache Situationen können von jedem gelöst werden, während man für kompliziertere Probleme einen Experten benötigt. So gibt es ein ausreichendes Maß an Berechenbarkeit, um einen Plan erstellen und mit der Projektausführung beginnen zu können.
Bei komplexen und chaotischen Situationen ist dies nicht der Fall, da viele Faktoren unvorhersehbar sind oder sich ständig ändern. Bei komplexen Situationen werden Experimente benötigt, aus denen man lernen kann; routinemäßige Handlungen und bisherige Standardlösungen funktionieren meist nicht. Es besteht eben gerade Bedarf an einer innovativen und kreativen Art und Weise, wie gearbeitet werden soll. Erst probieren, und anschließend einen Plan erstellen. Chaotische Situationen hingegen erfordern sofortiges Handeln. Es herrscht eine Krise und darauf muss akut eingegangen werden, um die Ordnung wiederherzustellen. Anschließend kann untersucht werden, was die richtigen Folgehandlungen sind. Erst handeln und später mit der Definitionsphase beginnen.
Was ich persönlich an dem Modell von Snowden gut finde, ist, dass es meinen gesunden Menschenverstand beim Treffen von Entscheidungen hinsichtlich des Projektansatzes unterstützt. Einfache und komplizierte Projekte sind von Anfang an vorhersehbar und daher planbar. Stecken Sie daher besser alle Energie in das Erhalten der richtigen Informationen oder in die richtigen Experten und nicht in Brainstorming, Experimentieren oder andere Ablenkungen. Und stecken Sie Ihre Energie in das Erhalten eines eindeutigen Bildes mit dem Team. Es gibt immer so viele Hypothesen über den richtigen Weg wie Beteiligte; auch bei vorhersehbaren Projekten! Die Definitionsphase ist eine Frage von harter Arbeit, Kommunizieren, Entscheidungen treffen und sich nicht ablenken zu lassen bis ein Plan vorliegt. Just do it!
Bei komplexen Projekten ist dies anders. Es ist Ihnen selbstverständlich einleuchtend, dass zu dieser Kategorie die meisten Projekte gehören, die sich mit dem Entwickeln von neuen Produkten oder Dienstleistungen beschäftigen. Ebenso wie Projekte, bei denen viele Menschen und verschiedenartige Interessen betroffen sind, wie Reorganisationen und Arbeitsprozessverbesserungen. Zu Beginn dieser Projekte fehlt in der Regel noch das Wissen über die Vorgehensweise und Lösung. Abhängig vom Grad der Komplexität können Sie Unsicherheiten möglicherweise während der Definitionsphase abbauen. So kann beispielsweise eine Machbarkeitsstudie (nach Snowden: Probieren-Wahrnehmen-Reagieren) in kurzer Zeit die erforderliche Klarheit bringen oder die Unsicherheiten eingrenzen. Auf diese Wesie bringen Sie das Projekt, noch bevor Sie Ihr Commitment zeigen müssen, von “komplex” zu “kompliziert.” Ihr Commitment zeigen Sie dann anschliessend auf der Grundlage eines vorhersehbaren Projektverlaufs mit einem klaren Plan für die Ausführungsphase. Bei Projekten mit mehr Unsicherheiten oder Veränderlichkeit ist dies nicht möglich. Bei diesen Projekten beginnt die Projektausführung, während noch signifikante Unsicherheiten bestehen und zum Teil massive Veränderungen zu erwarten sind. Komplexe Projekte benötigen demnach viel Sachverstand und Kreativität vom Projektmanager, der sich dann verstärkt mit dem &-&-& -Paradoxon “Sowohl Unsicherheiten sehen als auch Commitment zeigen” konfrontiert sieht. Dies gilt natürlich in einem noch höheren Maße für Projekte in der chaotischen Domäne.
Abbildung 1.4 Das Cynefin-Modell von Dave Snowden
Welche Projekttypen haben Sie laut dem Cynefin-Modell bereits bewältigt?
Abschließend möchte ich Ihnen zwei Besonderheiten, die Dave Snowden mit seinem Modell berührt, nicht vorenthalten. Zunächst kennt das Modell noch eine Klassifikation, nämlich die Unordnung. Eine Situation erhält den Status Unordnung, wenn Sie nicht beurteilen können, in welchem der zuvor genannten Quadranten sich diese befindet. Dies ist eine für den Projekterfolg äußerst gefährliche Situation. Ein Projektmanager, der beispielsweise zu wenig die Regie übernimmt, kann das Projekt in Unordnung enden lassen. Die Projektmitglieder werden in ihre persönlichen Komfortzonen zurückfallen, wobei sie die falschen Entscheidungen treffen, da sie ihre Arbeitsweise nicht dem Problemtypen anpassen. Unordnung können Sie an Aussagen wie “Wir machen das doch immer so” erkennen. Es ist wichtig, bei einer solchen Situation sofort einzugreifen und diese Domäne schnellstmöglich zu verlassen.
Das andere Element ist der besondere Wechsel von einfach zu chaotisch. Dieser wird auch schon einmal der katastrophale Übergang genannt. Organisationen, die systematisch Situationen oder Veränderungen unterschätzen (fälschlicherweise also vereinfachen), können im Chaos versinken. Snowden nennt dies: “Complacency leads to failure”, also “Selbstzufriedenheit führt zum Scheitern”.