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Dux Dalmatiae: Die Herrscher Dalmatiens 1000–1198

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Das Adriatische Meer ist gewissermaßen ein flüssiges Spiegelbild Italiens: ein lang gezogener Kanal, 770 Kilometer lang und 160 Kilometer breit, der sich an seinem südlichsten Punkt stark verengt, wo er bei der Insel Korfu in das Ionische Meer übergeht. An seinem nördlichsten Punkt, in der weit geschwungenen Bucht von Venedig, ist das Wasser seltsam blaugrün. Hier liefert der Fluss Po Tonnen von Schwemmmaterial aus den fernen Alpen an, das sich ablagert und Lagunen und Marschland bildet. Die Menge dieses abgelagerten Materials ist so groß, dass sich das Po-Delta jedes Jahr um viereinhalb Meter nach vorne schiebt und die alte Hafenstadt Adria, nach der das Meer benannt ist, heute 22 Kilometer im Landesinneren liegt.

Die beiden Küsten, die das Adriatische Meer begrenzen, sind in geologischer Hinsicht höchst unterschiedlich: Die westliche italienische ist ein leicht geschwungener, tief gelegener Meeresstrand. Sie eignet sich nur schlecht für die Anlage von Häfen, bietet möglichen Angreifern aber ideale Landungsmöglichkeiten. Segelt man Richtung Osten, wird das Schiff schließlich an Kalkstein stoßen. Die Küsten von Dalmatien und Albanien erstrecken sich in Luftlinie über eine Länge von 640 Kilometern. Sie sind jedoch so stark mit schützenden Höhlen, Einbuchtungen, vorgelagerten Inseln, Riffen und Untiefen durchsetzt, dass sich eine Gesamt-Küstenlinie von 3200 Kilometern ergibt. Hier liegen die natürlichen Ankerplätze dieses Meeres, in denen sich eine ganze Flotte verstecken oder in den Hinterhalt legen kann. Dahinter schließen sich schroffe Kalksteinberge an, manchmal abgesetzt von der Küstenebene, manchmal nahe am Wasser, die eine Barriere zwischen dem Meer und dem Hochland des Balkan bilden. Die Adria ist die Grenze zwischen zwei Welten.

Jahrtausendelang – von der Bronzezeit bis zur Umsegelung Afrikas durch die Portugiesen – war diese Bruchlinie eine Meeresstraße, die Mitteleuropa mit dem östlichen Mittelmeerraum verband, und ein Tor zum Welthandel. Schiffe fuhren an der schützenden dalmatinischen Küste entlang mit Gütern aus Arabien, Deutschland, Italien, dem Schwarzen Meer, Indien und dem Fernen Osten. Viele Jahrhunderte beförderten sie Bernstein zur Grabkammer von Tutanchamun, blaue Fayence-Perlen von Mykene nach Stonehenge, Zinn aus Cornwall zu den Schmelzöfen der Levante, Gewürze aus Malakka an die Höfe Frankreichs, Wolle aus den Cotswolds zu den Kaufleuten in Kairo. Holz, Sklaven, Baumwolle, Kupfer, Waffen, Saatgut, Erzählungen, Erfindungen und Ideen reisten an diesen Küsten hinauf und hinab. »Es ist erstaunlich«, schrieb ein arabischer Reisender im 13. Jahrhundert über die Städte am Rhein, »dass es an diesen Orten, obwohl sie so weit im Westen liegen, Gewürze gibt, die man sonst nur im Fernen Osten findet – Pfeffer, Ingwer, Nelken, Speik, Costus und Galgant, allesamt in großen Mengen.«1 Diese Güter wurden über die Adria herangeschafft. Dies war die Stelle, an der sich Hunderte von Lebensadern vereinigten. Von Britannien und der Nordsee, den Rhein hinab, über ausgetretene Pfade durch die teutonischen Wälder und über Alpenpässe suchten sich Kolonnen von Packtieren ihren Weg zu jener Bucht, an der die Handelswaren aus dem Osten ankamen. Hier wurden die Güter umgeladen, und die Hafenstädte florierten. Zuerst das griechische Adria, dann das römische Aquileja, schließlich Venedig. Am Adriatischen Meer kam es vor allem auf die Lage an: Adria versandete; Aquileja in der Küstenebene wurde im Jahr 452 von Attilas Hunnen zerstört; in der Folgezeit blühte Venedig auf, weil es unzugänglich war. Die Gruppe tief gelegener, schlammiger Inseln, gelegen in einer von der Malaria heimgesuchten Lagune, war durch einige wertvolle Kilometer flachen Wassers vom Festland getrennt. Dieser wenig ansprechende Ort sollte der Umschlagsplatz und der Deuter der Welten werden, und die Adria das Tor zu ihm.

Von Beginn an waren die Venezianer anders. Die erste, eher beschauliche Momentaufnahme, die wir von ihnen besitzen, stammt von dem byzantinischen Gesandten Cassiodor aus dem Jahr 523 und weist bereits auf eine besondere Lebensweise hin, die durch Unabhängigkeitsstreben und Demokratie geprägt war:

»Ihr nennt sehr viele Schiffe euer eigen … (und) …ihr lebt wie die Seevögel eure Behausungen sind verstreut über die Oberfläche des Wassers. Die Festigkeit des Bodens, auf dem ihr steht, ist abhängig von Weidengerten und Flechtwerk; dennoch zaudert ihr nicht, ein solch zerbrechliches Bollwerk der Wildheit des Meeres entgegenzusetzen. Euer Volk verfügt über einen großen Reichtum – die Fische, die für alle ausreichen. Bei euch gibt es keinen Unterschied zwischen Arm und Reich; ihr esst alle dieselbe Nahrung; eure Häuser sind alle ähnlich. Neid, der die übrige Welt regiert, ist euch fremd. Ihr verwendet all eure Kraft auf die Salzfelder; aus ihnen erwächst eurer Wohlergehen, und sie verleihen euch die Macht, all jene Dinge zu erwerben, die ihr nicht selbst habt. Denn es mag Menschen geben, die wenig Verlangen nach Gold verspüren, doch keiner kann ohne Salz leben.«2

Die Venezianer waren schon damals Transporteure und Lieferanten, die die Bedürfnisse anderer Menschen befriedigten. Ihre Stadt war aus Marschland herausgestampft worden und ruhte unsicher auf Eichenpfählen, die in den Schlamm eingegraben waren. Sie war den Launen des Meeres ausgesetzt, unbeständig. Außer den Äschen und Aalen aus der Lagune und ihren Salzpfannen erzeugte sie nichts – keinen Weizen, kein Holz, kaum Fleisch. Sie war in hohem Maße verwundbar durch Hunger; die einzigen Fertigkeiten ihrer Bewohner waren das Navigieren und das Befördern von Gütern.

Bevor Venedig zu einem Weltwunder wurde, war es eine Kuriosität; seine Gesellschaftsstruktur war der Außenwelt rätselhaft, seinem Verhalten misstraute man. Ohne Land konnte kein Feudalsystem entstehen, keine klare Trennung zwischen Rittern und Leibeigenen. Ohne Landwirtschaft bildete Geld das Tauschmittel. Die Adeligen waren Handelsherren, die eine Flotte befehligen und ihren Gewinn sehr genau berechnen konnten. Durch die Mühsal des Lebens wurden die Bewohner zusammengeschweißt in einem Akt patriotischer Solidarität, der Selbstdisziplin erforderte und ein gewisses Maß an Gleichheit – so wie die Besatzungsmitglieder eines Schiffes alle gleichermaßen den Gefahren der Tiefe ausgesetzt sind.

Venedig war etwas Besonderes aufgrund seiner geografischen Lage, seiner Lebensweise, seiner politischen Institutionen und religiösen Überzeugungen. Es lebte zwischen zwei Welten: dem Land und dem Meer, dem Osten und dem Westen und gehörte zu keiner von beiden. Es unterstand zunächst den griechisch sprechenden byzantinischen Kaisern in Konstantinopel und bezog seine Kunst, sein Zeremoniell und seine Handelsgüter aus der byzantinischen Welt. Doch die Venezianer waren andererseits lateinische Katholiken und damit nominell dem Papst untertan, dem Antichristen in den Augen der Byzantiner. Zwischen diesen gegensätzlichen Kräften versuchten sie sich einen gewissen Freiraum zu erkämpfen. Sie stellten sich wiederholt gegen den Papst, der darauf mit der Exkommunikation der gesamten Stadt reagierte. Sie widersetzten sich tyrannischen Regierungsmodellen und errichteten im 7./8. Jahrhundert eine Republik, die von einem Dogen geführt wurde, den sie jedoch so vielen Beschränkungen unterwarfen, dass er beispielsweise von Ausländern keine Geschenke entgegennehmen durfte, die den Wert eines Topfes mit Kräutern überstiegen. Sie duldeten keine übertrieben ehrgeizigen Notabeln und keine besiegten Admiräle, die sie ansonsten in die Verbannung schickten oder hinrichteten, und entwickelten ein Wahlsystem zur Unterbindung von Korruption, das so kompliziert und verschlungen war wie die Kanäle in ihrer Lagune.

Die Grundhaltung, die ihre Beziehung zur Außenwelt bestimmen sollte, entwickelte sich schon sehr früh. Die Stadt wollte Handel treiben, wo immer sich Gewinne erzielen ließen. Dies war ihr Grundprinzip und ihre Überzeugung, und sie beanspruchte für sich eine gewisse Sonderstellung. Das trug ihr weithin Misstrauen ein. »Sie brachten vieles vor, um sich zu rechtfertigen … woran ich mich nicht mehr erinnern kann«, schimpfte im 14. Jahrhundert ein Kirchenmann, nachdem er erlebt hatte, wie sich die Republik gerade eines weiteren Vertrages entledigt hatte (obwohl er sich schmerzlich genau an die Einzelheiten entsinnen konnte), »außer daran, dass sie meinten, sie seien gewissermaßen eine Quintessenz und gehörten weder der Kirche noch dem Kaiser, weder zum Meer noch zum Land.«3 Bereits im 9. Jahrhundert bekamen die Venezianer Schwierigkeiten mit den Herrschern von Byzanz und den Päpsten, weil sie Kriegsgerät an das muslimische Ägypten verkauften, und um das Jahr 828 gelang es ihnen, während sie vorgaben, das Handelsverbot mit dem Islam zu befolgen, unter den Augen muslimischer Zöllner den Leichnam des heiligen Markus aus Alexandria herauszuschmuggeln, versteckt in einem Fass mit Schweinefleisch. Ihre Standardausrede war die wirtschaftliche Notwendigkeit: »Weil wir sonst nicht überleben können und nichts anderes kennen als den Handel.«4 Einzigartig in der Welt, wurde Venedig allein nach wirtschaftlichen Erfordernissen organisiert.

Bereits im 10. Jahrhundert verkauften die Venezianer sehr seltene Güter aus dem Orient auf den bedeutenden Märkten in Pavia oder am Po: russischen Hermelin, Purpurtücher aus Syrien, Seide aus Konstantinopel. Ein Chronist und Mönch berichtete von Kaiser Karl dem Großen, der ihm etwas farblos erschien neben seinem Gefolge, das angetan war mit orientalischen Gewändern, die venezianische Kaufleute geliefert hatten. (Die besondere Aufmerksamkeit des Klerikers erregte ein mehrfarbiges Gewand, in das Vogelfiguren eingewoben waren – offenkundig ein Gegenstand, der von empörendem ausländischem Luxus zeugte.) Den Muslimen lieferten die Venezianer Holz und Sklaven, meist Slawen, solange diese noch nicht das Christentum angenommen hatten. Venedig hatte sich mittlerweile am Eingang zur Adria etabliert und begann sich zur Handelsdrehscheibe zu entwickeln, und um die Jahrtausendwende, an Christi Himmelfahrt des Jahres 1000, brach der Doge Pietro Orseolo II., ein Mann, »der nahezu alle früheren Dogen in seiner Kenntnis der Menschen übertraf«,5 zu einer Expedition auf, mit der der Aufstieg der Republik zu Wohlstand, Macht und maritimem Ruhm seinen Anfang nehmen sollte.

An der Schwelle zum neuen Jahrtausend bewegte sich die Stadt zwischen Bedrohung und Chance. Venedig war noch nicht jene verdichtete Illusion aus blendendem Stein, die es später werden sollte, wenngleich es bereits über eine stattliche Bevölkerungszahl verfügte. Noch keine prachtvollen Palazzi säumten die große S-Kurve des Canal Grande. Die Stadt der Wunder, der Extravaganz und der Sünde, der Karnevalsmasken und der öffentlichen Spektakel war noch Jahrhunderte entfernt. Stattdessen reihten sich niedrige Holzhäuser, Anlegeplätze und Lagergebäude am Wasser aneinander. Venedig war weniger eine Einheit denn eine Ansammlung kleiner Inseln, abflussloser Marschgebiete und freier Flächen zwischen den einzelnen Siedlungen, wo die Bewohner Gemüse anbauten, Schweine und Kühe hielten und Weinreben pflanzten. Die Kirche San Marco, ein schlichter Vorgänger der großen, außergewöhnlichen Basilika, war vor kurzem durch ein Feuer verwüstet worden, und zwar im Zuge von politischen Auseinandersetzungen, bei denen ein Doge in ihrem Vorbau zu Tode kam; der Vorplatz der Kirche bestand aus festgetretenem Lehm, wurde durch einen Kanal geteilt und teilweise als Obstgarten genutzt. Hochseetaugliche Schiffe, die bis nach Syrien und Ägypten segelten, stauten sich im wirtschaftlichen Zentrum der Stadt, dem Rivo Alto – dem Rialto. Überall ragten Schiffsmasten und Spieren über die Gebäude hinaus.

Orseolo II. hatte klarsichtig erkannt, dass über die künftige Entwicklung Venedigs, vielleicht auch sein Überleben, weit jenseits des Wassers der Lagune entschieden wurde. Er hatte bereits vorteilhafte Handelsabkommen mit Konstantinopel abgeschlossen und sehr zum Missfallen christlicher Eiferer Botschafter an die vier Enden des Mittelmeeres entsandt, um ähnliche Verträge mit der islamischen Welt zu vereinbaren. Die Zukunft Venedigs lag in Alexandria, in Syrien, in Konstantinopel und an der Barbarenküste Nordafrikas, wo reichere, fortgeschrittenere Gesellschaften Gewürze, Seide, Baumwolle und Glas zu bieten hatten – Luxusgüter, die Venedig aufgrund seiner idealen Lage nach Norditalien und Mitteleuropa verkaufen konnte. Das Problem der venezianischen Seeleute bestand darin, dass die Fahrt durch die Adria in hohem Maße riskant war. In den heimischen Gewässern der Stadt, der Bucht von Venedig, herrschte Sicherheit, doch der Großteil des Adriatischen Meeres war ein gefährliches Niemandsland, in dem sich kroatische Seeräuber herumtrieben. Seit dem 8. Jahrhundert hatten sich diese slawischen Siedler aus dem oberen Balkan an der östlichen Küste Dalmatiens niedergelassen. Dies war ein Terrain wie geschaffen für die Seeräuberei. Aus ihren Schlupfwinkeln auf Inseln und aus kleinen Küstenflüssen schossen die leichten, flachkieligen Schiffe heraus und überfielen die vorbeiziehenden Handelsschiffe.

Venedig führte seit 150 Jahren einen Kleinkrieg gegen diese Korsaren. Doch diese Auseinandersetzung hatte nichts eingebracht außer Niederlagen und Demütigungen. Ein Doge war bei einer Strafexpedition getötet worden; danach hatten sich die Venezianer entschieden, sich die freie Durchfahrt ins offene Meer durch Zahlungen zu erkaufen. Nun jedoch suchten die Kroaten ihren Einfluss auf die alten römischen Städte weiter oben an der Küste zu verstärken. Orseolo II. entwickelte bezüglich dieses Problems eine klare strategische Vision, welche das Kernstück der venezianischen Politik in den Jahrhunderten bis zum Ende der Republik 1797 bilden sollte. In der Adria musste freie Durchfahrt für die venezianischen Schiffe gewährleistet sein, sonst würde Venedig dauerhaft abgeschnitten sein. Der Doge entschied, künftig keine Zahlungen mehr zu leisten, und ließ eine starke Flotte zusammenstellen, um diesen Anspruch durchzusetzen.

Orseolos Abreise wurde durch eine dieser schicksalsträchtigen Zeremonien begleitet, die zu einem Kennzeichen der Geschichte Venedigs werden sollten. Eine große Menschenmenge versammelte sich zum Gottesdienst vor der Kirche San Pietro di Castello in der Nähe des heutigen Arsenal. Der Bischof überreichte dem Dogen ein Siegesbanner, auf dem vielleicht zum ersten Mal der Löwe des heiligen Markus abgebildet war, golden und ungebärdig auf rotem Hintergrund, bekrönt und geflügelt und mit der aufgeschlagenen Bibel zwischen den Tatzen, der Frieden verkündete, aber auch die Bereitschaft zum Krieg. Dann gingen der Doge und seine Männer an Bord, und als der Westwind die Segel blähte, fuhren sie aus der Lagune hinaus in die ungestüme Adria. Sie hielten noch einmal kurz an, um den Segen des Bischofs von Grado in Empfang zu nehmen, dann machten sie sich auf zur Halbinsel Istrien an der Ostspitze der Adria.

Orseolos Unternehmung konnte gewissermaßen als Vorlage dienen für die spätere Politik Venedigs: Sie war eine Mischung aus kluger Diplomatie und zielgerichteter Anwendung von Gewalt. Als die Flotte die kleinen Küstenstädte passierte – Parenzo und Pola, Ossero und Zara –, erschienen die Bürger und die Bischöfe am Ufer, um dem Dogen zu huldigen und ihn mit ihren Reliquien zu segnen. Die Zweifler, die eine Unterordnung unter Venedig gegen die Bedrohung durch die Slawen abwogen, wurden schließlich durch die eindringliche Demonstration militärischer Stärke überzeugt. Die Kroaten sahen, was auf sie zukam, und versuchten, sich durch Geldzahlungen zu retten. Doch Orseolo ließ sich nicht beirren, wenngleich sein Vorhaben durch das Terrain an der Küste erschwert wurde. Der Stützpunkt der Seeräuber war gut gesichert, versteckt im sumpfigen Delta des Flusses Narenta und unzugänglich für Angreifer. Er wurde durch die drei vorgelagerten Inseln Lesina, Curzola und Lagosta geschützt, deren Felsenfestungen ein schwer zu bezwingendes Hindernis darstellten.

Mithilfe örtlicher Spione gelang es den Venezianern, eine Gruppe von narentinischen Edelleuten, die von einer Handelsreise an der italienischen Küste zurückkehrten, abzufangen. Sie nutzten sie als Druckmittel gegen die Kroaten, um diese an der Mündung des Deltas zur Aufgabe zu zwingen. Die Kroaten gelobten, künftig auf ihre jährliche Forderung nach Tributzahlung zu verzichten und die Schiffe der Republik nicht mehr zu behelligen. Nur die Inseln widersetzten sich weiterhin. Die Venezianer nahmen sich eine nach der anderen vor und gingen in ihren Häfen vor Anker. Curzola wurde im Handstreich gestürmt. Lagosta, »von wo aus sehr häufig Überfälle auf vorbeiziehende venezianische Schiffe verübt wurden, die ihrer Fracht beraubt und leer wieder weggeschickt wurden«,6 leistete hartnäckigeren Widerstand. Die Bewohner hielten ihre Felsenzitadelle für unbezwingbar. Die Venezianer nahmen sie von unten unter Beschuss; als dies wirkungslos blieb, stieg ein kleiner Stoßtrupp einen steilen Pfad hinter der Zitadelle hinauf und besetzte die Türme, in denen der Wasservorrat der Festung untergebracht war. Nach kurzer Zeit brach die Verteidigung zusammen. Die Bewohner wurden in Ketten weggeführt und das Piratennest zerstört.

Mit diesem Bravourstück machte Orseolo II. die Absichten Venedigs eindeutig klar, und für den Fall, dass die unterworfenen Städte ihre jüngsten Treueversprechen wieder vergessen sollten, tauchte er auf der Rückreise ein weiteres Mal vor ihren Häfen auf und stellte seine Geiseln und eroberten Banner zur Schau. »Er erschien auf dem Rückweg nach Venedig erneut vor der besagten Stadt und kehrte unter großem Triumph nach Hause zurück.«7 Von nun an beanspruchten der Doge und seine Nachfolger den neuen Ehrentitel Dux Dalmatiae – Herrscher Dalmatiens.

Wenn es einen bestimmten Moment gibt, der den Beginn des Aufstiegs Venedigs zur Seemacht markiert, dann war es die triumphale Rückkehr des Dogen in die Lagune. Die Niederwerfung der Narentiner Seeräuber war ein höchst bedeutsames Ereignis. Es signalisierte den Beginn der Vorherrschaft Venedigs über das Adriatische Meer, und deren Aufrechterhaltung wurde ein Hauptziel der venezianischen Politik in den folgenden Jahrhunderten bis zum Ende der Republik. Die Adria musste ein venezianisches Meer sein: nostra chaxa, wie es im venezianischen Dialekt hieß, »unser Haus«, und der Schlüssel dazu war die Küste Dalmatiens. Das war nicht immer einfach. Im Laufe der Jahrhunderte und fast bis zuletzt musste die Republik enorme Mittel aufwenden, um kaiserliche Eindringlinge und freche Seeräuber abzuwehren und aufmüpfige Vasallen im Zaum zu halten. Die dalmatinischen Städte – insbesondere Zara – versuchten wiederholt ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen, doch dies gelang nur Ragusa. Daher gab es keine rivalisierende Seemacht im Adriatischen Meer, die es mit Venedig aufnehmen konnte. Über die Adria fiel der politische und wirtschaftliche Schatten einer zunehmend raffgieriger werdenden Stadt, deren Bevölkerung im Laufe eines Jahrhunderts auf 80.000 Menschen anwuchs. Allmählich wurde die Kalksteinküste zur Kornkammer und zum Weinberg Venedigs; Marmor aus Istrien zierte die Renaissancepaläste am Canal Grande; dalmatinische Kiefern wurden zu Planken venezianischer Galeeren verarbeitet, die von Seestützpunkten an der Ostküste der Adria ausliefen. Die zinnenartige Kalksteinküste erschien vielen schon als eine Fortsetzung der Lagune.

Die Republik, die das byzantinische Talent besaß, bedeutende Siege in patriotische Zeremonien umzuwandeln, feierte künftig regelmäßig den Triumph Orseolos. Jedes Jahr am Himmelfahrtstag nahmen die Einwohner Venedigs an einer rituellen Fahrt zur Mündung der Lagune teil. Am Anfang war dies noch eine relativ schlichte Angelegenheit. Die Geistlichen, angetan mit ihren Prozessionsmänteln und Messgewändern, bestiegen eine Barke, die mit goldenem Tuch ausgekleidet war, und fuhren hinaus zu den lidi, der langen Reihe von Sandbänken, die Venedig gegen das Adriatische Meer abschirmt. Sie nahmen einen Krug Weihwasser, Salz und Olivenzweige mit hinaus zum Eingang des Meeres bei der Kirche San Nicolò al Lido, des Schutzpatrons der Seeleute, und warteten dort, am Zusammenfluss zweier Gewässer, auf den Dogen, der in seiner Bucintoro, der Goldenen Barke, erschien. Auf den Wellen schaukelnd sprachen die Priester dann ein kurzes und inniges Gebet: »Gib, o Herr, dass das Meer für uns und für alle, die darauf segeln, stets ruhig und still sein möge.«8 Dann fuhren sie auf die Bucintoro zu, bespritzten den Dogen und dessen Begleiter mittels der Olivenzweige mit Weihwasser und schütteten den Rest des geweihten Wassers in das Meer.

Im Laufe der Zeit wurde die Feier am Himmelfahrtstag, die Senza, immer aufwendiger gestaltet, doch in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende war es noch eine schlichte Segnung, eine Bitte um Schutz vor Stürmen und Seeräubern, die auf jahreszeitlichen Seefahrerritualen beruhte, die so alt waren wie Neptun und Poseidon. Diese kleine Ausfahrt spiegelte auf anschauliche Weise die Situation und das Selbstverständnis Venedigs wider. Innerhalb der Lagune gab es Sicherheit, Schutz und Frieden; in ihrem trügerischen Labyrinth aus seichten Kanälen konnten mögliche Angreifer zur Strecke gebracht und versenkt werden. Außerhalb der Lagune lagen Chancen, aber auch Gefahren. Die langen, niedrigen Sandbänke, welche die Stadt schützten, bildeten die Grenze zwischen zwei Welten, der bekannten und der unbekannten, der sicheren Welt und der gefährlichen; im Gründungsmythos Venedigs wurde der heilige Markus durch eine Sturmbö überrascht und fand erst in der Lagune wieder Sicherheit, doch die Ausfahrt aus der Lagune erfolgte nicht aus freien Stücken. Für die Venezianer stellte das Meer Leben und Tod dar, und die Senza brachte dieses Bündnis zum Ausdruck.

Christi Himmelfahrt markierte den Beginn der Schifffahrtssaison, in der man mit hölzernen Schiffen auf eine ruhige Reise hoffen konnte. Doch die Wasser der Adria waren zu jeder Jahreszeit launisch und unbeständig. Sie konnten glatt wie Seide sein oder durch den Bora, den Nordwind, wild aufgepeitscht werden. Die Römer, die keine großen Seeleute waren, fürchteten dieses Meer; Julius Cäsar wäre einmal in der Adria beinahe ertrunken, und für den Dichter Horaz gab es nichts Furchterregenderes als die Wellen, die an die Klippen Südalbaniens branden. Rudergaleeren konnten schnell unter sich auftürmenden Wogen begraben werden; Segelschiffe, die vor dem Wind fuhren, hatten in Meerengen nur wenig Manövrierspielraum. Es gibt keine lebendigere historische Darstellung der Wildheit dieses Meeres als die Beschreibung des Schicksals der normannischen Flotte, die im Frühsommer des Jahres 1081 nach Albanien segelte:

»Es schneite heftig, und Winde, die wütend von den Bergen herabbliesen, peitschten das Meer auf. Es ertönte ein schrilles Pfeifen, als sich die Wellen aufbäumten; die Ruder brachen entzwei, als die Ruderer sie in das Wasser stießen, die Segel wurden zerrissen von den Sturmböen, Rahmasten stürzten um und fielen auf die Decks … Einige der Schiffe sanken, und ihre Mannschaften ertranken, andere wurden gegen Landspitzen geschleudert und zerschellten … Viele Leichen wurden von den Wellen nach oben geschwemmt. «9

Das Meer war stürmisch, gefährlich und wimmelte von Seeräubern. Die Venezianer kämpften unablässig darum, ihren Seeweg in die Welt offen zu halten. Im Kampf gegen diese Mächte spürte Venedig seine Verwundbarkeit und brachte an der Mündung der Lagune Opfergaben dar.

Doch auch die Lidi boten keinen vollkommenen Schutz. Weil die Adria gewissermaßen eine Sackgasse ist, wirkt sich dort die Anziehungskraft des Mondes besonders stark aus, und wenn in entsprechenden Mondphasen der Schirokko, ein warmer Wind aus Syrien, das Wasser in die Bucht von Venedig treibt, und andererseits der Bora, der schroff aus der ungarischen Steppe bläst, es zurückhält, wird es gefährlich in der Lagune. Die Menschen erinnerten sich lange an die Ereignisse Ende Januar 1106, bei denen sich die ganze Kraft des Meeres zeigte. Der Schirokko hatte ungewöhnlich stark aus Süden geweht; es wurde unerträglich schwül, jeder Tag zehrte mehr an der Kraft der Menschen und Tiere. Es gab unmissverständliche Anzeichen für einen aufziehenden Sturm. Die Hausmauern begannen zu schwitzen; das Meer ächzte und verströmte einen eigenartigen scharfen Geruch; Vögel jagten kreischend umher; Aale sprangen aus dem Wasser, als versuchten sie zu fliehen. Als der Sturm schließlich losbrach, ließ ohrenbetäubender Donner die Häuser erzittern, und wolkenbruchartiger Regen ergoss sich in die Lagune. Das Meer stieg an, überspülte die Lidi, strömte durch die Öffnungen der Lagune und überschwemmte die Stadt. Es zerstörte Häuser, vernichtete Handelsgüter und Nahrungsmittelvorräte. Tiere ertranken, und die kleinen Felder wurden mit Salz bedeckt. Eine ganze Insel, die alte Stadt Malamocco, ging unter, und nur noch ihre geisterhaften Fundamente waren bei Ebbe in dem trüben Wasser zu sehen. Unmittelbar darauf brachen verheerende Brände aus, die sich durch die Holzsiedlungen fraßen, den Canal Grande hinaufrasten, 24 Kirchen erfassten und einen großen Teil der Stadt verschlangen. »Venedig wurde bis auf die Grundfesten erschüttert«,10 schrieb der Chronist Andreas Dandolo. Die Verbindung Venedigs zur materiellen Welt war fragil; es lebte stets mit der Unbeständigkeit. Im Angesicht solcher Kräfte erfuhren die Menschen ihre Verletzbarkeit und brachten Opfergaben dar.

Der neue Ehrentitel der Dogen, Dux Dalmatiae, signalisierte eine nachhaltige Veränderung der Machtverhältnisse im östlichen Mittelmeerraum. Vier Jahrhunderte war das Adriatische Meer von Rom beherrscht worden; in den folgenden sechs Jahrhunderten wurden das Meer und auch Venedig von dessen griechischsprachigen Nachfolgern, den byzantinischen Kaisern in Konstantinopel, beherrscht. Um das Jahr 1000 begann deren Macht zu schwinden, und Venedig schob sich langsam an ihre Stelle. In den kleinen steinernen Kathedralen von Zara, Spalato, Istria und Trau wurde in den Gebeten der venezianische Doge erst nach dem Namen des Kaisers in Konstantinopel genannt, doch dies war allein eine rituelle Formel. Der Kaiser war weit weg, seine Macht erstreckte sich kaum weiter als bis Korfu am Eingang zur Adria und zur italienischen Küste. Die Herrscher Dalmatiens waren in Wirklichkeit die Venezianer. Das Machtvakuum, das durch die Schwächung von Byzanz entstand, ermöglichte es ihnen, von einstigen Untertanen zunächst zu gleichberechtigten Partnern und schließlich, unter tragischen Umständen, zu den Beherrschern des byzantinischen Meeres aufzusteigen. Die Herren der dalmatinischen Küste befanden sich auf dem Vormarsch.

Das Verhältnis zwischen Byzanz und Venedig war höchst kompliziert und wurde durch eine gegensätzliche Weltsicht und heftige Stimmungsschwankungen beeinflusst, dennoch richtete Venedig den Blick stets nach Konstantinopel. Das war die große, die berühmte Stadt, das Tor zum Osten. Durch ihre Lagerhäuser am Goldenen Horn flossen die Reichtümer der übrigen Welt: russische Pelze, Wachs, Sklaven und Kaviar, Gewürze aus Indien und China, Elfenbein, Seide, Edelsteine und Gold. Aus diesen Materialien fertigten die byzantinischen Handwerker zahlreiche außergewöhnliche Gegenstände sakraler wie auch profaner Art – Reliquien, Mosaiken, Kelche mit Smaragdeinfassungen, Gewänder aus schillernder Seide –, die den Geschmack von Venedig formten. Der imposante Markusdom, neu geweiht im Jahr 1075, wurde von griechischen Architekten nach dem Vorbild der Apostelkirche in Konstantinopel entworfen; seine Künstler erzählten die Geschichte des heiligen Markus, Stein für Stein, in einer Imitation des Mosaikstils der Hagia Sophia; seine Goldschmiede und Emailleure schufen die Pala d’Oro, das goldene Altarbild, eine wunderbare Verkörperung der byzantinischen Frömmigkeit und Kunst. Der Duft der Gewürze auf den Kais von Venedig war über tausend Meilen herbeigeschafft worden aus den Gassen am Goldenen Horn. Konstantinopel war der Souk Venedigs, wo sich seine Kaufleute versammelten und Reichtümer erwarben (oder verloren). Für die ergebenen Untertanen des Kaisers war das Recht, in seinen Territorien Handel treiben zu dürfen, ihr wertvollster Besitz. Der Kaiser nutzte es seinerseits als Druckmittel, um unbotmäßige Vasallen im Zaum zu halten. Im Jahr 991 erlangte Orseolo die wertvollen Handelsrechte als Gegenleistung für die Unterstützung durch Venedig in der Adria; 25 Jahre später wurden sie der Stadt nach einem Streit wieder entzogen.

Unterschiedliche Auffassungen über den Handel bildeten eine scharfe Trennlinie. Von Anfang an missbilligten die frommen Byzantiner die amoralische Krämermentalität der Venezianer – das von ihnen beanspruchte Recht, Güter jeglicher Art von jedermann zu kaufen und an jeden weiterzuverkaufen. Um 820 beklagte sich der Kaiser bitter darüber, dass Venedig Schiffsladungen von Kriegsmaterial – Holz, Metalle und Sklaven – an seinen Feind lieferte, den Sultan in Kairo. Doch im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts begann der langsame Niedergang des Byzantinischen Reiches, das sich im Mittelmeerraum so lange behauptet hatte, und die Kräfteverhältnisse verschoben sich allmählich zugunsten von Venedig. In den 1080er-Jahren verteidigten die Venezianer die Adria gegen die starken normannischen Kriegerhorden, die es auf die Eroberung Konstantinopels abgesehen hatten. Ihre Belohnung war reichlich. Mit allem Pomp des byzantinischen Hofzeremoniells drückte der Kaiser sein goldenes Siegel (die bulla) auf jenes Dokument, das den Mittelmeerraum nachhaltig verändern sollte. Er gewährte den Kaufleuten Venedigs das Recht, in seinem Reich unbeschränkt Handel zu treiben, und befreite sie von allen Steuern. Eine große Zahl von Städten und Hafenorten wurden in dem Dokument namentlich erwähnt: Athen und Salonica, Theben, Antiochia und Ephesos, die Inseln Chios und Euböa, bedeutende Häfen an der griechischen Südküste wie Modon und Coron – unschätzbar wertvolle Anlaufpunkte für die venezianischen Galeeren – und nicht zuletzt Konstantinopel selbst.

Venedig erhielt einen erstklassigen Handelsstützpunkt am Goldenen Horn. Zu seinem Bezirk gehörten drei Kais, eine Kirche, eine Bäckerei, Läden und Lagerhäuser für die Aufbewahrung von Gütern. Obwohl nominell Untertanen des Kaisers, hatten sich die Venezianer damit im Herzen der reichsten Stadt der Welt praktisch eine eigene Kolonie aufgebaut, mit der erforderlichen Infrastruktur und zu für sie sehr vorteilhaften Konditionen. Nur der Raum um das Schwarze Meer, der Kornkammer Konstantinopels, blieb den umtriebigen Kaufleuten versperrt. In den feierlichen, gewundenen Sätzen des byzantinischen Dekrets klang leise auch jenes griechische Wort an, das ein Venezianer am liebsten hörte: Monopol. Venedigs Rivalen im Seehandel – Genua, Pisa und Amalfi – gerieten dadurch so sehr ins Hintertreffen, dass sich ihre Präsenz in der Stadt eigentlich erübrigte.

Die Goldene Bulle von 1082 war der goldene Schlüssel, der Venedig die Schatztruhe des Osthandels öffnete. Seine Kaufleute strömten nach Konstantinopel. Andere ließen sich in den kleinen Hafenorten an der östlichen Meeresküste nieder. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts waren überall im östlichen Mittelmeerraum venezianische Kaufleute anzutreffen. Ihre Kolonie in Konstantinopel wuchs auf 12.000 Menschen an, und im Laufe der Jahrzehnte ging unbemerkt der gesamte Handel von Byzanz in ihre Hände über. Sie belieferten nicht nur die hungrigen Märkte in Kontinentaleuropa mit Gütern unterschiedlichster Art, sie betätigten sich auch als Mittelsmänner und reisten rastlos hin und her zwischen den Häfen der Levante und kauften und verkauften. Ihre Schiffe durchpflügten das östliche Meer, brachten Olivenöl von Griechenland nach Konstantinopel, kauften Leinen in Alexandria und lieferten es über Akkon in die Kreuzfahrerstaaten; sie liefen Kreta und Zypern an, Smyrna und Salonica. An der Mündung des Nils in der altehrwürdigen Stadt Alexandria kauften die Händler Gewürze im Austausch für Sklaven und versuchten dabei stets geschickt das Gleichgewicht zu wahren zwischen den Byzantinern und den Kreuzrittern auf der einen und deren Feind, der ägyptischen Fatimiden-Dynastie auf der anderen Seite. Mit jedem Jahrzehnt, das verging, baute Venedig seine Handelsniederlassungen im Osten weiter aus; sein Reichtum führte zum Entstehen einer neuen Schicht wohlhabender Kaufleute. Viele der großen Familien der venezianischen Geschichte begannen in den Boomjahren dieses Jahrhunderts ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Venedig erlangte langsam eine wirtschaftliche Vormachtstellung.

Mit wachsendem Wohlstand ging Überheblichkeit einher – und Missgunst. »Sie kamen«, schrieb ein byzantinischer Chronist, »in Scharen und in großer Zahl, tauschten ihre Heimatstadt gegen Konstantinopel, von wo sie sich über das gesamte Reich ausbreiteten.« Aus diesen Bemerkungen spricht die wohlbekannte Sprache der Xenophobie11 und der wirtschaftlichen Furcht vor Einwanderern. Die italienischen Emporkömmlinge mit ihren Hüten und ihren bartlosen Gesichtern fielen sowohl durch ihr Verhalten als auch durch ihre Erscheinung in den Straßen der Stadt auf. Es wurden vielfältige Beschuldigungen gegen sie erhoben: Sie würden sich wie Bürger einer fremden Macht verhalten, anstatt wie treue Untertanen des Reiches; sie würden aus den ihnen zugewiesenen Wohnvierteln herausdrängen und überall in der Stadt Grundstücke erwerben; sie würden mit griechischen Frauen zusammenleben oder sie heiraten und dem orthodoxen Glauben entfremden; sie würden die Reliquien von Heiligen stehlen; sie seien reich, überheblich, ungebärdig, rüpelhaft, unbeherrscht. »Moralisch zügellos, vulgär … unzuverlässig, mit all den widerwärtigen Eigenschaften seefahrender Völker ausgestattet«,12 schimpfte ein anderer byzantinischer Autor. Ein Bischof von Salonica nannte sie »Seefrösche«.13 Die Venezianer wurden zunehmend unbeliebt im Byzantinischen Reich, und sie schienen überall zu sein.

Im geopolitischen Kontext des 12. Jahrhunderts war das Verhältnis zwischen den Byzantinern und ihren umherreisenden Untertanen durch ein immer heftiger werdendes Schwanken zwischen den Polen Liebe und Hass geprägt: Die Venezianer waren unausstehlich, aber auch unverzichtbar. Die Byzantiner, die ihre Stadt selbstgefällig nach wie vor als Mittelpunkt der Welt betrachteten und für die Landbesitz wesentlich mehr zählte als schnöde Geschäftemacherei, hatten ihren Handel den Lagunenbewohnern überlassen und ihre eigene Flotte verkommen lassen; dadurch wurden sie, was die Verteidigung zur See betraf, zunehmend abhängig von den Venezianern.

Die kaiserliche Politik gegenüber den aufdringlichen Fremden war unentschlossen und unstet. Das wichtigste Druckmittel des Kaisers war die Beschneidung ihrer Handelsrechte. Im Laufe eines Jahrhunderts unternahm er mehrere Versuche, den Einfluss Venedigs auf die byzantinische Wirtschaft zurückzudrängen, indem er die Republik gegen ihre wirtschaftlichen Konkurrenten Pisa und Genua auszuspielen versuchte. Im Jahr 1111 wurden Pisa Handelsrechte in Konstantinopel gewährt, 45 Jahre später auch den Genuesen. Beiden Städten wurden Steuervergünstigungen eingeräumt und Handelsviertel sowie Landungsstege in Konstantinopel zugewiesen. In der Folge wurde die Stadt zum Schauplatz erbitterter Rivalenkämpfe zwischen den italienischen Republiken, die sich bisweilen zu regelrechten Handelskriegen ausweiteten. Als der spanische Jude Benjamin Tudela 1176 nach Konstantinopel kam, erlebte er »eine lärmende Stadt; Männer kommen aus allen Ländern hierher, um zu Lande und zu Wasser Handel zu treiben«.14 Eingeklemmt zwischen den benachbarten Enklaven an den Ufern des Goldenen Horns, wurde Konstantinopel zu einer klaustrophobischen Arena für maritime Rivalitäten. Zwischen den konkurrierenden Kaufleuten kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Venezianer hüteten eifersüchtig ihre Monopole, auf die sie ihrer Ansicht nach ein Anrecht hatten aufgrund ihrer Hilfe in den Kriegen gegen die Normannen im vergangenen Jahrhundert; sie waren empört darüber, wie spätere Kaiser ihre Rechte beschnitten oder ihre Rivalen begünstigten. Die Italiener waren in den Augen der Griechen zu einer nicht mehr beherrschbaren Plage geworden, »ein Volk, das durch einen Mangel an Bildung gekennzeichnet ist und das vollständig in Widerspruch steht zu unserem edlen Sinn für Ordnung«,15 verkündeten sie mit aristokratischem Hochmut. Im Jahr 1171 erklärte Kaiser Manuel I. Komnenos die gesamte venezianische Bevölkerung in seinem Reich zu Geiseln und ließ sie für einige Jahre inhaftieren. Diese Krise konnte erst nach zwei Jahrzehnten beigelegt werden und sorgte für lang anhaltendes gegenseitiges Misstrauen. Als die venezianischen Kaufleute in den 1190er-Jahren wieder in Konstantinopel tätig werden durften, war von besonderen Beziehungen keine Rede mehr.

Vor diesem Hintergrund rief der Papst im Sommer 1198 zu einem neuen, dem vierten Kreuzzug auf.

Venedig erobert die Welt

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