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»Wie ein Hund, der zu seinem Erbrochenen zurückkehrt« Oktober 1202–Juni 1203

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Die Venezianer waren fest entschlossen, ihre eindrucksvolle Kriegsflotte unterwegs einzusetzen, um ihre Machtstellung in der oberen Adria zu festigen, widerspenstige Städte in die Schranken zu weisen, Seeräuber einzuschüchtern und Seeleute auszuheben. Während Venedig dies als legitime Bekräftigung seiner herrschaftlichen Rechte betrachtete, sahen viele Kreuzfahrer, die durch das lange Warten auf dem Lido enttäuscht waren und keinerlei Mittel mehr hatten, das gesamte Unternehmen mittlerweile als eine Entartung des Kreuzzugsgedankens an. »Sie zwangen Triest und Mugla, sich zu unterwerfen«,68 berichtete ein unbekannter Chronist freimütig, während die Flotte an der Küste entlangsegelte, »sie zwangen ganz Istrien, Dalmatien und Slawonien zu Tributzahlungen. Sie segelten nach Zara, wo ihr Kreuzzugsgelübde völlig nichtig wurde. Am Martinstag drangen sie in den Hafen von Zara ein.« Die Rücksichtslosigkeit Venedigs kam nicht überall gut an.

Die Flotte durchbrach die Sperrkette, lief in den Hafen ein und schickte sich an, Tausende Männer auszuschiffen. Die Türen der Truppentransporter wurden geöffnet; desorientierte Pferde wurden mit Scheuklappen versehen an Land geführt; Wurfgeschütze und Belagerungstürme wurden entladen und aufgebaut; vor den Stadtmauern wurden Zelte mit wehenden Bannern aufgestellt. Die Bewohner Zaras verfolgten die Unheil verkündenden Aktivitäten von den Mauern aus und kamen zu dem Schluss, dass es besser sei, sich zu ergeben. Zwei Tage nach der Ankunft der Flotte sandten sie eine Delegation zum purpurroten Zelt des Dogen, um über die Bedingungen einer Übergabe zu verhandeln. Das Unternehmen Zara war allein eine Angelegenheit der Venezianer, doch entweder aus übertriebener Genauigkeit oder weil er die Einwohner Zaras ein wenig auf die Folter spannen wollte, erklärte Dandolo, dass er darüber erst befinden könne, wenn er mit den französischen Baronen gesprochen habe. Er beschied den Abgesandten, sie sollten so lange an Ort und Stelle warten.

Zur selben Zeit traf ein Schiff aus Italien ein, welches das zornige Schreiben des Papstes brachte, was Dandolo sehr ungelegen kam – und sich für die Stadt als noch nachteiliger erweisen sollte. Das Original des Briefes ist verloren gegangen, doch sein Inhalt wurde später überliefert:

» … Wir haben uns bemüht, Euch in unserem Schreiben, das, wie wir glauben, Euch und den Venezianern zur Kenntnis gekommen ist, eindringlich zu warnen, die Länder von Christen anzugreifen oder zu verletzen … Wer dem zuwiderhandelt, soll wissen, dass er dem Kirchenbann unterworfen wird und ihm all jene Gefälligkeiten versagt bleiben werden, die der Papst den Kreuzfahrern gewährt.«69

Dies war eine außergewöhnlich deutliche Drohung. Durch die Exkommunikation wurden jene Seelen in die Verdammnis gestoßen, deren Errettung der Kreuzzug eigentlich dienen sollte. Der Brief wirkte wie ein Sprengsatz in dem fragilen Bündnis, auf dem die Expedition beruhte, und setzte all die unterschwelligen Spannungen frei, die das Unternehmen belasteten. Eine Gruppe französischer Ritter, die von dem mächtigen Simon de Montfort angeführt wurde, hatte den Abstecher nach Zara schon von Anfang an als einen Verrat des Kreuzzugsgelübdes betrachtet. Während Dandolo an einem anderen Ort mit Vertretern der Kreuzzugsbarone über die Kapitulation der Stadt verhandelte, informierten die französischen Ritter die Delegation aus Zara, die vor dem Zelt des Dogen ausharrte, darüber, dass sie sich nicht an einem Angriff auf die Stadt beteiligen würden, und erklärten: »Wenn ihr euch gegen die Venezianer verteidigen könnt, habt ihr nichts zu befürchten.«70 Um sicherzustellen, dass die Botschaft tatsächlich ihre Empfänger erreichte, rief ein anderer Ritter sie über die Stadtmauern. Ausgestattet mit dieser Zusage, kehrte die Delegation in die Stadt zurück, wo man sich nun entschloss, Widerstand zu leisten.

Dandolo hatte unterdessen die Zustimmung der Mehrheit der Barone erhalten, die kampflose Übergabe der Stadt anzunehmen, und kehrte zu seinem Zelt zurück. Doch anstatt die Delegation aus Zara empfing ihn dort der Abt Veit von Vaux, wahrscheinlich mit dem Schreiben von Innozenz, und erklärte ihm unter Berufung auf eine Vollmacht des Papstes: »Ich verbiete euch im Namen des Papstes, diese Stadt anzugreifen; denn sie gehört den Christen und ihr seid Kreuzfahrer … «71

Es kam zu einem heftigen Streit. Dandolo wandte sich erzürnt an seine Vertragspartner: »Ihr Herren, ich konnte schon über diese Stadt verfügen nach meinem Willen, und eure Leute haben sie mir wieder entrissen. Ihr habt mir euer Wort gegeben, dass ihr mir helfen werdet, sie zu erobern, und ich fordere euch auf, es zu tun.«72 Darüber hinaus, so berichtete Clari, zeigte er sich nicht bereit, sich dem Willen des Papstes zu beugen: »Ihr Herren, wisset, dass nichts mich davon abbringen wird, mich an denen zu rächen, auch nicht der Papst!«73

Die Anführer des Kreuzzugs gerieten nun in die unangenehme Lage, sich zwischen der Exkommunikation und dem Bruch eines weltlichen Vertrages entscheiden zu müssen. Beschämt und aufgebracht über Montforts Verhalten, kamen sie zu dem Schluss, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich weiter an ihre Vereinbarung mit den Venezianern zu halten – ihre Schulden konnten nur auf diese Weise abgetragen werden. Anderenfalls würde der Kreuzzug zusammenbrechen. Schweren Herzens stimmten sie schließlich dem schändlichen Plan zu: »Herr, wir werden Euch helfen, sie zu nehmen, trotz derer, die es vereiteln wollen.«74 Die unglückseligen Einwohner von Zara, die sich friedlich hatten ergeben wollen, sahen sich nun einer überwältigenden Streitmacht gegenüber. Sie versuchten, das Gewissen der Kreuzfahrer wachzurütteln, indem sie Kreuze an die Mauern hängten. Dies blieb wirkungslos. Riesige Wurfgeschütze wurden in Stellung gebracht, um die Stadtmauern zu beschießen; Mineure begannen Tunnel unter ihnen zu graben. Nach fünf Tagen war alles vorüber. Die Einwohner Zaras mussten unter für sie noch demütigenderen Bedingungen um Frieden bitten. Mit Ausnahme einiger strategischer Hinrichtungen verschonten die Venezianer das Leben der Einwohner; Zara wurde evakuiert, und die Sieger »plünderten die Stadt ohne Gnade«.75

Es war jetzt Mitte November, und Dandolo erklärte vor dem Heer, dass es nun zu spät sei, um die Seereise in diesem Jahr noch fortzusetzen; man könne den Winter bequem im milden Klima der dalmatinischen Küste verbringen. Es sei besser, mit der Weiterfahrt bis zum Frühling zu warten. Diese Pause einzulegen, war vernünftig, sogar unvermeidlich, doch der Vorschlag stürzte das Kreuzzugsunternehmen in eine weitere Krise. Die einfachen Kommandeure fühlten sich abermals schamlos ausgenutzt – und machten dafür zum größten Teil die Venezianer verantwortlich. Sie waren auf dem Lido eingesperrt gewesen, waren auf Umwege geführt worden, um christliche Städte anzugreifen, waren mittellos und getäuscht worden. Die Zeit, die für den auf ein Jahr befristeten Kontrakt mit Venedig zur Verfügung stand, verstrich unaufhaltsam, und sie waren dem Heiligen Land noch keinen Schritt näher gekommen, noch nicht einmal nach Ägypten. Die besten Stücke aus dem Beutegut aus Zara hatten sich die hohen Herren angeeignet. »Die Barone haben die Güter aus der Stadt für sich behalten und den Armen nichts gegeben«, schrieb ein unbekannter Fußsoldat. »Die Armen litten sehr unter Not und Hunger.«76 Und das Kreuzheer schuldete Venedig weiterhin 34.000 Mark.

Kurz nach der Plünderung Zaras führte der wachsende Unmut zu einem Gewaltausbruch.

»[Und als sie ihre Quartier bezogen hatten] … ereignete sich am dritten Tage gegen die Stunde der Vesper ein großes Missgeschick. Denn ein sehr großes und hitziges Handgemenge erhob sich zwischen den Venezianern und Franken, und von allen Seiten eilten sie zu den Waffen, und so groß war das Handgemenge, dass es wenige Straßen gab, in denen es nicht einen großen Kampf mit Schwertern, Lanzen, Armbrüsten und Wurfspeeren gab.«77

Nur mühsam bekamen die Kommandeure die Lage wieder in den Griff. Das Schicksal des Kreuzzugs hing an einem seidenen Faden.

Die einfachen Kreuzfahrer wussten nicht – und das hätte sie noch mehr erschreckt und verstört –, dass sie wegen des Angriffs auf die Stadt nun exkommuniziert waren. In einem Akt kreativen Krisenmanagements erteilten die Kreuzzugsbischöfe dem Heer Generalabsolution und hoben den Kirchenbann auf, wozu sie gar nicht befugt waren. Im Winter 1202/03 vertrieben sich die gewöhnlichen Soldaten die Zeit an der dalmatinischen Küste und warteten auf die Weiterfahrt, nicht wissend, dass ihre unsterblichen Seelen weiter in großer Gefahr schwebten. Die fränkischen Barone entschlossen sich, zur Rechtfertigung ihres Handelns eine Delegation nach Rom zu schicken, um dort die Lage zu sondieren. Die Venezianer jedoch weigerten sich, daran teilzunehmen: Zara sei allein ihre Angelegenheit; auf der Einnahme der Stadt beruhte das Abkommen, das zur Bezahlung der 34.000 Mark führen sollte, und solange diese Schuld nicht beglichen war, befand sich die Republik in einer kritischen Situation.

Schon bevor diese Delegation nach Rom aufbrach, erfuhr Innozenz von der Einnahme Zaras und verfasste einen wütenden Brief. Er begann mit den scharfen Worten: »An die Grafen, Barone und alle Kreuzfahrer ohne Gruß«,78 und in ähnlichem Ton ging es weiter. In kurzen, schroffen Sätzen, die wie das Donnern einer Belagerungsmaschine klangen, geißelte er die Kreuzritter wegen ihres »schändlichen Vorgehens«:79

»Ihr habt Zelte für eine Belagerung errichtet. Ihr habt die Stadt von allen Seiten umzingelt. Ihr habt ihre Mauern untergraben, nicht ohne dabei viel Blut zu vergießen. Und als sich die Bewohner eurer und der Herrschaft der Venezianer unterwerfen wollten … haben sie Kreuze an ihren Mauern aufgehängt. Doch ihr habt… zur Schande des Gekreuzigten, die Stadt angegriffen und ihre Einwohner durch Gewalt gezwungen, sich zu ergeben.«80

Nach ihrer Ankunft erklärte der Papst der Delegation, die mit Armesündermiene erschien, dass die von den Bischöfen erteilte Absolution nichtig sei. Er verlangte Buße und die Rückgabe des Raubguts. Am schärfsten jedoch wurden die Venezianer verdammt, die »die Mauern der Stadt niedergerissen, Kirchen geplündert und Gebäude zerstört haben, und ihr habt die Beute von Zara mit ihnen geteilt«.81 In Anspielung auf die biblische Geschichte vom Mann, der unter die Räuber fiel, wurden die Venezianer als Plünderer gebrandmarkt, die den Kreuzzug vom Weg abbrachten. Innozenz beharrte darauf, dass Zara kein weiterer Schaden mehr zugefügt werden dürfe – eine Anweisung, welche die Venezianer rundheraus ignorierten –, doch aufgrund der schwierigen Lage der Kreuzfahrer und weil er brennend daran interessiert war, dass der Kreuzzug nicht zusammenbrach, setzte der Papst zugleich ein Verfahren in Kraft, durch das ein Ablass erlangt werden konnte – von dem jedoch die Venezianer ausdrücklich ausgeschlossen wurden. Da aus dem Brief, mit dem die Delegation zurückkehrte, hervorging, dass das Kreuzfahrerheer weiter unter dem päpstlichen Bann stand, und einige der darin aufgestellten Forderungen, wie die Rückgabe der Beute, schlicht nicht erfüllt werden würden, wurde abermals der Inhalt des Schreibens geheim gehalten. Stattdessen wurde bekannt gegeben, dass den Kreuzfahrern allgemeine Absolution erteilt worden sei. Wie sich zeigte, waren die Einflussmöglichkeiten des Papstes auf den Kreuzzug sehr begrenzt.

Wenn Innozenz gedacht hatte, dass sich seine ärgsten Befürchtungen über die Gefährdungen in einer sündhaften Welt bewahrheitet hätten, irrte er sich. Es sollte noch viel schlimmer kommen. Die treibenden Kräfte hinter dem Unternehmen – der spirituelle Drang, die Schulden bei den Venezianern, der Geldmangel, die geheimen Vereinbarungen, der ständige Vertrauensbruch gegenüber dem Fußvolk, der drohende Zerfall des Kreuzfahrerheeres, die unerbittlich verstreichende Vertragslaufzeit – sollten dem Gang der Ereignisse eine weitere außergewöhnliche Wendung geben. Am 1. Januar 1203 kamen Boten des römischen Königs Philipp von Schwaben, Sohn Kaiser Barbarossas, nach Zara. Sie brachten einen überraschenden Vorschlag mit. Seinen Hintergrund bildete die komplizierte Geschichte von Byzanz und dessen schwieriges Verhältnis zum abendländischen Christentum. Und wie viele der geheimen Absprachen, die den Kreuzzug beeinflussten, war sein Inhalt bereits einem kleinen Kreis von tonangebenden Rittern bekannt.

Die Abgesandten erklärten unverblümt, sie seien im Auftrag von Philipps Schwager gekommen, eines jungen byzantinischen Adeligen namens Alexios Angelos, der sie um Unterstützung bitten wolle bei seinem Versuch, sein rechtmäßiges Erbe – den Thron von Byzanz – von seinem Onkel wiederzuerlangen. Angelos’ Vater Isaak war durch den gegenwärtigen Kaiser Alexios III. abgesetzt und geblendet worden. Gemäß den strengen Erbfolgegesetzen von Byzanz hatte der junge Mann keinen berechtigten Thronanspruch, doch die Feinheiten des byzantinischen Hofprotokolls waren den französischen Rittern wahrscheinlich nicht bekannt. Die Boten kamen mit einen geschickt verpackten und zeitlich gut angesetzten Vorschlag, der eine intime Kenntnis von den Nöten der Kreuzfahrer vermuten ließ: Darin verband sich ein vordergründiger Appell an die christliche Moral mit dem Angebot harter, klingender Münze:

»Ihr edlen Herren, ich werde euch den Bruder meiner Gemahlin senden und gebe ihn in die Hand Gottes und in die eurige, da ihr ausgezogen seid für Recht und Gerechtigkeit. Daher müsst ihr auch denen, die zu Unrecht enterbt sind, ihr Erbe wiederverschaffen, wenn ihr könnt; und er, der Prinz, wird mit euch den günstigsten Vertrag schließen und euch das beste Anerbieten machen, das jemals Leuten gemacht wurde, und die reichste Hilfe leisten zur Eroberung des Heiligen Landes.

Zunächst wird er, wenn Gott es gewährt, dass ihr ihn in sein Erbe wiedereinsetzen könnt, das gesamte Reich von Konstantinopel unter den Gehorsam Roms stellen, von dem es seit langem getrennt ist. Dann weiß er, dass ihr viel aufgewendet habt für den Kreuzzug Gottes und dass ihr arm seid. Deshalb wird er euch 200.000 Mark Silbers geben, und er lässt allen im Heere sagen, den Großen und den Kleinen, dass er selbst mit euch in das Heilige Land ziehen wird, oder er wird, wenn’s euch deucht, jemand mit ganzen 10.000 Mann auf seine Kosten dahin senden. Diesen Dienst wird er euch ein Jahr lang leisten, und alle Tage seines Lebens wird er 500 Ritter im Heiligen Lande auf seine Kosten halten zur Bewachung des Landes.«82

Dies waren erstaunlich großzügige Bedingungen. Das Angebot schien allen Beteiligten alle Wünsche zu erfüllen. Der Papst konnte seine sehnlichsten Ziele verwirklichen: die Unterordnung der orthodoxen Kirche in Konstantinopel unter Rom; die Kreuzritter konnten nicht nur mühelos ihre Schulden begleichen, sie würden zudem militärische Hilfe bekommen, um das Heilige Land zu erobern und auch zu halten. Der Papst, so vermutete man, würde ein solches Vorgehen zweifellos begrüßen. Und es würde auch sehr einfach sein: Angelos hatte viele Unterstützer in Konstantinopel; die Stadttore würden sich sogleich öffnen, um die Befreier von der tyrannischen Herrschaft des Kaisers Alexios III. willkommen zu heißen. »Und dieses«, schlossen die Abgesandten im beschwörenden Ton raffinierter Verkäufer, die eine einmalige Gelegenheit anpreisen, »haben wir Vollmacht, abzuschließen, wenn ihr wollt. Und wisset, dass wer solchen Vertrag ablehnt, nicht den Willen hat zu siegen.«83

Einiges an ihren Ausführungen war Wunschdenken, anderes war schlicht unwahr. Tatsächlich hatte sich Angelos schon im vergangenen Herbst mit seinem Plan an Innozenz gewandt und eine sehr ausweichende Antwort erhalten. Innozenz hatte die Kreuzfahrer bereits vor einem solchen Vorgehen gewarnt, das einen Angriff auf ein weiteres christliches Land erfordern würde, »damit sie sich nicht ihre Hände beschmutzen durch ein Gemetzel an Christen und sich dadurch gegen Gott versündigen«,84 und hatte dies auch dem byzantinischen Kaiser mitgeteilt. Alexios Angelos war jung, ehrgeizig und töricht. Er machte unkluge Versprechungen, die er nicht einhalten konnte, und erzählte den Kreuzzugsbaronen, was sie hören wollten. Doch ein kleiner Kreis fränkischer Barone war in den Plan eingeweiht und aufgeschlossen dafür. Bonifatius von Montferrat, der Anführer des Kreuzzugs, hatte aus familiären Gründen eine Abneigung gegen den byzantinischen Kaiser. Später sollte Innozenz die Verantwortung für die Folgen allein den Venezianern anlasten, doch von ihnen stammte der Plan nicht. Es ist unklar, ob Dandolo im Voraus Kenntnis von dem Vorhaben hatte, den Kreuzzug nach Konstantinopel umzuleiten; wahrscheinlich jedoch ist, dass er diese Möglichkeit mit kühlem Kopf analysierte. Er wusste zweifellos viel mehr über die inneren Mechanismen in Konstantinopel als die französischen Barone, und er setzte nicht allzu viel Vertrauen in den jungen Angelos. Und was Angelos selbst betraf, so sollte der Pakt, der in seinem Namen unterbreitet wurde, ihn schließlich das Leben kosten.

Am nächsten Tag sollte ein kleiner Kreis weltlicher und kirchlicher Führer in Zara die Entscheidung darüber treffen, ob der Kreuzzug auf seinem Weg ins Heilige Land eine zweite christliche Stadt angreifen sollte. Es kam sofort zu einer hitzigen und kontroversen Debatte, die abermals das gesamte Unternehmen zu gefährden drohte. Die Meinungen waren sehr geteilt. Der Abt von Vaux wetterte gegen das Vorhaben, denn es sei nicht ihre Aufgabe, »gegen Christen zu ziehen«;85 auf der anderen Seite wurde ein nüchterner Pragmatismus ins Feld geführt: Das Heer verfüge nur über sehr knappe Mittel, die Schulden drückten weiterhin, und dieser Plan würde ihnen Geld und Soldaten verschaffen, um schließlich das Heilige Land erobern zu können: »Und wisset fürwahr, dass von Babylon oder Griechenland aus das Heilige Land erobert werden wird, wenn dies überhaupt jemals geschehen soll, und wenn wir diesen Vertrag ablehnen, haben wir für immer die Schande.«86 Dandolo wird das Für und Wider sorgfältig abgewogen haben: Die Schulden würden umgehend beglichen werden, und in Konstantinopel würde ein Herrscher eingesetzt werden, der den Interessen Venedigs wohl gesonnen war, doch für die Venezianer stand auch viel auf dem Spiel. Die Republik machte gute Geschäfte in Konstantinopel, und ihre dort ansässigen Kaufleute konnten leicht als Geiseln genommen werden, wenn das Unternehmen fehlschlug, doch die fehlenden Mittel erwiesen sich schließlich als stärkste Triebfeder. Der Kreuzzug konnte ohne Weiteres aus Mangel an Geld und Verpflegung scheitern; wenn es jedoch gelang, Angelos ohne Probleme in das Amt einzusetzen, »würden wir einen guten Grund dafür haben, dass wir dorthin gegangen sind und uns Proviant und andere Dinge angeeignet haben … und dann werden wir auch in der Lage sein, über das Meer [nach Jerusalem oder Ägypten] zu gelangen.«87 Nach eingehender Überlegung entschloss sich Dandolo, dem Plan zuzustimmen, »zum Teil«, wie ein gegen die Venezianer eingestellter Berichterstatter schrieb, »in der Hoffnung auf das versprochene Geld (wonach diese Leute außerordentlich gierig sind), und zum Teil auch, weil ihre Stadt, die über eine starke Kriegsflotte verfügt, sich aus eigenem Recht die Oberherrschaft über dieses Meer anmaßte«.88 Dies war eine rückblickende Beurteilung der Ereignisse.

Am Ende wischte eine mächtige Gruppe französischer Barone, angeführt von Bonifatius, alle Einwände vom Tisch und stimmte für die Annahme des Vorschlags. Nun wurde in der Residenz des Dogen der Pakt unterzeichnet und besiegelt. Alexios sollte zwei Wochen vor Ostern eintreffen. Es war ein abgekartetes Spiel – das möglicherweise schon lange vor dem Aufbruch des Kreuzfahrerheeres abgesprochen worden war. Die gewöhnlichen Kreuzfahrer waren ein Spielball der Feudalherren; sie wurden dorthin geschickt, wo diese sie haben wollten und wohin die venezianischen Schiffe sie brachten. Selbst Villehardouin musste einräumen: »Und so viel sagt auch das Buch, dass aufseiten der Franzosen nur zwölf den Eid schwuren, denn sie konnten nicht mehr dazu gewinnen als diese zwölf.«89 Er gestand ein, dass der Vorschlag sehr umstritten war: »So war Zwietracht im Heere … Und wisset, dass die Herzen der Leute nicht in Ruhe waren, denn der eine Teil des Heeres arbeitete daran, das Heer aufzulösen, und der andere Teil arbeitete daran, es zusammenzuhalten.« Es gab größere Absetzbewegungen. »Viele von den kleineren Leuten gingen weg auf Handelsschiffen.«90 Auch hohe Ritter verließen das Kreuzfahrerheer. Einige kehrten enttäuscht nach Hause zurück; andere versuchten auf direktem Weg ins Heilige Land zu gelangen. 500 Männer ertranken beim Untergang eines Schiffes. Eine andere Gruppe wurde in Dalmatien von Bauern angegriffen und getötet. »So wurde das Heer von Tag zu Tag kleiner.«91

Innozenz, der von diesem neuesten frevlerischen Akt noch nichts wusste, ließ unterdessen seinen vorhergehenden Drohungen nun eine explizite Exkommunikation der unbotmäßigen Venezianer folgen, doch sein Einfluss auf den Kreuzzug schwand von Tag zu Tag. Dessen Anführer ließen seinen Brief einfach verschwinden. Als sich die Flotte darauf vorbereitete, nach Süden zu segeln, schickten sie eine halbherzige Entschuldigung nach Rom, in der Gewissheit, dass sie außer Reichweite sein würden, wenn schließlich eine Antwort eintreffen würde. Sie wurde begleitet von der hinterhältigen Erklärung, dass es Innozenz wohl auch lieber sein würde, dass sein Schreiben nicht bekannt gemacht wurde, wenn es die Gefahr des Zusammenbruchs des gesamten Unternehmens heraufbeschwören konnte. »Wir sind zuversichtlich«, schrieben sie, »dass auch Ihr es bevorzugen würdet … dass die Flotte zusammenbleibt, anstatt durch eine unerwartete Bekanntgabe Eures Schreibens zu zerfallen.«92 Als sich Dandolo schließlich zwei Jahre später beim Papst entschuldigte, sollte er dieselbe Ausflucht verwenden.

Am 20. April, nachdem sich die Ausrüstung, die Pferde und die Männer wieder an Bord befanden, brach das Hauptheer nach Korfu auf. Unterdessen hatten die Venezianer, weit entfernt davon, sich reumütig zu zeigen, Zara dem Erdboden gleichgemacht: »Alle Mauern und Türme wurden niedergelegt.«93 Nur die Kirchen blieben verschont. Venedig war entschlossen, die aufmüpfige Stadt dauerhaft zu unterwerfen. Dandolo und Montferrat blieben in Zara und warteten auf Alexios, den jungen Kronprinzen. Dieser erschien fünf Tage später – am Namenstag des heiligen Markus, ein sorgfältig gewählter Ankunftstag – »und wurde mit großen Ehren aufgenommen, und der Herzog von Venedig gewährte ihm so viele Schiffe und Galeeren, wie er brauchte«.94 Dann folgten sie dem Heer nach Korfu.

Der Kreuzzug schleppte sich von Krise zu Krise – sein Bedarf an Geld kontrastierte stets mit den fragwürdigen Mitteln seiner Beschaffung –, und die Ankunft des jungen Thronbewerbers rief anscheinend eine neue Welle des Unmuts unter den frommen Pilgern hervor. Auf Korfu wurde Alexios von den französischen Baronen zunächst mit dem einer kaiserlichen Majestät gebührenden Gepränge empfangen; sie »hießen ihn herzlich willkommen und begegneten ihm mit großer Ehrerbietung. Als der junge Mann sah, dass diese hohen Herren ihn derart ehrten, und die Streitmacht erblickte, war er aufs höchste erfreut. Dann trat der Markgraf zu ihm und führte ihn zu seinem Zelt.«95 Und dort unternahm Alexios gemäß dem Grafen von Saint-Pol einen emotionalen Erpressungsversuch: »Auf Knien und mit Tränen in den Augen flehte er uns an, mit ihm nach Konstantinopel zu ziehen.«96 Dieser Versuch ging gründlich daneben. Laut Saint-Pol entstand »großer Aufruhr und Streit. Alle riefen, wir sollten nach Akkon ziehen, und es waren nicht einmal zehn Männer, die dem Vorschlag zustimmten, nach Konstantinopel weiterzureisen.«97 Robert de Clari stellte die Meinung der gewöhnlichen Kreuzritter unverblümter dar: »Bah! Was sollen wir in Konstantinopel machen? Wir haben unsere Kreuzfahrt zu machen … Unsere Flotte wird uns nur ein Jahr folgen und die Hälfte des Jahres ist schon vorüber.«98

Der Streit war so heftig, dass mehrere einflussreiche Franken, die damit nicht einverstanden waren, das Lager verließen und an einem anderen Ort ihre Zelte aufschlugen. Nun bekamen die Führer des Kreuzzugs Angst. Laut Villehardouin »waren sie sehr verzweifelt und sagten: Ihr Herren, wir sind sehr schlecht gefahren, wenn diese Leute sich auf solche Weise von uns trennen … Dann können wir keinen siegreichen Zug mehr unternehmen.«99 In einem verzweifelten Versuch, den Zusammenbruch des Kreuzzugs noch abzuwenden, begaben sie sich zu Pferd zu den Opponenten, um diese umzustimmen. Bei diesem Treffen herrschte eine angespannte Atmosphäre. Beide Gruppen stiegen ab und gingen vorsichtig aufeinander zu, keiner wusste, was geschehen würde. Dann »fielen die Barone den anderen zu Füßen und sagten ihnen weinend, dass sie nicht aufstehen würden, bis jene versprochen hätten, sich nicht von ihnen zu trennen. Und als die anderen dies hörten, hatten sie großes Mitleid, und als sie sahen, dass ihre Freunde und Lehnsherren sie um Gnade anflehten, sagten sie, sie wollten sich darüber besprechen, und gingen beiseite.«100

Es war ein außerordentlich geschickter Manipulationsversuch, und er wirkte. Die Opponenten ließen sich durch diese anrührende Szene umstimmen und erklärten sich bereit, die Reise fortzusetzen, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Es war nun Mitte Mai, und der Chartervertrag mit Venedig lief allmählich aus. Die Anführer des Kreuzzugs mussten schwören, dass sie nach der Durchführung der Aktion in Konstantinopel unverzüglich die zur Weiterfahrt ins Heilige Land erforderlichen Schiffe bereitstellen würden, und zwar auf ihren Wunsch hin jederzeit nach dem Michaelistag, also dem 29. September. Am 24. Mai verließ die Armada die Gewässer von Korfu. Laut Villehardouin, der den Ereignissen stets eine positive Seite abzugewinnen verstand, war das Wetter an diesem Tag

» … schön und klar und der Wind gut und sanft, und sie spannten ihre Segel zum Winde …und es wurde wohl niemals ein so großes Geschwader gesehen … Denn so weit man mit den Augen schauen konnte, sah man nichts als Schiffe und Segel.«101

Wieder einmal hatte im letzten Augenblick das Scheitern des Kreuzzugs abgewendet werden können.

Doch wer genauer hinschaute, konnte erkennen, dass der Aufenthalt auf Korfu eine weitere Gelegenheit für eine Denkpause geboten hätte. Alexios hatte versprochen, dass die Byzantiner die Rechtmäßigkeit seines Anspruchs anerkennen und bereitwillig die Stadttore öffnen würden und dass sich die orthodoxe Kirche Rom unterstellen würde. Doch in Korfu wies nichts darauf hin. Die Bewohner der Stadt blieben dem gegenwärtigen Kaiser ergeben, hielten die Tore geschlossen und nahmen die venezianische Flotte im Hafen unter Beschuss und versuchten sie zu vertreiben. Und als der orthodoxe Erzbischof von Korfu einige seiner katholischen Amtsbrüder zu einem Essen einlud, erklärte er, er könne nicht erkennen, auf welcher Grundlage Rom die Oberherrschaft über seine Kirche beanspruchen könne, abgesehen von der Tatsache, dass es römische Soldaten gewesen seien, die Jesus gekreuzigt hatten.

In Rom hatten sich unterdessen die schlimmsten Befürchtungen des Papstes bewahrheitet. Er hatte mittlerweile erfahren, dass die Kreuzritter, nachdem sie Zara geplündert hatten, nach Konstantinopel weitergezogen waren. Am 20. Juni schickte er noch einmal eine zornige Botschaft: »Wir haben euch unter der Androhung der Exkommunikation untersagt, christliche Länder anzugreifen oder zu erobern … und wir warnen euch, leichtfertig gegen dieses Verbot zu verstoßen.«102 Er äußerte seine tiefste Missbilligung darüber, dass sich die Kreuzfahrer anschickten, eine zweite Sünde zu begehen, und brachte seine Abscheu in dem Ekel erregendsten Bild zum Ausdruck, das ihm zu Gebote stand: »Ein Sünder, der seine Sünde ein weiteres Mal begeht, ist wie ein Hund, der zu seinem Erbrochenen zurückkehrt.«103 Aus dem Brief geht deutlich hervor, wen Innozenz für diese Entwicklung verantwortlich machte. Er vergleicht Dandolo mit dem Pharao im 2. Buch Mose, indem er ihn beschuldigt, »unter dem Anschein von Notwendigkeit und unter dem Schleier der Frömmigkeit« die Kreuzfahrer, die als die Kinder Israels erscheinen, in Knechtschaft zu halten. Er sei »eine Person, die unserem Erfolg feindselig gesonnen ist«, ein Stück Sauerteig, »das die ganze große Menge ins Verderben stürzt«. Innozenz wies die Führer des Kreuzzuges an, das Exkommunikationsschreiben den Venezianern auszuhändigen, »damit sie keine Entschuldigung für ihre Sünden finden können«.104 Zugleich rang er mit dem schwierigen theologischen Problem, wie die Kreuzritter mit den exkommunizierten Venezianern auf ihren Schiffen umgehen sollten. Seine elliptisch formulierte Lösung war überraschend: Sie sollten zusammen mit ihnen ins Heilige Land reisen, »wo ihr, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet, ihr böswilliges Handeln unterbinden sollt, soweit es zweckdienlich ist«.105 Im Klartext bedeutete dies, dass die unbotmäßigen Venezianer umgebracht werden durften.

Doch alle Männer auf den Schiffen waren, wissentlich oder unfreiwillig, in das Unternehmen eingebunden, und überhaupt war es schon viel zu spät. Dank günstiger Winde kam die Armada gut voran und näherte sich bereits den Dardanellen, als Innozenz den Federkiel auf das Papier setzte. Vier Tage später, am 24. Juni 1203, erreichten die Kreuzfahrer den Bosporus und erblickten die unbezwingbaren Mauern Konstantinopels. Innozenz war die Entwicklung völlig entglitten. Im folgenden Monat räumte er betrübt ein: »Die Welt hebt und senkt sich wie die Flut, und es ist nicht einfach, nicht hie und da in die Gezeiten hineingezogen zu werden, und wer nicht am selben Platze ausharrt, dem wird es schwerfallen, unbewegt zu bleiben.«106 Ein sehr aussagekräftiges Bild.

Venedig erobert die Welt

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