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PROLOG
Aufbruch
ОглавлениеAm späten Abend des 9. April 1363 schrieb der Dichter Francesco Petrarca einen Brief an einen Freund. Die Republik Venedig hatte diesem berühmten Vertreter der zeitgenössischen Literatur ein stattliches Haus an der Bucht San Marco zur Verfügung gestellt, von dem aus er das geschäftige Treiben im Hafen der Stadt verfolgen konnte. Petrarca war über seinem Brief eingedöst, als er plötzlich unsanft geweckt wurde.
»Die Wolken hingen tief. Als meine müde Feder diese Stelle erreicht hatte, drang [plötzlich] lautes Rufen von Seeleuten an meine Ohren. Da ich von anderen Gelegenheiten wusste, was es bedeutete, stand ich auf und stieg in das oberste Stockwerk meines Hauses hinauf, von dem aus man den Hafen überblicken kann. Ich schaute nach unten. Großer Gott, was für ein Anblick! Ich wurde von schauderndem Entsetzen erfüllt, das ehrfurchtsvoll und erhebend zugleich war. Hier vor meiner Tür hatten einige Schiffe überwintert, vertäut an dem marmornen Kai. Sie erreichen beinahe die Größe des Hauses, das diese freie und großzügige Stadt mir zur Benutzung überlassen hat; ihre Marsstengen überragen meine Zwillingstürmchen. In diesem Augenblick, in dem die Sterne hinter Wolken verborgen sind, meine Mauern und das Dach vom Winde umtost werden und die See unter mir höllisch tobt, da rüsten sich diese Schiffe zum Auslaufen. Wer sie sieht, würde sie vielleicht nicht als Schiffe bezeichnen, sondern eher als eine Art von Berg, der auf dem Meer schwimmt, und sie sind so schwer beladen, dass ein Teil ihres Rumpfes im Wasser verschwindet. Eines dieser Schiffe sollte wahrscheinlich zum Don aufbrechen, denn dieser Fluss bildet die Grenze der Schifffahrt im Schwarzen Meer; doch einige seiner Passagiere werden dort von Bord gehen und weiterreisen und erst innehalten, wenn sie den Ganges erreicht haben und den Kaukasus und die entferntesten Teile Indiens und das Meer im Osten. Woher rührt dieses brennende, unstillbare Verlangen nach Besitztümern, das den Geist der Menschen beherrscht?«1
Der Binnenländer Petrarca war fasziniert von den ehrgeizigen Zielen dieses Unternehmens, doch der humanistische Dichter war beunruhigt vom blanken Materialismus, der es vorantrieb. Für die Venezianer gehörte das Auslaufen von Schiffsverbänden zum Alltag. In einer Stadt, in der jeder Mann rudern konnte, war das Einschiffen fast ein ähnlich unbewusster Vorgang wie das Überschreiten der Türschwelle eines Hauses. Mit einer Fähre über den Canal Grande, mit einer Gondel nach Murano oder Torcello, nächtliches Krabbenfischen in den stillen Winkeln der Lagune, das pompöse Auslaufen einer Kriegsflotte unter Trompetenfanfaren, die regelmäßigen Besuche der großen Handelsgaleeren, die nach Alexandria oder Beirut unterwegs waren – dies waren fest verankerte, alltägliche Erlebnisse eines ganzen Volkes. Das Einschiffen und das Auslaufen waren eine zentrale Metapher des Lebens in dieser Stadt, immer wieder aufgegriffen in der Kunst. Auf einem Mosaik in San Marco läuft ein Schiff mit geblähten Segeln aus, um den Leichnam des Heiligen nach Venedig zu holen; die heilige Ursula von Carpaccio schreitet über einen realistisch wirkenden Landungssteg auf ein Ruderboot, während das hochbordige Handelsschiff vor der Küste wartet; Canaletto fängt Venedig ein, wie es in Urlaubsstimmung die Segel setzt.
Die Verabschiedung war mit aufwendigen Ritualen verbunden. Alle Seefahrer vertrauten ihre Seele der Jungfrau Maria und dem heiligen Markus an. Auch der heilige Nikolaus war ein beliebter Schutzpatron, und an der ihm geweihten Kirche am Lido wurde häufig ein letztes Gebet gesprochen. Wichtigen Unternehmungen ging oft ein Gottesdienst voraus, und die Schiffe wurden regelmäßig gesegnet. Große Menschenmengen versammelten sich am Ufer, wenn die Taue eingeholt wurden. Felix Fabri, ein Pilger, der im 15. Jahrhundert auf dem Weg ins Heilige Land war, erlebte diese Szene »kurz vor der Mittagszeit; alle Pilger waren bereits an Bord, der Wind blies kräftig, dann wurden unter dem Klang von Trompeten und Hörnern die drei Segel gesetzt, und wir fuhren hinaus auf das Meer«.2 Wenn die Schiffe die schützenden Sandbänke vor den Inseln der Lagune passiert hatten, die lidi, kamen sie auf das offene Meer und in eine andere Welt.
Aufbruch. Risiko. Gewinn. Ruhm. Dies waren die Richtwerte des venezianischen Lebens. Auf Reisen zu gehen, war eine stets wiederkehrende Erfahrung der Menschen. Seit fast tausend Jahren kannten sie nichts anderes. Das Meer war für sie zugleich Schutz, Chance und Schicksal; sicher in ihrer seichten Lagune mit ihren trügerischen Kanälen und heimtückischen Sumpflöchern, in die kein Angreifer eindringen konnte, und abgeschirmt, ohne isoliert zu sein, gegen die Wellen der Adria, hüllten sie das Meer um sich wie einen Umhang. Sie änderten im venezianischen Dialekt das maskuline mare in das weibliche mar, und jedes Jahr zu Christi Himmelfahrt vermählten sie sich mit ihr. Dies war ein Akt der Aneignung – die Braut und ihre gesamte Mitgift wurden Eigentum ihres Ehemannes –, doch er diente auch der Besänftigung. Das Meer verkörperte Gefahr und Unsicherheit. Es konnte Schiffe zerschmettern und tat dies auch häufig, es konnte Feinde heranführen und drohte immer wieder damit, die Befestigungen der tief gelegenen Stadt zu zerstören. Eine Reise konnte durch einen Pfeilschuss ihr Ende finden, durch die stürmische See oder Krankheit; der Tod kam in einem Leichentuch, das, mit Steinen beschwert, in das tiefe Wasser geworfen wurde. Die Menschen hatten ein langwieriges, intensives und ambivalentes Verhältnis zum Meer; bis zum 15. Jahrhundert stellte niemand in Venedig ernsthaft die Frage, ob man sich nicht besser mit dem Land statt mit dem Meer vermählen solle, und in diesem Zeitraum entwickelten sich die Venezianer von Aalfängern, Salzsiedern und Kahnführern auf den trägen Binnenflüssen Norditaliens zu Handelsherren und Prägern von Goldmünzen. Dies brachte der verletzlichen Stadt, die, fast einem Wunder gleich, auf schmalen Eichenpfählen ruht, unermessliche Reichtümer ein und ein maritimes Reich, das seinesgleichen suchte. Im Zuge dieser Entwicklung prägte Venedig die Welt.
Dieses Buch handelt vom Aufstieg dieses Reiches, des Stato da Mar, wie die Venezianer es in ihrer Sprache nannten, und von dem wirtschaftlichen Wohlstand, den es erlangte. Die Kreuzzüge eröffneten der Republik die Chance, als Akteur auf die Weltbühne zu treten. Die Venezianer nutzten diese Chance beherzt und profitierten dabei reichlich. Im Laufe von 500 Jahren avancierten sie zu den Herren des östlichen Mittelmeerraums und gaben ihrer Stadt den Beinamen La Dominante; als sich die See gegen sie wandte, führten sie ein langwieriges Rückzugsgefecht und kämpften bis zum letzten Atemzug. Das Reich, das sie schufen, war schon recht weit gediehen zu jener Zeit, als Petrarca aus seinem Fenster schaute. Es war ein eigenartiges, zusammengestückeltes Gebilde, eine Ansammlung von Inseln, Häfen und strategischen Stützpunkten, die allein dazu dienten, den Schiffen der Republik eine Anlaufstelle zu bieten und Güter nach Hause in die Mutterstadt zu bringen. Der Aufbau dieses Reiches war eine Geschichte von Wagemut und falschem Spiel, von Glück und Beharrlichkeit, von Opportunismus und gelegentlichen Katastrophen.
In erster Linie jedoch war es eine Geschichte vom Handel. Wie keine andere Stadt der Welt war Venedig auf das Kaufen und Verkaufen ausgerichtet. Die Venezianer waren Kaufleute durch und durch; sie berechneten Risiken, Ertrag und Gewinn mit wissenschaftlicher Präzision. Das rotgoldene Löwenbanner von San Marco flatterte an den Masten ihrer Schiffe wie ein Unternehmenslogo. Der Handel war ihr Schöpfungsmythos und ihre Legitimation, und dadurch erregten sie nicht selten die Missgunst ihrer Nachbarn. Es gibt keine eindeutigere Beschreibung des Daseinszwecks der Stadt und ihrer Ängste als den Appell, den sie 1343 an den Papst richtete und in dem sie ihn darum bat, ihr den Handel mit der muslimischen Welt zu erlauben:
»Da diese Stadt dank der Gnade Gottes gewachsen ist und wohlhabend wurde durch den Fleiß ihrer Kaufleute, die für uns in unterschiedlichen Teilen der Welt, zu Lande und zur See, Handelsposten errichteten und Gewinne erwirtschafteten, und weil dies unser Leben ist und jenes unserer Söhne und weil wir nicht anders leben können und auch nichts anderes kennen als den Handel, daher müssen wir in all unseren Gedanken und bei all unseren Unternehmungen wachsam sein, wie es auch unsere Vorfahren waren, und Vorkehrungen treffen, damit wir unseren Wohlstand und unsere Reichtümer nicht einbüßen.«3
Der düstere Schluss bringt die manisch-depressive Seite Venedigs zum Ausdruck. Der Wohlstand der Stadt beruhte nicht auf etwas Handfestem – sie hatte keinen Landbesitz, verfügte über keine Rohstoffe, betrieb keine landwirtschaftliche Produktion und verfügte auch über keine große Bevölkerung. Sie hatte sprichwörtlich keinen festen Boden unter den Füßen. Ihr physisches Überleben war abhängig von einem fragilen ökologischen Gleichgewicht. Venedig war vielleicht die erste virtuelle Volkswirtschaft, deren Vitalität Außenstehende verblüffte. Sie erntete nichts außer reinem Gold und lebte in der ständigen Furcht, dass das gesamte prunkvolle Gebäude einstürzen könnte, wenn ihre Handelswege unterbrochen oder blockiert wurden.
Irgendwann verschwinden die auslaufenden Schiffe, die immer kleiner werden, schließlich hinter dem Horizont; das ist der Moment, in dem sich die Zuschauer am Kai wieder ihrem normalen Leben zuwenden. Die Seeleute nehmen ihre Arbeit wieder auf; die Hafenarbeiter stapeln Ballen aufeinander und rollen Fässer umher; die Gondoliere rudern weiter; Priester eilen zu ihrem nächsten Gottesdienst; schwarz gewandete Senatoren kehren zu ihren bedeutsamen Staatsgeschäften zurück; der Taschendieb macht sich mit seiner Beute davon. Und die Schiffe segeln hinaus aufs Adriatische Meer.
Petrarca beobachtete all dies, bis er nichts mehr sah, »und als ich den Schiffen in der Dunkelheit nicht länger folgen konnte, griff ich wieder nach meinem Federkiel, bewegt und gerührt.«4
Doch es war eine Ankunft, keine Abreise, die den Anfang des Stato da Mar markierte. Ungefähr 160 Jahre vorher, im Frühjahr 1201, wurden sechs französische Ritter über die Lagune von Venedig gerudert. Sie kamen wegen eines Kreuzzuges.