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An den Mauern Juni–August 1203

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Am 23. Juni 1203 bot sich den Einwohnern von Konstantinopel ein außergewöhnlicher Anblick, als sie von den Mauern auf den Bosporus hinausschauten: Eine gewaltige Flotte mit zehntausend Kreuzrittern an Bord näherte sich von Westen her, um ihren Kaiser zu stürzen. Viele Einwohner waren verwirrt und verblüfft; fast alle waren unvorbereitet. Zu den Zuschauern dieses maritimen Spektakels gehörte auch Niketas Choniates, ein adeliger byzantinischer Geschichtsschreiber. Als er später die Ereignisse schilderte, wurde er von schmerzlichen Gefühlen übermannt. »Bis hierher schritt meine Darstellung rüstig auf glatten Wegen dahin. Aber wie ich, was jetzt kommt, in Worte fassen soll, das weiß ich nicht“,107 schrieb er.

Choniates äußerte sich abschätzig über den gegenwärtigen Kaiser Alexios III., der seinen Bruder Isaak abgesetzt und ihm die Augen hatte ausstechen lassen, und dessen Neffe nun kam, um den Thron für sich zu beanspruchen. »Ein Mann, der nicht einmal zum Schafhirten taugte«,108 war noch sein freundlichstes Urteil über ihn. Der Kaiser war faul, vergnügungssüchtig, selbstgefällig und gleichgültig gegenüber seinen Pflichten – vielleicht aber wiegte er sich auch in Sicherheit, weil Innozenz ihm in seinen Schreiben versichert hatte, dass ein Angriff aus dem Westen untersagt war und nicht stattfinden würde. Es waren jedenfalls so gut wie keine Vorkehrungen für diesen Fall getroffen worden. Die byzantinische Kriegsflotte existierte praktisch nicht mehr – ihr Großadmiral hatte die Anker, die Segel und die Takelage verschachert. Widerwillig begann der Kaiser, »die morschen, wurmstichigen Kähne, kaum zwanzig an der Zahl, instand zu setzen«.109 Er verließ sich vielmehr auf den Schutz durch die starken Befestigungsanlagen und auf sein Heer. Konstantinopel besaß eine ideale Lage in der mittelalterlichen Welt; sein Stadtgebiet, das die Form eines Dreiecks hatte und dessen Grenzen eine Länge von 21 Kilometern umfassten, wurde an zwei Seiten durch das Meer geschützt, an der dritten durch eine mächtige, dreiteilige Mauer, die seit 800 Jahren unbezwungen war. Die Streitmacht des Kaisers umfasste rund 30.000 Mann – dreimal so viele wie das Kreuzfahrerheer – und konnte sich auf eine große, wehrhafte Bevölkerung stützen.

Viele Venezianer kannten die Silhouette Konstantinopels bereits, die vor ihrem Bug auftauchte; auf die aus dem Binnenland stammenden Ritter, welche die Mauern zum ersten Mal sahen, wirkten sie höchst beeindruckend. Der Anblick raubte vielen schier den Atem. Konstantinopel war größer als alles, was sie bisher gesehen hatten. Es war die größte Metropole der Christenheit; die Hauptstadt eines Reiches, das mittlerweile zwar ein wenig geschrumpft war, aber noch immer den größten Teil des östlichen Mittelmeerraums beherrschte, von Korfu bis Rhodos, von Kreta bis zu den Küsten des Schwarzen Meeres sowie weite Teile Kleinasiens und des griechischen Festlands. In der Stadt lebten 400.000 bis 500.000 Menschen, Venedig dagegen hatte vielleicht 60.000 Einwohner, Paris ebenso viele. Vom Wasser aus erblickten die Kreuzfahrer eine Stadt, hinter deren Ufermauern sich viele eindrucksvolle Bauwerke erhoben, die beherrscht wurden von der Hagia Sophia, deren große, freitragende Kuppel, wie ein griechischer Geschichtsschreiber bemerkte, den Eindruck erwecke, als sie sei an einer Kette am Himmel aufgehängt.

Die europäischen Geschichtsschreiber suchten nach handfesten Vergleichen, um die Dimensionen dieser Stadt zu vermitteln: »Sie hat mehr Einwohner als insgesamt in dem Gebiet zwischen der Stadt York und der Themse leben«,110 versicherte der englische Chronist Ralph of Coggenshall seinen Lesern. Bewunderung, Ehrfurcht – und wachsende Beklemmung – sprechen aus den Berichten der Augenzeugen. »Die, welche es niemals gesehen hatten, dachten nicht, dass es auf der ganzen Welt eine so reiche Stadt hätte geben können«, berichtete Villehardouin, »als sie diese hohen Mauern und reichen Türme sahen, von denen die Stadt umgeben war, und diese reichen Paläste und hohen Kirchen. Es gab so viele dort, dass keiner es geglaubt hätte, wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte; und sie sahen die Länge und Breite der Stadt, die die Königin unter den Städten ist. Und wisset, dass es keinen so kühnen Mann gab, dessen Körper nicht erschauerte.«111

Es überstieg die Vorstellungskraft der Kreuzfahrer, welche Kostbarkeiten es in Konstantinopel gab: der Marmor, die breiten Straßen, die Mosaiken, die Ikonen, das geheiligte Gold, die Schatzkammern, die alten Statuen, die in der antiken Welt erbeutet worden waren, die Heiligenreliquien und die unersetzbaren Bibliotheken. Doch die dunkle Seite der Stadt war nicht weniger beeindruckend: Die aneinandergedrängten Holzhäuschen auf den Hügeln hinunter zum Goldenen Horn beherbergten eine städtische Unterschicht, die in Armut lebte und deren Unmut sich oft in Aufruhr entlud. Das mittelalterliche Konstantinopel war ein Spiegelbild das alten Roms, ein Schmelztiegel, in dem starke Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Parteien zu chronischer Instabilität und politischen Wirren führten. Doch ihre Einwohner standen treu zum orthodoxen Glauben und wiesen Machtansprüche Roms entschieden zurück. Eine Stadt, in der die Bewohner ihre Hunde abschätzig »Rum Papa« nannten – der römische Papst –, würde wohl kaum Angelos’ optimistische Annahme bestätigen und sich bereitwillig ihrem verhassten Gegenspieler unterwerfen.

Die Venezianer waren imstande, die Lage einigermaßen realistisch einzuschätzen, denn sie profitierten von den Informationen der ungefähr zehntausend Landsleute, die in der Stadt als Händler tätig waren. Dandolo erwies sich als kluger Ratgeber und ließ die Kreuzzugsbarone an seinem Wissen teilhaben. »Ihr Herren! Ich weiß mehr von der Lage des Landes als ihr; denn ich bin früher schon hier gewesen. Ihr habt das größte und gefährlichste Wagnis auf euch genommen, das je ein Volk unternahm, und deshalb gebührt es sich, dass man weise zu Werke geht.«112 Am 24. Juni, einen Tag, nachdem die Kreuzritter Konstantinopel zu Gesicht bekommen hatten, zog ihre Flotte an den Mauern der Stadt vorbei. Es war der Namenstag von Johannes dem Täufer, und die Schiffe waren feierlich herausgeputzt, Banner und Standarten flatterten im Wind, und die Wappenschilder der Ritter hingen an den Bordwänden. Auf dem Deck schärften die Soldaten nervös ihre Waffen. Sie fuhren so dicht an den Mauern vorüber, dass sie die Menschenmenge sehen konnten, die sie von den Mauern beobachtete, und fürchteten, jeden Augenblick von einem Hagel von Wurfgeschossen empfangen zu werden.

Als sie am asiatischen Ufer gegenüber der Stadt anlegten und sich Lebensmittel zu beschaffen begannen, warteten sie zuversichtlich darauf, dass die Anhänger von Angelos sie als Befreier willkommen heißen würden. Doch diese kamen nicht. Stattdessen erschien ein Abgesandter des Kaisers und erklärte ihnen, dass dieser »sich sehr wundert, dass ihr in sein Land und sein Reich eingerückt seid. Denn er ist Christ, gerade so wie ihr, und weiß sehr wohl, dass ihr nur ausgezogen seid, um das Heilige Land … zu erobern.«113 Der Botschafter, ein Italiener, bot den Kreuzfahrern Verpflegung und Geld an, um sie schnell wieder loszuwerden, verbunden mit einer Drohung des Kaisers: »Er wird euch kein Übel zufügen, obgleich er wohl die Macht dazu hat, wenn ihr auch zwanzigmal so viele wäret, wie ihr seid.«114

Die Anführer des Kreuzfahrerheeres beschlich wachsende Unsicherheit; sie wussten nicht, wie sie weiter vorgehen sollten. Der unfreundliche Empfang irritierte sie. Wiederum war es Dandolo, der einen vorwärtsweisenden Vorschlag machte; wahrscheinlich war er von venezianischen Kaufleuten über die tatsächliche Stimmung in der Stadt in Kenntnis gesetzt worden. Um die verfahrene Situation aufzulösen, schlug er vor, sie sollten dicht an die Mauern der Stadt heranfahren, Angelos den Einwohnern präsentieren und ihnen erklären, dass sie gekommen seien, um sie von ihrem tyrannischen Herrscher zu befreien. Darauf brachen zehn Galeeren unter der weißen Fahne auf; der junge Prinz stand mit Dandolo und Bonifatius am Bug der ersten Galeere. Als sie in Rufweite an die Mauern herangekommen waren, wurde der junge Prinz dem von den Mauerrändern herabschauenden Volk präsentiert: »Seht hier euren rechtmäßigen Herrn«, rief der Herold auf Griechisch über das Wasser. »Und wisset, dass wir nicht gekommen sind, um euch Übles zu tun, sondern um euch zu helfen und euch zu schützen.«115 Es herrschte kurz Stille, dann schallte es von den Mauern: »Wir erkennen ihn nicht als unseren Herrn an; wir wissen nicht einmal, wer er ist.«116 Als den Byzantinern erklärt wurde, dass er der Sohn Isaaks sei, kam abermals die Antwort, dass man diesen Mann nicht kenne. Wahrscheinlich folgte zur Bekräftigung ein heftiger Hagel von Pfeilen. Keine einzige Person hatte Unterstützung für den Thronprätendenten bekundet. »Wir waren verblüfft«,117 berichtete Hugo von Saint-Pol. Die Kreuzritter hatten anscheinend völlig den Darstellungen von Angelos vertraut, der ihnen einen sofortigen Erfolg versprochen hatte. Die Überraschung wäre vielleicht geringer ausgefallen, wenn die Kreuzfahrer aus ihrem Empfang auf Korfu Lehren gezogen hätten. Die Griechen wollten nichts zu tun haben mit dieser Marionette des Westens, die sie Rom unterordnen wollte. Es war außerdem wenig hilfreich, dass Angelos sichtbar unter den Fittichen der unbeliebten Venezianer stand. »Und so kehrten sie zum Heere zurück und jeder ging zu seiner Herberge.«118 Es war ein ernüchternder Moment. Die Kreuzfahrer wussten nun, dass sie würden kämpfen müssen, wenn sie hier Geld und Männer für die Rückeroberung des Heiligen Grabes auftreiben wollten. Jerusalem rückte plötzlich in weite Ferne. So rüsteten sie sich zum Angriff, aber zum ersten Mal regte sich unter den Kreuzrittern Unmut über den jungen Mann, der ihnen so viel versprochen hatte – »den kindischen Tropf«,119 wie Choniates ihn abschätzig bezeichnete.

Einen Tag nach diesem enttäuschenden Empfang, am Sonntag, dem 4. Juli, hörten die Kreuzzugsbarone die Messe und besprachen anschließend das weitere Vorgehen. Abermals kamen die entscheidenden Hinweise von dem ortsund einwohnerkundigen Dandolo. Der Hafen der Stadt wurde durch das Goldene Horn geschützt, eine lang gezogene Bucht an seiner östlichen Flanke. In diesem Bereich lag die venezianische Kolonie, und hier waren die Mauern am schwächsten. Zum Schutz des Hafens hatten die Byzantiner eine eiserne Sperrkette über die Einmündung gelegt, sie begann am Turm von Galata auf der gegenüberliegenden Landspitze. Man kam überein, dass man dort landen und den Turm stürmen müsse, um der Flotte die Einfahrt in den Hafen zu ermöglichen. Die Zeit drängte mittlerweile, denn den Kreuzfahrern gingen die Vorräte aus. Am Abend legten die Männer die Beichte ab und machten ihr Testament, »denn sie wussten nicht, wann Gott ihnen seinen Willen auferlegen würde«.120 Es herrschte große Nervosität vor dem geplanten Landemanöver; »sie hatten Sorge, ob sie an Konstantinopel herankommen würden«,121 erinnerte sich Robert de Clari. Sie sollten »mit Gewalt an Land gehen, sei es zum Leben oder zum Sterben«.

Das Kreuzfahrerheer traf umfangreiche Vorbereitungen. Den Pferden wurden Schabracken aufgelegt, sie wurden gesattelt und von ihrer Rittern wieder auf die Pferdetransporter geführt. Helme wurden festgezurrt und Armbrüste gespannt. Es war ein schöner Sommermorgen kurz nach Tagesanbruch. Die venezianischen Galeeren fuhren hinaus aufs Wasser, die Lastschiffe hinter sich, um ihnen eine sichere Überfahrt über die schnell fließenden Gewässer des Bosporus zu ermöglichen. Dandolo hatte das Kommando. Die Vorhut bildeten Ruderbarken mit Armbrust- und Bogenschützen, die das Ufer räumen sollten, nachdem sie gelandet waren. Der Angriff wurde von Trompetensignalen und lautem Trommelwirbel begleitet. Es hatte den Anschein, »als sei das ganze Meer mit Schiffen bedeckt«,122 wie Clari schrieb. Der Kaiser hatte seine Truppen am Ufer zusammengezogen, um die Angreifer ins Meer zurückzutreiben. Als die Armada am Ufer landete, drängte ein Hagel aus Bolzen und Pfeilen die Verteidiger zurück; Ritter mit heruntergeklapptem Visier wateten durch das seichte Wasser; ihnen folgten Armbrustschützen, die ihre Geschosse abfeuerten. Dann wurden die Verschläge der Lastschiffe geöffnet, und die Ritter sprengten auf ihren Pferden, mit gezückten Lanzen und wehenden Seidenbannern, aus dem Bauch der Schiffe. Wahrscheinlich brach die psychologische Wirkung dieses unvermuteten Anblicks den Kampfgeist der Griechen. Die berittenen Ritter senkten ihre Lanzen und trugen einen konzertierten Kavallerieangriff vor, der so drangvoll wirkte, »als wollten sie ein Loch in die Mauer von Babylon reißen«,123 wie ein byzantinischer Historiker später bemerkte. Die Männer des Kaisers »hatten sich mit Gottes Gnade zurückgezogen, dass wir sie nicht einmal mit einem Pfeilschuss erreichen konnten«.124 Die Griechen, die sich in der besseren Ausgangssituation befanden, hätten den Platz eigentlich so verbissen verteidigen sollen wie einen Brückenkopf in der Normandie, doch widerstandslos räumten sie ihre Position. Das war kein gutes Omen für den Kaiser.

Alexios hielt noch den Turm von Galata – den Schlüssel zur Sperrkette und zum Goldenen Horn –, doch bald sollten sich die Kämpfe verschärfen. Am nächsten Morgen »zur Terz«125 begannen die Griechen mit einem Gegenangriff. Die Verteidiger des Turms unternahmen einen Ausfall und griffen das Lager der Kreuzritter am Ufer an; zugleich kam eine zweite Gruppe von Angreifern auf Barken und Schiffen über das Goldene Horn. Zunächst wurden die Kreuzritter überrascht, stellten sich jedoch schnell neu auf und warfen die Griechen zurück, die sich in den Turm zurückzuziehen versuchten, aber das Tor nicht mehr schließen konnten. Der Turm wurde nach kurzem Kampf genommen. Die Kurbel, mit der man die Kette bedienen konnte, befand sich nun in der Hand der Eindringlinge. Eines der venezianischen Schiffe, die Adler, durchbrach mit den kräftigen Winden des Bosporus im Rücken die Sperrkette und drang in den inneren Hafen vor. Die klägliche Streitmacht der byzantinischen Schiffe, die an der Kette zusammengezogen war, wurde von den nachfolgenden Galeeren auseinandergetrieben oder versenkt. Dann fuhr die venezianische Flotte in die ruhigen Gewässer des Binnenhafens von Byzanz ein und war nun so nahe an die Stadt herangekommen, dass sich der Kaiser ernsthafte Sorgen machen musste. Vier Tage später rückten die Kreuzritter weiter vor. Das Heer marschierte am Ostufer des Goldenen Horns auf und versuchte eine kleine Brücke gegenüber der nordöstlichen Ecke der Mauer zu überqueren. Hier bot sich den Griechen eine weitere Möglichkeit, die Angreifer abzuwehren; sie zerstörten die Brücke, konnten aber nicht verhindern, dass die Kreuzritter sie wieder instand setzten und sie schließlich passierten. »Keiner aus der Stadt kam ihnen entgegen, worüber man sich sehr wunderte; denn auf vier im Heere kamen zweihundert in der Stadt.«126 Das Kreuzfahrerheer schlug sein Lager auf einem Hügel unmittelbar gegenüber der Lieblingsresidenz des Kaisers auf, des Blachernen-Palastes, der in die massive Landmauer eingebaut war. Der Kaiser und seine Feinde standen sich nun in Sichtweite gegenüber. »Wir waren so nahe«, berichtete Hugo von Saint-Pol, »dass wir mit unseren Pfeilen das Dach des Palastes und die darunterliegenden Fenster treffen konnten, und die Pfeile der Griechen gingen über unseren Zelten nieder.«127

Schließlich schien Kaiser Alexios aus seiner Erstarrung – oder seiner Selbstzufriedenheit – zu erwachen und begann entschlossener gegen die Angreifer vorzugehen. Tag und Nacht wurden nun Ausfallmanöver unternommen, um den Kampfesmut der Kreuzfahrer auf die Probe zu stellen; »und wisset, dass sie nicht in Ruhe lebten«, erinnerte sich Villehardouin, »denn es verging keine Stunde des Tages noch der Nacht, ohne dass einer der Schlachthaufen vor dem Tore stand.«128 Eine bisher ungekannte Art von Verzweiflung erfasste das Kreuzfahrerlager. Die Truppe, die vor Monaten so heldenhaft ausgezogen war, um das Heilige Land zurückzuerobern, befand sich nun in der unerwarteten Lage, dass sie vor den Toren einer christlichen Stadt entweder siegen oder sterben musste. Von ihrer Position an der nordöstlichen Ecke von Konstantinopel hatten die Kreuzritter die Größe der Herausforderung vor Augen. Im Westen erstreckte sich die Landmauer in einer ununterbrochenen Linie aus dreifachen Befestigungswällen über das hügelige Terrain bis zum Horizont. Die inneren und äußeren Mauern waren mit Wachtürmen bestückt, »so dicht hintereinander, dass ein siebenjähriger Junge einen Apfel von einem zum anderen werfen konnte«.129 »Gar wunderbar war es anzusehen, denn von Konstantinopel, das drei Wegestunden Umfang nach der Landseite hat, konnte das Heer nur an eines der Tore sich heranmachen … Ihre Lage war sehr gefährlich, denn niemals ist von so wenig Leuten so viel Volk in einer Stadt belagert worden.«130

Doch Hunger trieb das Heer voran. Neben dem Streben nach Geld war die Suche nach Lebensmitteln ein ständiges Leitmotiv des Kreuzzugsunternehmens. Die Vorräte reichten nur noch für drei Wochen, und die Ritter standen unter aufmerksamer Beobachtung durch die Griechen. »Es war nicht möglich, sich Lebensmittel zu verschaffen vier Armbrustschüsse weit vom Heere«,131 erinnerte sich Villehardouin. »Ich war so verzweifelt geworden«, berichtete der adelige Hugo von Saint-Pol, »dass ich meinen Wappenrock für Brot eintauschen musste. Aber mir gelang es, mein Pferd und meine Waffen zu behalten.«132 Die Zeit lief den Kreuzfahrern davon. Sie mussten möglichst schnell eine Entscheidung herbeiführen.

Dandolo schlug vor, dass das gesamte Heer einen von Schiffen getragenen Angriff über das Goldene Horn unternehmen solle. Dort waren die Mauern am niedrigsten – es war nur ein einziger rund zehn Meter hoher Befestigungswall. Sein Plan bestand darin, von den Masten der größten Schiffe »erstaunliche, ganz vortreffliche Kriegsmaschinen«,133 nämlich improvisierte schwebende Brücken, auf die Mauern hinabzulassen, sodass die Soldaten in die Stadt eindringen konnten. Die Venezianer verfügten über die praktischen Fähigkeiten für die Konstruktion und den Bau derartiger Hilfsmittel, sie hatten auch Erfahrung mit Angriffen, die neun Meter über einem schwankenden Schiffsdeck vorgetragen wurden. Als vortreffliche Seeleute beherrschten sie alle diese Fertigkeiten. Den dem Boden verhafteten Rittern dagegen graute es davor, in der Luft und über schäumenden Wellen zu kämpfen, und sie suchten sich davor zu drücken; sie wollten mithilfe von Mauerbrechern und Notleitern einen eigenen Angriff auf die Landmauer am Blachernen-Palast unternehmen. Schließlich einigte man sich auf ein gleichzeitiges, abgestimmtes Vorgehen der Land- und der Seestreitkräfte an der Nordostecke.

Am 17. Juli, nach mehrtägigen Vorbereitungen, begann der Großangriff auf die christliche Stadt. Die mobilen Enterbrücken waren aus den Rahen der Segelschiffe gebaut worden und so breit, dass drei Männer nebeneinander Platz hatten. Sie waren mit Fellen und Leintuch überzogen, um die Angreifer vor Pfeilen zu schützen, und wurden auf die größten Schiffe montiert. Wenn man Clari Glauben schenken kann, waren diese Konstruktionen 30 Meter lang und wurden mittels eines ausgeklügelten Flaschenzugsystems an den Masten hochgezogen. Zudem stellten die Venezianer Steinschleudern am Bug der Transportgaleeren auf und hievten Armbrustschützen in Weidenkörben in den Mastkorb; die Decks, auf denen die Armbrustschützen aufgestellt waren, wurden mit Rinderhäuten ausgekleidet, um sie gegen die verheerende Wirkung des »griechischen Feuers« zu schützen – Geschossen mit brennendem Petroleum, die aus Flammenwerfern abgefeuert wurden. »Sie hatten ihren Angriff zur See gut vorbereitet«,134 schrieb Villehardouin. Unterdessen hatten die Franken Sturmleitern, Rammböcke, Ausrüstung zum Graben von Tunneln und ihre schweren Wurfmaschinen zur Landmauer geschafft, bereit für eine kombinierte Aktion.

Am Morgen begann der Angriff zu Lande und zu Wasser. Dandolo hatte seine Flotte in einer Linie aufgestellt, die »wohl drei Armbrustschüsse lang war«.135 Sie rückte langsam durch das ruhige Horn vor, geschützt durch einen Hagel aus Steinen, Armbrustbolzen und Pfeilen, die gegen die Seemauer flogen. Der Angriff wurde erwidert durch einen ähnlichen Hagel von Geschossen, die über die Decks fegten und gegen die bedeckten Enterbrücken prasselten. Die großen Segelschiffe – die Adler, die Peregrina und die Santa Monica – fuhren auf die Mauern zu, bis die mobilen Brücken an die Zinnen stießen und die Männer »sich an mehreren Stellen mit Lanzen und Schwertern zu Leibe gingen«.136 All dies war begleitet von ungeheurem Lärm – von Kampfgeschrei, Trompetengeschmetter, Trommelwirbel, dem Klirren von Stahl und dem Krachen von einschlagenden Steinen. Das Kampfgeschrei war »so groß, dass Erde und Meer zusammenzustürzen schienen«.137

Die Angreifer erklommen die Landmauer mit ihren Leitern und versuchten, in die Stadt einzudringen. »Der Angriff war … mutig und heftig«,138 berichtete Villehardouin, oben aber stießen sie auf den hartnäckigen Widerstand der kaiserlichen Elitetruppe, der Warägergarde – langhaarigen, Streitäxte schwingenden Dänen und Engländern. Immerhin fünfzehn Männer schafften es auf die Zinnen; es kam zu erbitterten Kämpfen Mann gegen Mann, doch die Angreifer wurden schließlich zurückgedrängt; zwei Männer wurden gefangen genommen, und der Angriff kam ins Stocken, »es gab viele Verwundete und Verstümmelte; und die Barone waren darüber sehr beunruhigt.«139 Auch der seeseitige Angriff drohte zu scheitern. Die leichten tief liegenden Galeeren zögerten, den großen Transportern zu folgen, verunsichert durch den Geschosshagel, der über ihnen niederging. Die gesamte Aktion stand auf des Messers Schneide.

In dieser Situation tat der Doge etwas Entscheidendes, und dies war vielleicht die bedeutendste Handlung in der langen maritimen Geschichte der Republik. Der alte und blinde Dandolo »stand, ganz gewappnet, am Bug seiner Galeere und hatte vor sich das St.-Markus-Banner«,140 wie Villehardouin beeindruckt vermerkte. Er konnte offenkundig das Kampfgetöse um sich herum wahrnehmen – die Schreie, das Zischen und Krachen der Pfeile und Wurfgeschosse; ob er spürte, dass die Venezianer ins Hintertreffen zu geraten drohten, ist ungewiss; wahrscheinlicher ist, dass es ihm gesagt wurde. Jedenfalls erkannte Dandolo den Ernst der Lage. Der Doge befahl seinen Männern energisch, ihn an Land zu setzen, »wenn nicht, so würde er sie an Leib und Leben strafen«.141 Die purpurrote Galeere wurde unter heftigem Beschuss durch die Griechen zum Ufer gerudert; als sie landete, wurde das St.-Markus-Banner an Land getragen. Die Männer auf den übrigen Schiffen folgten beschämt.

Neben den Mosaiken, auf denen die Überführung der Überreste des heiligen Markus nach Venedig dargestellt wird, ist dies das wirkungsmächtigste Bild in der venezianischen Geschichte – der blinde Doge, der aufrecht am Bug seines Schiffes steht; das rotgoldene Markus-Banner flattert im Wind, als sein Schiff auf die bedrohlich wirkenden Stadtmauern zufährt; um ihn herum tobt die Schlacht, doch der weise alte Kreuzfahrer bleibt aufrecht stehen und treibt seine Flotte voran. Die Erinnerung an diesen Moment, unablässig gepflegt in Erzählungen und künstlerischen Darstellungen, sorgte bei den Venezianern jahrhundertelang für patriotische Ergriffenheit; sie sollte zum Schlachtruf werden in Zeiten der Gefahr und wurde immer wieder als außergewöhnliches Beispiel für die heldenhaften Tugenden aufgeführt, denen die Republik ihren Wohlstand verdankte. Vier Jahrhunderte später erhielt Tintoretto den Auftrag, diese Szene im Ratszimmer des Dogenpalastes in allen plastischen, wenn auch unzeitgemäßen Einzelheiten zu verewigen. Rückblickend erkannten die Venezianer, was sie bedeutete. Dandolos Initiative ermöglichte letztlich, über eine Kette von weiteren Ereignissen, die damals noch niemand vorhersehen konnte, den Aufstieg der Republik zur vorherrschenden Macht im Mittelmeer. Wenn die Venezianer an jenem Tag mit ihrem Angriff von der Seeseite gescheitert wären, so wie die Franzosen mit ihrer Attacke an Land, wäre wahrscheinlich das gesamte Kreuzzugsunternehmen zusammengebrochen.

Doch dazu kam es nicht. Angetrieben durch den blinden Dogen, landeten die venezianischen Galeeren am Strand; der Angriff wurde wieder aufgenommen, und dann sah man das Banner des heiligen Markus von einem der Türme wehen, wahrscheinlich hatte es ein Mann von den Enterbrücken dort aufgeschlagen. Mit einem Rammbock wurde eine Bresche in die Mauer geschlagen. Die Verteidiger zogen sich zurück und ließen die Mauern im Stich, worauf die Venezianer die Tore öffneten und immer zahlreicher in die Stadt strömten. Nach kurzer Zeit hatten sie 25 oder 30 Wachtürme erobert – und kontrollierten damit ein Viertel der Mauern entlang des Goldenen Horns. Sie stürmten den Hügel hinauf, durch die engen Straßen zwischen den Holzhäusern und machten reiche Beute, darunter auch wertvolle Streitrösser.

Zum ersten Mal geriet Alexios’ Glaube an die Stärke seiner Befestigungsanlagen ins Wanken. Tagelang hatte er die Geschehnisse »wie ein Zuschauer«142 aus den Fenstern des Blachernen-Palastes verfolgt. Nachdem nun die Venezianer innerhalb der Mauern waren, musste er handeln. Er schickte Einheiten der Warägergarde, um die Eindringlinge zu vertreiben. Die Venezianer konnten diesem Gegenangriff nicht standhalten und zogen sich auf ihre eroberten Türme zurück. Auf ihrem Rückzug setzten sie Häuser in Brand, um eine Schranke aus Feuer zwischen sich und die Griechen zu legen. Da an diesem heißen Julitag ein kräftiger Wind vom Goldenen Horn hereinblies, breiteten sich die Flammen über die niedrigen Hänge im nordöstlichen Teil der Stadt aus und erfassten die Häuserzeilen an den schmalen Straßen, sodass die »Bewohner in alle Richtungen flohen«.143 Das Prasseln des brennenden Holzes und dunkle Rauchschwaden erfüllten die Luft; die Feuerwand bewegte sich unberechenbar in unterschiedliche Richtungen, »alles, was zwischen dem Blachernenhügel und dem Euergeteskloster lag, ging in Flammen auf«,144 erinnerte sich Choniates, »die in ihrem rasenden Ungestüm bis über … Deuteron hinausgriffen und alles in Schutt und Asche legten«. Als das Feuer schließlich am folgenden Tag auf den steilen Hängen, die zum Blachernen-Palast führten, erlosch, lag eine Fläche von einem halben Quadratkilometer in Schutt und Asche; vielleicht 20.000 Menschen hatten ihre Wohnstätten verloren. Es blieb eine große verkohlte leere Fläche zurück – eine hässliche Wunde im Herzen der Stadt. Laut Choniates »bot sich an jenem Tag ein jammervolles Schauspiel, das Ströme von Tränen hervorbrechen ließ«.145 Doch das war nur ein Vorgeschmack darauf, welche Verheerungen das Feuer in seiner geliebten Stadt im Zuge des Krieges noch anrichten sollte.

Während das Feuer wütete und die Venezianer im Schutz der Rauchschwaden die Walltürme wieder einnahmen, ließ Dandolo die erbeuteten Pferde ins Lager der Franzosen bringen. Dieser Erfolg gab den Schlachthaufen der Kreuzfahrer, die vor der Landmauer standen, neuen Auftrieb. In der Stadt geriet der Kaiser unter Druck. Konstantinopel brannte. Der Unmut der Einwohner wuchs; ihre Häuser waren vernichtet worden, und die Venezianer standen auf den Mauern. Der Kaiser »bemerkte die Erbitterung des Volkes, welches schon gehässige Worte gegen ihn schrie«,146 berichtete Choniates. Es war ein gefährlicher Moment für den Kaiser. Er musste nun entschlossen handeln, um das Schicksal noch zu wenden.

Alexios ordnete seine Truppen neu und bereitete einen Angriff von mehreren Seiten auf das fränkische Lager vor. Als die Kreuzfahrer sahen, wie die gegnerischen Verbände aus den Toren strömten und sich formierten, verließ sie der Mut. Die Griechen befanden sich deutlich in der Überzahl; »es schien, als ob das ganze Feld mit Heerhaufen bedeckt wäre«,147 berichtete Villehardouin. Trotz seiner zahlenmäßigen Überlegenheit verfolgte Alexios wahrscheinlich aber nur ein begrenztes taktisches Ziel: Er wollte das Landheer so weit unter Druck setzen, dass sich die Venezianer von den Abschnitten der Seemauer zurückzogen, die sie eingenommen hatten. Die Byzantiner fürchteten die gegnerische Kavallerie und wollten keine offene Feldschlacht riskieren. Wenn sie die Venezianer vertreiben konnten, dann konnte an den Mauern die Kampfmoral der Kreuzritter gebrochen werden.

Das Landheer befand sich nun in einer höchst bedrohlichen Lage. An der Mauer zurückgeschlagen, mit nur noch wenigen Lebensmitteln und müde von den Ausfällen und Angriffen auf das Lager, standen die Kreuzfahrer jetzt, wie es schien, abermals vor der Alternative, entweder zu siegen oder unterzugehen. Eilends formierten sie sich vor dem mit Schranken umgebenen Lager: vorne die Armbrust- und Bogenschützen, dann Ritter zu Fuß, die keine Pferde mehr besaßen, anschließend die berittenen Kämpfer, deren Schlachtrosse »neben ihren üblichen Satteldecken mit Wappen oder Seidentüchern geschmückt waren«.148 Nachdem sich die Schlachthaufen in geordneter Formation aufgestellt hatten, erhielten sie den strikten Befehl, weder auszuscheren noch unbesonnen vorzurücken. Doch der Anblick, der sich ihnen bot, war beängstigend. Das byzantinische Heer schien überwältigend zu sein, »denn wenn sie vorgerückt wären, um die große Menge der Griechen anzugreifen, so hatten diese eine so große Masse an Volk, dass sie alle im Schwarme untergegangen wären«.149 In ihrer Verzweiflung hatten die Kreuzfahrer auch die Trossknechte, die Pferdepfleger und sogar die Köche mobilisiert. Sie erhielten Satteldecken als Rüstung, Kochtöpfe dienten ihnen als Kopfschutz, Knüppel, Keulen und Hacken waren ihre Waffen – ein grotesk-martialisches Aufgebot bewaffneter Bauern, wie es Brueghel nicht besser hätte malen können. Diese Männer sollten nun gegen die Mauer anrennen.

Abwartend standen sich die beiden Seiten gegenüber. Von den Mauern und den Fenstern des kaiserlichen Palastes verfolgten die Hofdamen das Geschehen wie Zuschauer in einem Hippodrom. An der Seemauer hatte die Machtdemonstration von Alexios die gewünschte Wirkung. Dandolo erklärte, »er wolle mit den Kreuzfahrern leben oder sterben«,150 und befahl den Venezianern, die zum zweiten Mal besetzten Mauertürme zu räumen und sich mit Schiffen ins Lager zurückzuziehen.

Unterdessen waren die Kreuzritter ein Stück vorgerückt und hatten sich von den Einheiten entfernt, die das Lager schützten. Als Balduin, der Anführer dieses Heerhaufens erkannte, dass sie im Falle eines Kampfes bald von Hilfe abgeschnitten sein würden, gab er das Signal zu einem strategischen Rückzug. Dieser Befehl stieß auf Widerspruch. Nach dem ritterlichen Ehrenkodex galt Rückzug als Schmach. Eine Gruppe von Rittern weigerte sich, ihm Folge zu leisten, und rückte weiter vor. Für kurze Zeit gerieten die Reihen der Kreuzfahrer in Unordnung; ein erfahrener byzantinischer Heerführer hätte sich dies zunutze gemacht und einen vernichtenden Schlag ausgeführt. Der Kaiser tat dies nicht; sein Heer stand abwartend jenseits eines kleinen Tals, das die beiden Seiten trennte. Die Männer um Balduin waren beschämt, als sie sahen, wie die anderen weiter vorrückten. Sie beschworen Balduin, seinen Befehl zu widerrufen: »Herr, Ihr handelt schmachvoll, wenn Ihr Euch nicht bewegt. Wisset, dass wir, wenn Ihr nicht nach vorne reitet, Euch nicht mehr folgen werden.«151 Da gab Balduin seinem Pferd die Sporen und stürmte weiter voran. Die beiden Heere waren sich nun so nahe gekommen, »dass die Armbrustschützen des Kaisers direkt auf unsere Leute schossen, und unsere Armbrustschützen schossen ihrerseits direkt auf die Leute des Kaisers«.152 Es war eine angespannte Pattsituation entstanden.

Und dann begann sich die zahlenmäßig weit überlegene byzantinische Armee zurückzuziehen. Es ist unklar, ob dies mit der zur Schau gestellten Entschlossenheit der Kreuzfahrer zu tun hatte oder damit, dass der als kampfesscheu geltende Kaiser sein Ziel erreicht hatte, die Venezianer aus der Stadt zu drängen. In beiden Fällen jedenfalls konnte er den Rückzug der eigenen Bevölkerung nur schwer vermitteln. Als seine Männer abzogen, folgten ihnen die Kreuzritter in sicherer Entfernung und mit gezückten Lanzen. Von den hohen Mauern sah es wie Feigheit vor dem Feind aus. »Er zog sich schimpflich und schmachvoll wieder zurück«, klagte Choniates. »Dadurch machte er die Feinde noch kühner und übermütiger.«153

Den Kreuzfahrern allerdings erschien dies mehr als eine Errettung, denn als ein Sieg. Dank der Gnade Gottes waren sie auf wundersame Weise gerettet worden. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt gewesen, als sie der Furcht einflößenden griechischen Armee gegenüberstanden, und durch Glück waren sie einer möglichen Katastrophe entronnen. »Und wisset, dass es keinen noch so Kühnen gab, der sich nicht darüber gefreut hätte.« Sie kehrten in ihr Quartier zurück, »dann legten sie die Waffen ab, denn sie waren sehr müde und abgearbeitet. Nur wenig aßen und tranken sie, denn die Lebensmittel waren knapp.«154 Allgemein herrschte eher Erleichterung als Jubelstimmung.

Die Kreuzfahrer wussten nicht, dass der Widerstand der Stadt von innen bröckelte. Das demütigende Schauspiel der abrückenden byzantinischen Armee, das sich vor den Augen der Zuschauer unten an den Stadtmauern vollzog; die niedergebrannten Häuser; der Unmut der Bewohner; die Gerüchte und Vermutungen, die auf den Gängen des kaiserlichen Palastes kursierten – der Kaiser kehrte vom Schlachtfeld zurück und wusste, dass seine Stellung stark gefährdet war. Er selbst war an die Macht gekommen, indem er seinem Bruder Isaak II. das Augenlicht hatte nehmen lassen; Isaak seinerseits war auf den Thron gelangt, nachdem eine aufgebrachte Menschenmenge Kaiser Andronicus mit dem Kopf nach unten an der Straße aufgehängt hatte. Die Stimmung wendete sich gegen den Kaiser; es schien, als habe er es darauf angelegt, »mit aller Macht der Stadt, die ihrem unseligen Fall zueilte, den Weg dorthin zu verkürzen«,155 wie Choniates ihm unterstellte. Es war Zeit, sich abzusetzen. Über Nacht verließ Alexios unter Mitnahme der Kronjuwelen und einer hastig zusammengerafften Menge Goldes die Stadt. Der Kaiserthron war nun plötzlich unbesetzt, was bei den Adeligen am Hof und bei den Untertanen für große Verwirrung sorgte. Bestürzt holten sie Isaak aus seinem Kloster zurück, hoben ihn erneut auf den Thronsessel und versuchten, mit den Kreuzfahrern zu verhandeln. Durch Boten wurde diesen mitgeteilt, dass Isaak mit seinem Sohn Alexios Angelos zu sprechen wünsche.

Die Kreuzritter waren verblüfft. Villehardouin erschien dies als eine göttliche Rechtfertigung ihrer Sache: »Gar sehr wurde Unser Herr von den Kreuzfahrern gepriesen und ihm gedankt, weil er ihnen auf solche Weise so bald geholfen und sie aus dem Abgrunde, in dem sie waren, so hoch erhoben hatte.«156 Auf einen Schlag schienen sich alle ihre Schwierigkeiten zu verflüchtigen. Am nächsten Tag, dem 18. Juli, schickten sie eine vierköpfige Delegation, zwei Venezianer und zwei Franzosen, einer davon Villehardouin, zum Kaiserpalast, um mit dem neuen Herrscher zu verhandeln. Angelos ließen die Kreuzritter derweil noch im Lager, weil sie immer noch eine Finte der Byzantiner befürchteten. Die Gesandten begaben sich zum Tor und wurden durch ein Spalier der Warägergarde zum Blachernen-Palast gebracht. Dort erwartete sie eine eindrucksvolle Szene. Der blinde Kaiser saß auf seinem Thron, »in prächtiger, kaiserlicher Kleidung«,157 umgeben von einer großen Zahl hoher Herren und Damen. Die Gesandten, die sich angesichts der versammelten Menschenmenge etwas unbehaglich fühlten, baten darum, den Kaiser in kleinem Kreis sprechen zu dürfen. Man zog sich in ein kleines Gemach zurück, und dort brachten die Gesandten sogleich die Zusagen zur Sprache, die sein Sohn ihnen im Dezember des vorhergehenden Jahres in Zara gegeben hatte. Aus Villehardouins Bericht geht klar hervor, dass der neue Kaiser überrascht war über die Einzelheiten der Übereinkunft, die der »törichte junge Mann, der nichts versteht von Staatsgeschäften«,158 mit den Eindringlingen aus dem Westen geschlossen hatte. Die finanziellen Zusagen waren ungeheuerlich: 200.000 Mark in Silber, Verpflegung für ein Jahr für den Kreuzzug ins Heilige Land, Stellung von 10.000 byzantinischen Soldaten für ein Jahr und lebenslanger Unterhalt von 500 Rittern im Heiligen Land. Am schlimmsten war jedoch die Verpflichtung, die orthodoxe Kirche der Autorität Roms unterzuordnen. Diese Abmachung sei sehr hart und würde bei der Bevölkerung auf großen Unmut stoßen, erklärte ihnen Isaak unumwunden, »und ich kann jetzt nicht sehen und denken, wie sie könne gehalten werden«.159 Die Boten beharrten auf ihren Forderungen. Schließlich blieb Isaak nichts anderes übrig, als sich einverstanden zu erklären. Die Vereinbarung wurde mit Urkunden und Eiden bestätigt. Darauf kehrten die Gesandten zufrieden zu ihrem Lager zurück. Alexios Angelos wurde mit großem Prunk in den heimatlichen Palast geführt, und am 1. August fand eine feierliche Messe in der Hagia Sophia statt, in der der Prinz unter dem Namen Alexios IV. neben seinem Vater zum Mitkaiser gekrönt wurde.

Nun hatte es den Anschein, als würde sich ein Ende für all die Schwierigkeiten der Kreuzfahrer abzeichnen. Das Heer zog sich auf Bitten des Kaisers über das Goldene Horn zurück und wurde reichlich mit Lebensmitteln versorgt. Sein Wunschkandidat saß nun auf dem byzantinischen Thron. Die Kreuzfahrer hatten die Zusage erhalten, dass sie mit allem Nötigen für die Fortführung ihrer Pilgerreise ins Heilige Land versorgt werden würden; sie konnten nun zuversichtlich nach Hause schreiben in der Hoffnung, dass der Papst ihnen ihre mannigfaltigen Sünden vergeben werde. »Wir haben das Werk Jesu Christi mit seiner Hilfe ausgeführt«, schrieb rechtfertigend Hugo von Saint-Pol, »sodass die Ostkirche … sich selbst nun als Tochter der Römischen Kirche versteht«160. Doch dies war reines Wunschdenken.

Saint-Pol erwähnte insbesondere die Rolle, die Dandolo gespielt hatte. »Dem Herzog von Venedig, umsichtig in seinem Wesen und klug in seinen Entscheidungen, gebührt großes Lob.«161 Ohne Dandolo wäre das gesamte Unternehmen wohl an den Mauern von Konstantinopel gescheitert. Und die Venezianer konnten nun damit rechnen, dass sie für ihre maritimen Dienste entschädigt werden würden. Sie erhielten von Alexios 86.000 Mark. Die gesamte geschuldete Summe; auch die übrigen Kreuzfahrer wurden entsprechend entlohnt. Anscheinend war der neue Kaiser gewillt, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Die Kreuzfahrer konnten nun ungehindert durch die Stadt streifen, die sie zunächst plündern hatten wollen. Sie bewunderten ihren Reichtum, die Statuen, die kostbaren Ornamente, die Heiligenreliquien – Objekte der Verehrung für die frommen Pilger. Die Bewunderung der Kreuzfahrer war sakraler und weltlicher Natur gleichermaßen. Dies war eine unermesslich reichere Stadt als jede, die sie in Europa gesehen hatten. Die Männer aus dem Abendland waren überrascht und verblüfft – und wurden begehrlich.

Doch auch in diesem Augenblick der Freude nach dem Überlebenskampf herrschten tiefe Spannungen. Konstantinopel blieb abweisend, unzugänglich und launisch. Abseits der breiten Straßen und der Prunkgebäude lebten die Armen in schäbigen Siedlungen; sie waren unberechenbar und erzürnt über die Anmaßungen der Kreuzfahrer. Hätten sie gewusst, dass der neue Kaiser versprochen hatte, sich Rom unterzuordnen, wäre es wohl zu einem Ausbruch der Gewalt gekommen. Choniates verglich diese Stimmung mit einem Topf voll Wasser auf dem Feuer, der zu kochen beginnt. Die Feindseligkeit gegenüber den Leuten aus dem Westen reichte Jahrhunderte zurück, und diese sprachen ihrerseits häufig von der »Verschlagenheit der Griechen«. »Die erbitterte Feindschaft der Lateiner gegen uns und unsere übergroße Abneigung ihnen gegenüber ließ auf keiner Seite eine gütliche Lösung zu«,162 schrieb Choniates später. Die Franzosen verlangten, dass ein Teil der Mauer abgerissen werden sollte, damit sie sichergehen konnten, dass sie bei ihren Besuchen in der Stadt nicht als Geiseln genommen wurden. Und sie hegten tiefes Misstrauen gegen den blinden Isaak, der vor zwanzig Jahren ein gegen die Kreuzfahrer gerichtetes Bündnis mit Saladin einzugehen versucht hatte. Von ihrem Lagerplatz konnten sie dreihundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Goldenen Horns sogar eine kleine Moschee sehen, die zu dieser Zeit vor der Seemauer gebaut wurde und der kleinen muslimischen Kolonie zur Verfügung stehen sollte. Das war eine Provokation.

Doch die Zeit verstrich. Trotz der Vorauszahlungen, die sie geleistet hatten, gerieten Alexios und Isaak in Schwierigkeiten. Der Kontrakt mit Venedig sollte am 29. September auslaufen. Daher mussten die Kreuzfahrer nun so schnell wie möglich aufbrechen. Alexios verfügte über keine Machtbasis; er war von der Unterstützung durch die ungeliebten Kreuzfahrer abhängig, und er wusste, was ihre Abreise für seine Herrschaft bedeuten würde. »Nun wisset«, erklärte er den Venezianern und den Kreuzzugsbaronen freimütig, »dass es die Griechen sehr verdrießt, dass ich durch eure Macht in mein Erbe eingesetzt bin … und wenn ihr mich verlasst, werden die Griechen mich gar sehr hassen euretwegen, und ich werde das Land wieder verlieren.«163 Zudem steckte er in finanziellen Schwierigkeiten; um die vereinbarten Zahlungen weiterhin leisten zu können, ergriff er Maßnahmen, die seine Unpopularität verstärken mussten. »Er vergriff sich mit vermessener, ruchloser Hand an Unberührbarem«, schrieb Choniates empört. »Die heiligen Ikonen Christi wurden mit Beilen von der Wand geschlagen … die verehrten hochheiligen Gefäße wurden ehrfurchtslos aus den Kirchen geschleppt, ins Feuer getan und wie gewöhnliches Gold und Silber den feindlichen Heeren gegeben.«164 Den Byzantinern, die weit zurückreichende Erfahrungen mit den italienischen Seerepubliken hatten, erschien die Gier der Abendländer wie eine gefährliche Sucht; »das lateinische Heer … wollte nur immer die Hände in die goldenen Flüsse strecken und schöpfen; wie einer, den beißender Durst quält, konnten sie beim Goldtrinken nie genug bekommen.«165

Angesichts seiner unsicheren Lage und seines Geldmangels machte Alexios, wie ein Spieler, der den Einsatz erhöht, während sich die Chancen verschlechtern, den Kreuzfahrern ein neues Angebot. Wenn sie ein weiteres halbes Jahr blieben, bis zum 29. März 1204, so erklärte er ihnen, würde ihm dies die Möglichkeit verschaffen, seine Autorität zu stärken und seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Da es ohnehin schon sehr spät im Jahr sei, sei es sinnvoller, noch in Konstantinopel zu überwintern; er werde die Kosten für die Versorgung der Kreuzritter in dieser Zeit sowie die Kosten der venezianischen Flotte bis zum September 2004 – ein volles weiteres Jahr – übernehmen und dann seine eigene Flotte und sein Heer dem Kreuzzug zur Verfügung stellen. War dies ein gewagtes Spiel von Alexios, so taten sich auch die Kreuzzugsbarone sehr schwer, der abmarschbereiten Armee, die noch immer nicht wusste, dass sie mit dem Kirchenbann belegt war, diesen Vorschlag schmackhaft zu machen.

Erwartungsgemäß entstand Zwietracht. »Gebt uns die Schiffe, so wie ihr es uns geschworen habt, denn wir wollen nach Syrien ziehen!«,166 verlangten die Ritter. Es bedurfte beträchtlicher Überredungskunst, um den Großteil des Heeres umzustimmen. Es sollte nun eine weitere Verzögerung bis zum Frühjahr geben, »und die Venezianer schworen, die Flotte vom St.-Michaelstage [Ende September] an ein Jahr lang weiter zu stellen.«167 Für dieses Zugeständnis verlangte Dandolo erneut 100.000 Mark. Alexios schmolz wieder Kirchengold ein, »um den unersättlichen Hunger der Lateiner zu stillen«.168 Der Doge verfasste unterdessen einen besänftigenden Brief an den Papst, in dem er die Plünderung von Zara erläuterte und seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass die Exkommunikation aufgehoben werden möge.

Die Temperatur im Topf stieg stetig. Und als Alexios unter Begleitung eines Teils des Kreuzfahrerheeres zu einer Reise durch seine Lande aufbrach, um seine Macht außerhalb der Stadt zu festigen, da kochte er über.

Venedig erobert die Welt

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